"Ein ganz Großer seiner Zeit" hat uns verlassen, schreibt die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", gleich ungezählten anderen Blättern von Flensburg bis Oberammergau. Niemand mag die Aussage grundsätzlich in Frage stellen. Selbst ARD und ZDF stimmen in den Chor der Betroffenen ein.
Kaum eine Politikerin, kaum ein Politiker, denen es jetzt nicht am Herzen läge, Helmut Kohl in den Himmel der Geschichte zu heben. Nicht einmal Sigmar Gabriel, Cem Özdemir und Sahra Wagenknecht möchten dabei zurückstehen. Über den Gräbern schweigen die Waffen. Dem toten Altkanzler wird die Ehre erwiesen, die ihm lebend nur wenige bezeugen wollten.
Sicher, das ist nicht neu in der Geschichte und gewiss nichts, das den studierten Historiker Helmut Kohl verwundert hätte. War er doch einer der Letzten, wenn nicht der Letzte überhaupt, der noch mit dem profunden Wissen um die Vergangenheit in die Zukunft blickte. Wer das Glück hatte, ihm gelegentlich im kleinen Kreis, am runden Tisch im Bonner Kanzler-Bungalow, halbe Nächte lang zuzuhören, weiß, der Mann lebte und webte in der Geschichte. Aus Überzeugung, nicht um der Herrschaft willen wollten er sie mit gestalten.
Der weite Blick
Aus diesem Anspruch resultierten bisweilen Machtbewusstsein, Ausdauer und Intoleranz. Anders als das perspektivische Denken seiner politischen Zöglinge reichte der Blick des regierenden Historikers stets über die Zeitspanne einer Legislaturperiode hinaus. Auch deshalb mag er sich schließlich mit Willy Brandt besser verstanden haben als mit manchen seiner Getreuen aus den eigenen Reihen.
In der Geschichte, der deutschen zumal, kannte er sich aus; daraus entwickelte er die großen Linien. Diesem leidenschaftlich gesammelten Wissen verdanken wir die deutsche Wiedervereinigung. Da konnte dem beschlagenen Historiker keiner das Wasser reichen. Um seine Menschenkenntnis indes war es wesentlich schlechter bestellt. Der eine überlebende Beweis dafür ist Wolfgang Schäuble, der andere Angela Merkel. Nie war die kommunistisch geschulte, die überzeugte DDR-Bürgerin, "sein Mädchen", die Ziehtochter, für die er sie lange halten wollte.
Noch mit ihrem Nachruf schämt sie sich nicht, Helmut Kohl, den Georg Bush sr. als "wahren Freund der Freiheit" rühmte, einen letzten Tritt zu versetzen. Auch ihren "Lebensweg", sagte sie, habe er "entscheidend verändert". Dafür sei sie ihm "ganz persönlich dankbar". Denn: "Ich konnte von da an auch ohne Angst beim alles überwachenden Staat leben."
Im Klartext: Die amtierende Bundeskanzlerin betrachtet das unter Helmut Kohl vereinte Deutschland als einen "alles überwachenden Staat", in dem sie als Politikerin "ohne Angst" leben kann. Sich dafür in einem Nachruf bei Helmut Kohl zu bedanken, ist eine schlichte Unverschämtheit. Dass sich diese Aussage Merkels sprachlicher Unfähigkeit verdankt, ändert nichts an der ungewollten Offenbarung. Natürlich hätte sie sagen sollen, dass sie ohne Angst nicht "beim", sonder "vor einem alles überwachenden Staat" leben konnte.
Nach ostdeutschem Vorbild
Allein, sie ist wieder einmal in die selbst gestellte Wortfalle getappt. Der Freudsche Versprecher brachte die Gesinnung an den Tag. Er bestätigte, worauf Angela Merkel während ihrer bisherigen Kanzlerschaft zielstrebig hingewirkt hat und worauf sie weiter zusteuern will: Den Ausbau des omnipräsenten Staates nach ostdeutschem Vorbild.
Dass so etwas im Sinne von Helmut Kohl sein könnte, werden ihm nicht einmal seine einstigen politischen Gegner unterstellen wollen. Und dennoch ist der verstorbene Altkanzler keineswegs frei von Schuld. Indem er der heutigen Kanzlerin den politischen Weg ebnete, hat er den Deutschen eine Suppe eingebrockt, die er selbst nicht mehr auslöffeln musste. Wie lange dieser Schatten noch auf seine historischen Verdienste um die deutsche Einheit fällt, das bleibt abzuwarten.
Auf einen wie ihn, einen Staatsmann, der die politischen Emporkömmlinge mit historischem Verstand in ihre Grenzen zu weisen verstand, werden wir bis aus weiteres kaum bauen können. "Ein ganz Großer seiner Zeit" ist für immer abgetreten, ein demokratisch gesinnter Machtmensch aus der Welt von gestern.