Bernd Althusmann ist Deutschlands politischer Glückspilz des Sommers. Dem CDU-Chef in Niedersachsen scheint das Amt des dortigen Ministerpräsidenten plötzlich wie eine reife Frucht einfach in den Schoß zu fallen. Die rot-grüne Landesregierung rüttelt am eigenen Baum der Macht so wild, dass es am 15. Oktober vorgezogene Neuwahlen gibt und kaum etwas Rotes oder Grünes mehr darauf sitzen bleiben dürfte.
Die Grünen-Abgeordnete Elke Twesten hat mit ihrem Wechsel von den Grünen zur CDU die Einstimmenmehrheitsregierung von Stephan Weil zu Fall gebracht. Obendrein ist bekannt geworden, dass der Ministerpräsident seine Regierungserklärung ausgerechnet vom VW-Konzern hat redigieren und schönen lassen. Weil steht in der Dieselaffäre plötzlich nicht mehr als Aufklärer, sondern als Aufheller da. Das “Handelsblatt” resümiert: “Ministerpräsident Weil hat in Hannover nicht nur eine politische Mehrheit, sondern vor allem seinen politischen Ruf verloren.”
Die verblüffende Selbstdemontage der Landesregierung begann schon mit der sogenannten “Vergabeaffäre” in Hannover, bei der ein lebhaftes Amigo-System der Sozialdemokraten offenbar wurde. Lukrative Aufträge wurden befreundeten Agenturen zugeschoben, Ausschreibungsrichtlinien missachtet. Vor wenigen Wochen musste daraufhin die SPD-Staatssekretärin Daniela Behrens zurücktreten, ein Untersuchungsausschuss ermittelt, Staatskanzlei und Wirtschaftsminister sind schwer unter Druck.
In der Öffentlichkeit noch wirkungsreicher ist der Fall der SPD-Ikone Christine Hohmann-Dennhardt, die für einen Kurzzeitjob (knapp 13 Monate) im VW-Vorstand volle 12 Millionen Euro bekam. Sie war bei VW ausgerechnet für Integrität und Recht sowie für die Aufarbeitung des Diesel-Skandals verantwortlich.
Der Oppositionsführer braucht bei solchen Skandalen wenig zu tun, um einen Machtwechsel einzuleiten. Die Dinge fallen ihm zu. Das scheint bei Bernd Althusmann eine gewisse Tradition zu haben – auch das Amt des CDU-Chefs kam zu ihm wie eine Morgengabe. Der 50 Jahre alte CDU-Politiker aus Oldenburg hatte bei der Wahlniederlage 2013 sein Landtagsmandat verloren und sich eigentlich aus der Politik verabschiedet.
Norddeutschland könnte binnen weniger Monate von Rot auf Schwarz wechseln
Der Pastorensohn und Bundeswehr-Offizier wanderte regelrecht aus und nahm für die Konrad-Adenauer-Stiftung einen Helferjob in Namibia an. Seine Frau Iris (er ist in zweiter Ehe verheiratet) und die Patchwork-Familie kamen mit. In der Ferne Afrikas schien die politische Karriere beendet, er wollte eigentlich gar nicht mehr zurück.
Doch im vergangenen Jahr überredete ihn die heimische CDU-Führung, in die niedersächsische Politik zurückzukommen. Wirklich attraktiv war der Job des Spitzenkandidaten damals für andere offenbar nicht. Im Gefolge der Flüchtlingskrise schien die CDU angeschlagen, die AfD kam auf, Regierungschef Weil wirkte fest im Amt. Doch auch hier fiel ihm die überraschende Stimmungswende zugunsten der Union plötzlich zu.
Bei solcher Gelegenheit pflegt Althusmann seinen Vater zu zitieren, dass das Warten auf Glück alleine nicht ausreiche. Der Vater war evangelischer Pastor, unter anderem an der Lüneburger Sankt-Michaelis-Kirche und liebte eine Losung von Thomas von Aquin: “Gratia supponit naturam” – die Gnade setzt die Natur voraus, man könnte auch sagen, das Glück kommt nur zum Tüchtigen.
Fleiß und Zuverlässigkeit gehören tatsächlich zu den Tugenden Althusmanns, dessen Karriere 1994 im Landtag begann. In den zehn schwarz-gelben Regierungsjahren hatte sich Althusmann vom emsigen Parlamentsgeschäftsführer der CDU-Fraktion (wegen seiner Bundeswehrbiografie riefen sie ihn gerne General) zum umgänglichen Kultusminister gewandelt. Weil er Ordnung in das zerstrittene Ressort brachte, gab es sogar Lob von der linken Lehrergewerkschaft GEW.
Nun sind die Mehrheiten in Niedersachsen traditionell sehr knapp. Schon die CDU-Legende Ernst Albrecht, Vater von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und langjähriger Ministerpräsident, hätte 1989 fast sein Amt verloren, weil der Landtagsabgeordnete Kurt Vajen zu den Republikanern wechselte und dies die CDU die Ein-Stimmen-Mehrheit kostete. Albrecht konnte sein Amt aber halten, weil wiederum ein SPD-Mann aus der Partei austrat und als Parteiloser fortan den CDU-Regierungschef stützte. 2013 verlor CDU-Amtsinhaber David McAllister die Wahl, weil ihm 335 Erststimmen fehlten.
Doch nun signalisieren Umfragen einen klaren Wahlsieg der CDU. Damit würde die Union nach ihren Wahlsiegen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen mit Niedersachsen das dritte Flächenland zurückerobern – Norddeutschland würde binnen weniger Monate von Rot auf Schwarz wechseln. Und Bernd Althusmann beträte schlagartig die große Bühne der Republik. Althusmann ist kein rechtskonservativer Haudegen, sondern ein Mann von Mitte und Maß. Sein Wesen entstammt dem sachlich-protestantischen Klinkerbau und der norddeutschen Tiefebene. Barockes, Hochfahrendes und Glitzerndes sind ihm fremd. Seine Gefolgsleute schätzen an ihm die Geradlinigkeit, das Abwägende und Ruhige.
Er ist Pastorensohn, Bundeswehroffizier und kommt aus Oldenburg
Er ist ein Merkel-Mann und sollte er gewinnen, dann wäre mit den Regierungschefs Daniel Günther, Armin Laschet und Annegret Kramp-Karrenbauer ihre “Riege der Ruhe” – wie temperamentvollere Unionisten aus Süddeutschland schon mal lästern – komplett.
Gerade weil Althusmann so norddeutsch korrekt und als akribischer Aktenleser aufgefallen war, traf ihn der Skandal um seine Doktorarbeit tief. 2011 geriet Althusmanns Dissertation “Prozessorganisation und Prozesskooperation in der öffentlichen Verwaltung – Folgen für die Personalentwicklung” in die Kritik. Die Universität Potsdam prüfte die Arbeit und kam zum Ergebnis: unsauber gearbeitet, aber keine Plagiate. Die Prüfer stellten eine große Zahl von “Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis” fest. Schlampig – Althusmann erhielt von der Universität für seine Dissertation die schlechtestmögliche Note “rite”. Trotzdem stand am Ende fest: Althusmann ist kein Guttenberg, er durfte den Doktortitel behalten.
In der Schlammschlacht des nun beginnenden Schnellwahlkampfes werden diese Geschichten bestimmt wieder aufgewärmt. Althusmann seinerseits wollte eigentlich die prekäre Sicherheitslage in Niedersachsen und die rot-grüne Bildungspolitik in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes rücken. Nun aber geht es vor allem um VW, Diesel und Glaubwürdigkeit. Der niedersächsische Bundestagsabgeordnete der Linken und ehemalige Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Abgasskandal, Herbert Behrens, nennt das Verhalten des Ministerpräsidenten ungeheuerlich. Weil wende sich als Kontrolleur an diejenigen, die er kontrollieren soll. “Das ist absurd, aber auch ein deutlicher Hinweis auf die wahren Machtverhältnisse in Niedersachsen.”
Der stellvertretende Fraktionschef der CDU im Bundestag, Michael Fuchs, forderte sogar, dass das Land seine Beteiligung an Volkswagen aufgibt. “Der Staat sollte sich aus dem Autokonzern heraushalten”, sagte Fuchs der “Rheinischen Post”. Das Gesetz schaffe eine zu große Nähe zwischen Staat und Unternehmen: “Ich verstehe nicht, warum das Land Niedersachsen 20 Prozent an VW halten muss.” Bayern halte ja auch keine Anteile an BMW und Baden-Württemberg keine an Daimler. “Und beide Länder und Unternehmen fahren sicher nicht schlechter damit.”
Würde Althusmann dieser Linie seines Parteifreundes folgen – er könnte ein spektakuläres Privatisierungsprojekt auf seine Agenda setzen. Doch derart grundlegende Reformen sind von ihm nicht zu erwarten. Er ist Pastorensohn, Bundeswehroffizier und kommt schließlich aus Oldenburg.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European.