Nachdem sich die Erregungswogen über den Messerangriff von Altena geglättet haben, ist es Zeit für eine nüchterne Analyse. Die Reaktion der Politik und die Art der Berichterstattung sagen viel darüber aus, was in unserem Land schiefläuft oder bereits aus dem Ruder gelaufen ist.
Als ich die Meldung sah, dass sich Bundeskanzlerin Merkel „entsetzt“ zeigt über einen Angriff auf einen Bürgermeister, war ich erstaunt, dass die bei ähnlicher Gelegenheit eisern schweigende Kanzlerin sich plötzlich so schnell äußerte. Es hatte seinerzeit schließlich einen ganzen Tag gedauert, bis Merkel sich zu dem Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt eine Bemerkung abrang. Am Tag nach diesem grausamen Ereignis, bei dem zwölf Menschen getötet und 48 verletzt wurden, war bis zum Mittag auf der Internetseite der Kanzlerin kein Statement zu finden.
Bis heute hat sie auch kein Wort zu dem polnischen Lastwagenfahrer gesagt, der als erster starb. Seiner Familie wurde auch keine Hilfe angeboten. Das übernahm ein englischer Trucker, der ein Spendenkonto für die Hinterbliebenen seines Kollegen eröffnete.
Als längst klar war, dass es sich um einen terroristischen Anschlag handelte, wollte Innenminister de Maizière nicht davon reden. Wörtlich in der ARD: „Ich möchte jetzt noch nicht das Wort Anschlag in den Mund nehmen, obwohl viel dafür spricht.“
Der Kontakt zu Betroffenen wurde in der Zeit danach geradezu auffällig gemieden. Angehörige, die wussten, dass sie Verwandte verloren hatten, wurden am Tag danach von Sicherheitsleuten daran gehindert, am Trauergottesdienst in der Gedächtniskirche teilzunehmen. Begründung: In der Kirche säßen hochkarätige Politiker. Der Tagesspiegel schreibt weiter:
„Das Erste, was sie vom Land erhalten hätten, sei ein Brief gewesen. Zunächst habe er gedacht, vielleicht kondoliere der Regierende Bürgermeister, berichtete ein Angehöriger. Was in dem Schreiben steckte, sei aber eine Rechnung gewesen – von der Gerichtsmedizin. Mit der Aufforderung, innerhalb der gesetzten Frist zu zahlen; ansonsten werde ein Inkassounternehmen das Geld eintreiben."
Während der Wahlkampfzeit sollte im September die Sprecherin der Hinterbliebenen der Opfer des Terroranschlages vom Breitscheidplatz Gast in der ZDF-Sendung „Klartext, Frau Merkel" sein. Doch Stunden vorher wurde ihr telefonisch abgesagt. „Die Begründung war nicht glaubhaft", so Astrid Passin. „Ich denke, meine Fragen wären denen zu unbequem gewesen."
Das passte ins übrige Bild des regierungsamtlichen Umgangs mit den Betroffenen. Bereits am 28. März hatte Astrid Passins Anwalt Andreas Schulz einen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben und um ein Treffen mit den Hinterbliebenen gebeten. Es wurde abgesagt. „Das war damals schon enttäuschend", so Astrid Passin gegenüber der Berliner Morgenpost, „wir möchten schon gern wissen, warum sie sich als Bundeskanzlerin noch nicht die Zeit genommen hat, uns kennenzulernen, und warum von ihr nicht wenigstens ein persönliches Kondolenzschreiben kam."
Mit einer Schrecksekunde von einem Jahr soll es nun offenbar doch noch zu einem Treffen der Bundeskanzlerin mit den Angehörigen der Opfer und Verletzten kommen. Der Empfang im Kanzleramt soll laut Deutsche Presse-Agentur am 18. Dezember sein. „Besser spät als gar nicht", sagt der Volksmund. In diesem Fall beträgt die Verspätung aufschlussreiche 364 Tage.
Inzwischen haben die Mitglieder aller 12 Familien der Todesopfer vom Breitscheidplatz in einen offenen Brief an die Kanzlerin geschrieben. Darin heißt es der Anschlag am Breitscheidplatz sei auch eine tragische Folge der politischen Untätigkeit der Bundesregierung und weiter:
"In Bezug auf den Umgang mit uns Hinterbliebenen müssen wir zur Kenntnis nehmen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie uns auch fast ein Jahr nach dem Anschlag weder persönlich noch schriftlich kondoliert haben. Wir sind der Auffassung, dass Sie damit Ihrem Amt nicht gerecht werden. Der Anschlag galt nicht den unmittelbar betroffenen Opfern direkt, sondern der Bundesrepublik Deutschland. Es ist eine Frage des Respekts, des Anstands und eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass Sie als Regierungschefin im Namen der Bundesregierung unseren Familien gegenüber den Verlust eines Familienangehörigen durch einen terroristischen Akt anerkennen."
Aktualisiert am 2.12.2017 9 Uhr
Siehe zum gleichen Thema auch:
An den Terror gewöhnen – und den Mund halten