Thomas Rietzschel / 18.06.2017 / 17:02 / 11 / Seite ausdrucken

Merkels letzter Tritt

"Ein ganz Großer seiner Zeit" hat uns verlassen, schreibt die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", gleich ungezählten anderen Blättern von Flensburg bis Oberammergau. Niemand mag die Aussage grundsätzlich in Frage stellen. Selbst ARD und ZDF stimmen in den Chor der Betroffenen ein.

Kaum eine Politikerin, kaum ein Politiker, denen es jetzt nicht am Herzen läge, Helmut Kohl in den Himmel der Geschichte zu heben. Nicht einmal Sigmar Gabriel, Cem Özdemir und Sahra Wagenknecht möchten dabei zurückstehen. Über den Gräbern schweigen die Waffen. Dem toten Altkanzler wird die Ehre erwiesen, die ihm lebend nur wenige bezeugen wollten.

Sicher, das ist nicht neu in der Geschichte und gewiss nichts, das den studierten Historiker Helmut Kohl verwundert hätte. War er doch einer der Letzten, wenn nicht der Letzte überhaupt, der noch mit dem profunden Wissen um die Vergangenheit in die Zukunft blickte. Wer das Glück hatte, ihm gelegentlich im kleinen Kreis, am runden Tisch im Bonner Kanzler-Bungalow, halbe Nächte lang zuzuhören, weiß, der Mann lebte und webte in der Geschichte. Aus Überzeugung, nicht um der Herrschaft willen wollten er sie mit gestalten.

Der weite Blick

Aus diesem Anspruch resultierten bisweilen Machtbewusstsein, Ausdauer und Intoleranz. Anders als das perspektivische Denken seiner politischen Zöglinge reichte der Blick des regierenden Historikers stets über die Zeitspanne einer Legislaturperiode hinaus. Auch deshalb mag er sich schließlich mit Willy Brandt besser verstanden haben als mit manchen seiner Getreuen aus den eigenen Reihen.

In der Geschichte, der deutschen zumal, kannte er sich aus; daraus entwickelte er die großen Linien. Diesem leidenschaftlich gesammelten Wissen verdanken wir die deutsche Wiedervereinigung. Da konnte dem beschlagenen Historiker keiner das Wasser reichen. Um seine Menschenkenntnis indes war es wesentlich schlechter bestellt. Der eine überlebende Beweis dafür ist Wolfgang Schäuble, der andere Angela Merkel. Nie war die kommunistisch geschulte, die überzeugte DDR-Bürgerin, "sein Mädchen", die Ziehtochter, für die er sie lange halten wollte.

Noch mit ihrem Nachruf schämt sie sich nicht, Helmut Kohl, den Georg Bush sr. als "wahren Freund der Freiheit" rühmte, einen letzten Tritt  zu versetzen. Auch ihren "Lebensweg", sagte sie, habe er "entscheidend verändert". Dafür sei sie ihm "ganz persönlich dankbar". Denn: "Ich konnte von da an auch ohne Angst beim alles überwachenden Staat leben."

Im Klartext: Die amtierende Bundeskanzlerin betrachtet das unter Helmut Kohl vereinte Deutschland als einen "alles überwachenden Staat", in dem sie als Politikerin "ohne Angst" leben kann. Sich dafür in einem Nachruf bei Helmut Kohl zu bedanken, ist eine schlichte Unverschämtheit. Dass sich diese Aussage Merkels sprachlicher Unfähigkeit verdankt, ändert nichts an der ungewollten Offenbarung. Natürlich hätte sie sagen sollen, dass sie ohne Angst nicht "beim", sonder "vor einem alles überwachenden Staat" leben konnte.

Nach ostdeutschem Vorbild

Allein, sie ist wieder einmal in die selbst gestellte Wortfalle getappt. Der Freudsche Versprecher brachte die Gesinnung an den Tag. Er bestätigte, worauf Angela Merkel während ihrer bisherigen Kanzlerschaft zielstrebig hingewirkt hat und worauf sie weiter zusteuern will: Den Ausbau des omnipräsenten Staates nach ostdeutschem Vorbild.

Dass so etwas im Sinne von Helmut Kohl sein könnte, werden ihm nicht einmal seine einstigen politischen Gegner unterstellen wollen. Und dennoch ist der verstorbene Altkanzler keineswegs frei von Schuld. Indem er der heutigen Kanzlerin den politischen Weg ebnete, hat er den Deutschen eine Suppe eingebrockt, die er selbst nicht mehr auslöffeln musste. Wie lange dieser Schatten noch auf seine historischen Verdienste um die deutsche Einheit fällt, das bleibt  abzuwarten.

Auf einen wie ihn, einen Staatsmann, der die politischen Emporkömmlinge mit historischem Verstand in ihre Grenzen zu weisen verstand, werden wir bis aus weiteres kaum bauen können. "Ein ganz Großer seiner Zeit" ist für immer abgetreten, ein demokratisch gesinnter Machtmensch aus der Welt von gestern.

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Leserpost

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Peter Doderer / 19.06.2017

Danke Herr Rietzschel. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen! !!! Frau Dr. Merkel ist in einem anderen Land aufgewacht. Auch wir sind dabei im Neuen Deutschland anzukommen.

Lara Engelhardt / 19.06.2017

Nun, wenn schon, dann hätte es besser geheißen “Ein ganz großer UNSERER Zeit, das Verkürzen auf “seine Zeit” ist bereits wieder Ausgrenzung und Relativierung. Jedoch wird sein wesentliches Vermächtnis, egal wie man zu ihm und seiner Politik sonst stehen mag oder mochte”, die deutsche Wiedervereinigung. Und die reicht weit über “seine Zeit” hinaus!

Annette Schollek / 19.06.2017

In dem er Merkel den Weg ebnete ... Wie wahr. Und doch gab es damals schon Menschen die sich wunderten,  dass ohne den Werdegang dieser Frau genau unter die Lupe zu nehmen, diese so weit in der CDU kommen konnte. Erst einmal von Helmut Kohl zur Parteisekretärin ernannt, saß sie genau dort,wo sie ihm größtmöglichen Schaden zufügen konnte. Ihre mehr als mäßigen Leistungen als Umweltministerin hätten bereits als Zeichen der absoluten Inkompetenz erkannt werden müssen.  Nun stellt sich die Frage,  wollte Helmut Kohl das nicht sehen oder konnte er sich so etwas nicht vorstellen. Sicherlich konnte er sich dieses Maß an Skrupellosigkeit nicht vorstellen. Im Nachhinein wären sicher sehr viele Kritiker Kohl’s dankbar wenn ein Kanzler wie er das Amt inne hätte statt Merkel. Mit Sicherheit wäre uns viel erspart geblieben.  Es bleibt die Frage wie es möglich war, dass diese Frau so mächtig wurde und keiner in der Lage war sie dahin zu befördern wo sie eigentlich hingehört. Bereits zu diesem Zeitpunkt begann der Zerfall der Demokratie.

Martin Wessner / 19.06.2017

Sie haben mit Ihrer klugen Kritik absolut recht, Herr Rietzschel. Indes kann ich persönlich(!) Helmut Kohl seinen unglücklichen Missgriff bei der Wahl seiner Ziehtochter aus der Uckermark ohne Groll verzeihen. Ein Vater hat so wenig Einfluss auf sein Kind, wie ein Protege auf seinen Schützling, wenn diese sich von ihrem begleitenden Mentor gelöst haben und eigene, oftmals völlig unerwartete Wege gehen. Nein, diesbezüglich will ich dem Kanzler der deutschen Einheit, der sich diesen Ehrentitel fürwahr redlich verdiente, keinerlei Vorwürfe machen. Die Fehler seines alltäglichen Regierungshandelns, für die er allerdings die volle Verantwortung trägt, wiegen für mich viel schwerer. Kohl hat das Politische immer den ökonomischen Belangen als Primat vorneweg gestellt. Als autoritärer Knochen, der er zweifelsohne gewesen war, dachte er wohl -und hier gibt es eine gewisse mentale Übereinstimmung mit linkssozialen Politikern- dass man die Realität der Theorie anpassen kann, wenn man als Patriarch nur großartig genug auftritt und herrisch befiehlt, dass sich das Meer gefälligst zu spalten hat. Kohl hatte unteranderem mit seinen selbstherrlichen Entscheidungen dafür gesorgt, dass die neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung unnötigerweise einem viel zu großen wirtschaftlichen Schock ausgesetzt wurden(zB. durch den Wechselkurs: West Mark <=> DDR Mark). Er hat federführend daran mitgewirkt, dass die unselige europäische Gemeinschaftswährung namens “Euro” eingeführt wurde, deren Implementierung im Jahr 1999 sich mit großer Sicherheit im Nachhinein als die epochalste volkswirtschaftliche Fehlentscheidung der Nachkriegszeit herausstellen wird und er hat maßgeblich daran mitgewirkt, dass die sogenannte “europäische Einigung” zu einer Ideologie mit totalitären Zügen umgeschmiedet und die EU in Brüssel zu einem…darf ich das so sagen?...zu einem politischen Bordell pervertiert wurde, wo Deutschland als Puffmutter das “europäische Friedenswerk” mit Transfers korrumpiert und seine vermeintlichen “europäischen Freunde” mit Mammon kauft. Die Aussage: “Die EU gibt es, solange Deutschland zahlt.” ist kein rechtes “Hate Speech” und auch keine “Verschwörungstheorie”, sondern leider die ungeschminkte Realität. Wo es nicht um Geld geht, also da, wo es vornehmlich um echte Überzeugungen und die Kultur und Wertvorstellungen von ganzen Gesellschaften geht, da also, wo man noch nicht einmal oberflächliche Harmonie zwischen den Völkern mit beflissener Scheckbuchdiplomatie stiften kann, da versagt das Modell des Kohlschen Paternalismus, sei es auch noch so positiv gedacht. Kanzler Kohl war der Wiedergänger und Kanzlerin Merkel ist die Wiedergängerin eines überholten Obrigkeitsstaats, der seine Bürger als anzuleitende Untertanen sieht. Vielleicht war auch deswegen die Angela dem Helmut so sympathisch, weil er sie als ihm wesensverwandt empfunden hat. I don’t know.

Heike vetter / 19.06.2017

Man muss bei Merkel genau hinhören. Ihr Spruch in Aschaffenburg ” seien Sie mal froh, dass sie hier ihre Meinung noch offen sagen können ” zeichnet sich durch das Wörtchen noch aus. Merkel zeigt in ihren Sätzen ganz klar wie sie denkt. Leider hört niemand genau hin.

Volker Mattschull / 19.06.2017

Lieber Herr Rietzschel, es ist sicher noch zu früh, um festzustellen, wie die Geschichte Frau Merkel beurteilen wird. Denn immerhin haben wir noch die Möglichkeit, ihren Verlauf zu beeinflussen. Aber auch wenn es sehr schlimm kommen sollte: Es kann Helmut Kohl nicht zum Vorwurf gemacht weden, Angela Merkel protegiert zu haben. Denn gewählt haben sie andere, und das sogar mehrmals. Aber nach der Wahl im Herbst wird man sich nicht mehr herausreden können, man habe das alles nicht gewusst und nicht kommen sehen, sie hätte ja sogar Kohl getäuscht.

WinfriedSautter / 18.06.2017

Über Kohl haben sich das links-grüne Milieu, das Kabarett, die Medien, der staatliche Rundfunk das Maul zerissen, gehöhnt und gelästert: Er war keiner von ihnen, durfte es nicht werden, und wurde es nie. Bei Merkel ist es genau anders - Ergebenheitsadressen, schwurbelige Rechtfertigungsmäander, oder komplizenhaftes Beschweigen. Schlimm, wenn die politische Kultur so den Bach herunter geht.

Christopher Sprung / 18.06.2017

Sehr gute Analyse!  Und noch eins: diese heuchelnden Worte derjenigen, die ihn doch kaltstellte; und ihre stete Ich-Bezogenheit selbst in ihrer Totenrede vor laufender Kamera - erneut entlarvend und kaum auszuhalten, aber leider bekommt’s der deutsche Michel gar nicht so mit, denn sie ist umhegt von treuen “öffentlich-rechtlichen” Journalisten, von Hofberichterstattung, jenen “Journalisten”, die mit den Füssen scharren, könnten sie doch ihr nächster Regierungssprecher werden.  Und wie gut können wir Nachdenkenden uns noch daran erinnern, wie schäbig Kohl sich nach dem Attentat gegenüber Schäuble, seinen jahrzehntelangen Kanzleramts-Scherpa, verhielt - wenn ich mich recht erinnere, hat Kohl ihn nach dem Attentat nicht im Krankenhaus besucht…Trotzdem hat Schäuble ihm einen souveränen Nachruf gewidmet, das unterscheidet Schäuble von Mercel… oh, Entschuldigung, Merkel (bei Makron und Mercel komme ich immer so durcheinander).

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