Roger Letsch / 29.07.2016 / 17:53 / Foto: Geolina163 / 4 / Seite ausdrucken

Merkels Kehrwoche, neun Punkte und ein alter Hut

Berlin, Bundespressekonferenz, 28.7.2016: Blauer Blazer, blaue Halskette. Wenn Merkel jetzt noch anfinge, sich die Haare blau zu tönen, könnte sie vor dem Blau der Wände der Bundespressekonferenz wie die Grinsekatze aus „Alice im Wunderland“ verschwinden und nur ihr Lächeln würde noch eine Weile zu sehen sein und ihre Stimme zu hören. Das Blau war ein Anfang.

Wann immer etwas Bedeutendes geschieht, braucht es eine Zahl dabei. Die glorreichen Sieben, Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, die Zehn Gebote…nun also ist ein Neun-Punkte-Plan verkündet. Wir verstärken dies, wir verbessern das, wir bauen aus, wir hören uns selbst beim Reden zu und hoffen. Hoffen ist immer gut. Und schaffen natürlich! Mit „wir“ und „das“.

Dabei ist gestern auf dieser mittelwichtigen Pressekonferenz etwas Bedeutendes geschehen, von dem die meisten Zuschauer, die Korrespondenten und die bienenfleißig repitierenden Medienprofis Garnichts mitbekommen haben. Nichts davon in der Tagesschau, nichts zu sehen auch in „heute“. Sie hat einen Plan – das war die Hauptmeldung des Tages. Sie hatte bisher keinen, stand zwischen den Zeilen.

Die DWN (deutsche Wirtschaftsnachrichten) waren eine der wenigen Quellen, die Zeuge dieses Wunders wurden. Ich hatte also doch kein Fieber, die Kanzlerin sagte es wirklich: Experten sind unterwegs, einen Schaden zu beheben, den es eigentlich gar nicht geben darf. McKinsey kommt!  (Siehe meine Ergänzung zur historischen Exegese dieses Links unten)

Wir schaffen das - mit Hilfe von McKinsey

Warum holt die Kanzlerin sich ausgerechnet Expertise von McKinsey ins Haus, wenn der Satz „Wir schaffen das“ noch Gültigkeit hat? Wenn McKinsey anrückt, dann nur, weil man etwas so ganz und gar nicht mehr auf die Reihe bekommt. Warum holt sich die Kanzlerin, die seit Monaten immer und immer wieder erklärt, sie hätte nichts falsch gemacht, offiziell externen Sachverstand und prahlt damit auch noch in der Bundespressekonferenz?

Nicht dass ich hier falsch verstanden werde: Ich habe absolut nicht gegen Expertenwissen! Ich halte es aber für notwendig und geboten, dass die geballte Kraft von Innen-, Außen-, Justiz-, Finanz-, Wirtschafts-, Bildung- und Kanzleramtsministeriums gemeinsam in der Lage sein sollten, diese Krise zu bewältigen. Wenn dazu externes Wissen gebraucht wird, bitte. Merkels Botschaft heute lautete jedenfalls „wir haben es nicht geschafft, wir brauchen Hilfe von Experten“. Mir ist nicht wohl dabei, dass am Ende dieser Expertise etwas steht, ein Gesetz vielleicht, auf dem nicht ein „Made by Bundestag“ sondern „Präsentiert von McKinsey“ glitzert. Und was passiert, wenn nichts glitzert? Tritt die Kanzlerin dann einen Schritt zur Seite, um das Schussfeld auf die Experten frei zu geben, auf die sie sich verlassen hat?

Da sind sie nun also unterwegs ins Kanzlerinnenamt, die Phalanx aus zehn tapferen McKinseyianern, um sich an den Thermophylen der Flut aus asylsuchenden Pers… ähm Syrern zu stellen. Sie tun es freiwillig, sie tun es gern. Zu ihren Füßen liegen im Staub die ausgelutschten zehntausenden Beamten, Angestellten und Freiwilligen aus Bund, Ländern und Kommunen, die es ein Jahr lang nicht vermochten, die „Koalition der Fordernden“ und die „Koalition der Willkommenden“ aufzuhalten.

Wird die Flüchtlingsfrage jetzt privatisiert wie die Bundesbahn?

Mal ehrlich, wenn das gut geht, kann das der Anfang einer großen Welle der Privatisierung staatlicher Aufgaben gewesen sein. Zehn Supermänner werden die Bundesrepublik in sechs Wochen retten. Noch dazu unentgeltlich! Man stelle sich das Potenzial vor, wenn wir die Bundesregierung generell an Experten expedieren, die wirklich was davon verstehen!

McKinsey bekommt ja das Kanzleramt, das scheint beschlossene Sache zu sein. Das Innenministerium geht natürlich an Google, die wissen sowieso schon alles über jeden. Google StreetView wird unsere neue Polizei. Das Justizministerium übergeben wir an DITIP, die befragen ihren großen Guru in Ankara und der entscheidet, wer die Guten und die Bösen sind, das entlastet auch die deutschen Gerichte erheblich und beschleunigt die Verfahren. Das Sozialministerium übernimmt Amazon, dann gibt es in Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn nach dem Vorbild der Logistikbranche. Umwelt und Verbraucher? Klar, Volkswagen!

Das Wirtschaftsministerium übernimmt Siemens Windenergie, die dann den alten Spruch „Räder müssen sich drehen für den Sieg“ neu interpretieren werden. Die Bahn übernimmt das Verkehrsministerium und beginnt sofort mit der Renaturierung von A1, A2, A7 und A9. Das Finanzministerium geben wir natürlich keiner Bank! Wir müssen auf alles vorbereitet sein und wenn die EZB den Euro weiter in die Seife reitet, ist es gut, breit und währungsunabhängig aufgestellt zu sein. Also geben wir das Finanzministerium an PayPal. Das Bildungsministerium übernimmt der SPIEGEL, der bereitet sich mit seinem Ableger bento schon seit einer Weile auf die neuen ABC-Schützen vor. Unsere Uschi übergibt die Schlüssel des Verteidigungsministeriums an Heckler & Koch, das Außenministerium übernimmt die Lufthansa. Für das Familienministerium gibt es auch längst einen Kandidaten! IKEA bietet deshalb bereits seit langem kostenlose Kinderbetreuung im „Small-Land“ an. Die Expertise all dieser Firmen ist unumstritten! An der Expertise der Kanzlerin zweifelt mittlerweile sogar sie selbst.

Ergänzung: Alter Wein in neuen Schläuchen

Der obige Link zur Meldung beim DWN ist ein alter Hut. Frau Merkel hat ihn wohl auf ihrer Pressekonferenz hervor geholt, den Staub weggeblasen und erneut ins Licht gehalten. Wer’s nicht glauben kann…hier der Link zum ungeschnittenen Video der Pressekonferenz, unter Punkt 9 (Rückführung) wird es interessant, da kommt auch McKinsey ins Spiel. Im Video etwa ab Minute 14. Das bedeutet leider, dass ich mein voreiliges Lob auf den DWN zurückziehen muss.

Ich frage mich allerdings, warum es heute nirgends im deutschen Blätterwald rauscht, wenn Merkel ihre eigene Regierung für ratlos erklärt. Kann es sein, dass alle Journalisten spätestens bei Minute 10 im Tiefschlaf waren, die Aussage aber erst bei Minute 14 kam?

Zuerst erschienen auf Roger Letschs Blog Unbesorgt hier.

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Leserpost

netiquette:

Ernst-Fr. Siebert / 30.07.2016

” Blauer Blazer, blaue Halskette. Wenn Merkel jetzt noch anfinge, sich die Haare blau zu tönen, könnte sie ...” Margot Honecker noch ähnlicher sein.

Dietrich Herrmann / 29.07.2016

Genau, der ihr ständiges Grinsen und das Outfit aber am meisten das ohnmächtige Geschwurbel waren die Verhöhnung des deutschen Volkes und insbesondere der Opfer des Terrorismus der letzten Tage.

Hans Merx / 29.07.2016

Sehr geehrter Herr Letsch, Ihre Ausführungen sind mal wieder lesenswert. Und aus meiner eigenen beruflichen Erfahrung mit Expertisen kann ich Ihnen auch sagen, was am Ende des hochglanzpolierten und mit farbigen Tabellen hinterlegten, nach Wissenschaft und Objektivität erscheinenden, Gutachten stehen wird: Wir empfehlen dringend zu den Themen A, B und C weitere Gutachten in Auftrag zu geben.

Hartmut Laun / 29.07.2016

Das mit der externen Beratung ist einfach und teuer. Den Sachverstand ihrer Staatssekretäre zu nutzen, die Merkel beweisen wie wenig sie es kann Bundeskanzlerin zu sein, das wäre zu einfach und zu billig. Wenn die Experten es dann herausgefunden haben, wenn Merkel denen folgt, dann waren die Expertenn die Dummen, aber nicht sie. Unangenehme selbst verschuldete Lagen und deren Lösungen überlässt man gerne den Externen, deren Ratschläge man nur soweit folgt als diese dem Auftraggebern nützlich sind. Kurz, die Experten stellen sich gegen Geld zur Verfügung den Sack zu spielen auf den eingeschlagen werden kann, obwohl der Esel im Sack gemeint ist. Ich habe es immer gut gemeint, aber die Experten haben versagt.

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