Hans-Hermann Tiedje, Gastautor / 14.09.2011 / 16:32 / 0 / Seite ausdrucken

Merkels Märchen

Hans-Hermann Tiedje


Merkelismus – was ist das? Ein Programm, das schon deshalb nicht in die Irre führt, weil es sich ständig ändert. Der Weg ist das Ziel, und der Zeitgeist der Kompass. Auf allem prangt der Stempel Angela Merkel, Bundeskanzlerin aller Deutschen (wie sie selbst das gern hätte) und Vorsitzende der CDU.

Am Ende der politischen Sommerpause 2011, knapp zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl, dämmert allerdings immer mehr Bürgern, dass dieser Weg der Beliebigkeit den Verfall in sich trägt. Aus der klaren Wahlsiegerin 2009, die zusammen mit der FDP 48,4 Prozent erreichte und eine unangreifbare Mehrheit im Bundestag hat, ist eine Kanzlerin des puren Machterhalts geworden. Zwar wurde sie gerade von „Forbes“ zur „mächtigsten Frau der Welt“ gekürt, aber das Ende der Regentschaft dieser mächtigsten Frau ist absehbar. Als sie jetzt ankündigte, 2013 wieder kandidieren zu wollen, stieß sie damit auf verbreitetes Desinteresse. Ihre Unionsparteien liegen zur Zeit bei 33, die FDP solide bei vier Prozent – schon angesichts dieser Zahlen mutet es bizarr an, auch nur entfernt an Wiederwahl zu denken. Zumal die Grünen unverändert stark notieren und die SPD mit ihren sogenannten „Stones“ – Steinbrück und Steinmeier – sogar den irrlichternden Parteichef Gabriel mitschleppen kann.

Rückblende ins Wahlprogramm der Union 2009: Versprochen wurde dem Wähler „nachhaltiges Wachstum“, fest zugesagt wurden deshalb Steuersenkungen „trotz der Krise“. Die Atomenergie wurde als Brückentechnologie für unverzichtbar erklärt, 25 Prozent der Bahn sollten an die Börse, den gesetzlichen Mindestlohn lehnten CDU und CSU strikt ab. Die Bundeswehr sollte eine Wehrpflichtarmee bleiben, und eine „engere Zusammenarbeit mit den USA“ wurde ausdrücklich angestrebt. Alles auch im Sinne der FDP.

Zwei Jahre später lesen sich diese Grundsätze wie Grimms Märchen.

Spätestens im befreiten libyschen Bengasi, wo Außenminister Westerwelle erschien, um die Hände von Menschen zu schütteln, die ohne das Eingreifen der USA und anderer schon längst tot wären, wurde die Frage nach dem Wunsch einer engeren Zusammenarbeit mit den USA ad absurdum geführt. Auch wenn Frau Merkel es geschafft hat, nicht in den politischen Untergang Westerwelles, jenes seltsamen Siegers von Libyen, hineingezogen zu werden: Jenseits des Atlantiks gilt Deutschland inzwischen als unzuverlässig und unberechenbar, wenn es darauf ankommt.

Auch der Rest der Wahlversprechungen war das Papier nicht wert. Die CDU am Ende dieses verregneten Sommers: Atomkraft nein danke, Steuererleichterungen bitte nicht, Wehrpflicht ade, Mindestlohn willkommen. Die Chamäleon-Partei hat ein fast rotgrünes Programm, und zwar ohne jeden Parteitagsbeschluss, die „Financial Times“ konstatiert in Deutschland mittlerweile dank Merkel „Planwirtschaft“, und die Zukunft unserer Kinder wird gerade in Griechenland verfrühstückt. Die Art und Weise, in der der deutsche Steuerbürger von Merkel trotz bindender „Bail out“-Klauseln (sie verbieten Hilfe von Staat zu Staat, also die Transferunion), in europäischen Verträgen anlässlich der Euro-Einführung vereinbart, zum Garanten griechischer Lebensart mutiert, ist beispiellos. Wenn Griechenland wie erwartet doch noch zusammenbricht, zahlt aber nicht Angela Merkel die Zeche, sondern ganz Europa, und hier vor allem der Deutsche.

Soweit die Außen-Analyse. Die personelle ist ähnlich. Ein in die Comedy abgestürzter Außenminister, der in den nächsten Wochen gefeuert wird: wäre er doch Fraktionsvorsitzender der FDP geblieben! Diese Funktion bekleidet nun ausgerechnet Rainer Brüderle, der als Wirtschaftsminister bella figura machte und Respekt genoss, sogar bei politischen Gegnern. Aktueller Wirtschaftsminister ist der Arzt und FDP-Vorsitzende Philipp Rösler, erkennbar Generation Milchschnitte, und er übt noch. Der Superstar der Regierung, Karl-Theodor zu Guttenberg, kam durch ein Doktor-Plagiat abhanden – vielleicht kehrt er ja nach einer Reuephase zurück, möglicherweise sogar mit einer neuen, echten Doktorarbeit. Professionellster Minister im Kabinett ist Wolfgang Schäuble, der Mann von Kanzler-Format, leider vom Rollstuhl gehandicapt. Außerdem auffällig: Guttenbergs Nachfolger de Maizière und Ursula von der Leyen, „Dornröschen“ genannt, sie erkennbar vom Ehrgeiz gezeichnet. Der Rest des Kabinetts wirkt absolut subprime.
In der FDP häufen sich Planspiele, lieber bald aus der Koalition auszusteigen und neues Profil zu gewinnen, bevor es zu spät ist. Die CSU unter Seehofer ist an Beliebigkeit eine Art Wurmfortsatz der CDU. Und woran erkennt man diese CDU? An so einer Art Gemurmel oder Geraune, das sich (noch) nicht traut, zum öffentlichen Gemurre zu werden, letztlich zum Aufschrei einer Partei, die weiß: so grundsatzlos kann es nicht weitergehen. Das übliche CDU-Mitglied ist zu erkennen an Kopfschütteln über die eigene Führung, tiefer Ratlosigkeit und zunehmender Mutlosigkeit. Jeder ahnt, was kommt: Nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern am 18. September der K.o.-Schlag in Berlin (dort wird die CDU womöglich zum ersten Mal hinter Grünen und SPD nur drittstärkste Kraft, wie übrigens schon in Bremen), und im Mai 2012 geht wohl nach Ministerpräsident Carstensen auch wieder Schleswig-Holstein verloren, wenn nicht ein Wunder geschieht.

Dabei hat Merkel unverändert auch weiter Glück. Ihre populärsten denkbaren Gegner haben die Zeitfenster nicht genutzt. Joachim Gauck und Thilo Sarrazin, dazu Friedrich Merz und andere hatten die Möglichkeit zu Partei-Neugründungen – und haben sie verstreichen lassen. In jedem Fall hätte eine neue Bürgerpartei die CDU/CSU (wie auch die SPD) schwer getroffen, die Union wäre heute ganz sicher im Ghetto der unteren 20 Prozent gelandet. Diese neue Bürgerpartei hätte auch wie ein Kärcher das wachsende Heer der Nicht-Wähler ansaugen können. Alles nicht passiert.

Und dann gibt es immer noch das gepflegte Bild der europäischen Führungsfigur Angela Merkel. Leider ist es auch hier der schöne Schein, der blendet. Berlusconi im Sumpf, Sarkozy im Tief, Englands Cameron angeschlagen, selbst Obama angezählt und gelähmt und Putin diskreditiert – fällt es da schwer, zu glänzen? Angela Merkel war nie Motor Europas, aber die optische Täuschung spielt sie perfekt.

Worauf hofft sie? Auf ein Wunder? Hofft sie auf die Grünen als nächsten Partner 2013? Warum sollten die Grünen das tun? Sie haben gerade Frust-Konjunktur, und sie hätten mit der weiterhin schwächelnden SPD nicht nur eine klare Mehrheit, sondern auch fast Parität im Kabinett. Trittin als Kanzler? Gestern noch Wahnsinn, heute nicht mehr unmöglich. Frau Merkel spielt in den Projektionen der Grünen keine Rolle, selbst wenn sie davon träumen sollte und mit ihr der Umweltsmartie Norbert Röttgen. Schwarz-Grün ist das aktuelle Projekt derer, die keine andere Hoffnung mehr haben.

Aber warum kann sich bei all dem die Regierungskoalition in Berlin doch immer noch irgendwie über Wasser halten und durchwursteln? Weil die deutsche Wirtschaft brummt, weil die Steuereinnahmen steigen und die Arbeitslosigkeit weiter sinkt. Das hält die Menschen bei Laune, sie bringen es allerdings zu recht nicht in irgendeinen Zusammenhang mit der aktuellen Regierungsarbeit. Die Deutschen sind stolz – auf ihren Mittelstand und ihre Industrie. Deutschland kann sich selbst diese Regierung finanziell immer noch leisten.

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