Von Gabor Steingart.
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, hat die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann einst gesagt. Doch Wien ist nicht Berlin. In der deutschen Hauptstadt gilt wenige Wochen nach dem Wahltag die Wahrheit nicht als zumutbar, sondern als Zumutung. Anders ist der mediale Furor nicht zu erklären, der Christian Lindner heimsucht, seit er die Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition beendete.
„Es hat sich gezeigt“, sagte der FDP-Chef in der Nacht von Sonntag auf Montag, „dass die vier Gesprächspartner keine gemeinsame Vorstellung von der Modernisierung unseres Landes entwickeln konnten“. Damit sprach Lindner eine Wahrheit aus, die jeder seit Tagen sehen und spüren konnte. Deutschland erlebte mit Lindners Erklärung das, was der Philosoph Peter Sloterdijk in „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ so beschrieben hatte: „Die Übersteigerung des Unbehagens durch seine Erklärung.“ Dabei hatte der 38-Jährige die beteiligten Unterhändler nicht kritisiert, nur ertappt.
Den am Sondierungstisch Versammelten fehlte so ziemlich alles, was man zum Bilden einer Koalitionsregierung braucht: Vertrauen, Wirklichkeitsbezug und der Wille zur gemeinsamen Tat. Womit wir bei der Kanzlerin wären. Ihr huldvolles Winken aus Balkonien, erkennbar dem weltlichen und religiösen Adel abgeschaut, wirkte wie das Symbol einer vordemokratischen Entrückung. In diesen Bildern ist das Bewahrungsinteresse geronnen, das jeden äußeren Impuls als Störung und nicht mehr als Bereicherung empfindet.
Die Problematik beginnt schon damit, dass Merkel Mühe hat, das Wahlergebnis zu lesen, wie sie unumwunden zugibt: „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten“, sagte sie wenige Tage, nachdem sie die Union geschrumpft und die AfD groß gemacht hatte.
Im Grunde schon seit der großen Flüchtlingswelle besteht zwischen Merkel und der Wirklichkeit nur noch ein Wackelkontakt. Seither will sie zwar die weltweiten Fluchtursachen bekämpfen, aber die Fluchtgründe ihrer eigenen Wähler mag sie nicht zur Kenntnis nehmen. Darin wiederum liegt der Kern vom Kern des Konflikts zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU, was auch die Gespräche mit den anderen schwer belastet hat. Ohne gemeinsame Ortsbestimmung ist jeder eingeschlagene Weg falsch.
Dieser Beitrag erschien zuerst als Handelsblatt Morning-Briefing hier.