Alles kann gut werden. Zumindest für die Kanzlerin. Aber das reicht ja auch – für sie. Ausgerechnet das russische Nachrichtenportal Sputnik schickt sich an, das Offensichtliche klar zusammenzufassen: „Merkel wird womöglich Rettung Europas anvertraut“. Das holprige Wort „womöglich“ in dem auch ansonsten etwas holprigen Artikel soll anzeigen, dass man sich noch immer im Bereich der Spekulation befindet. Die reißerische Pathetik der Schlagzeile fällt zwischen auch anderweitig gepflegter, keine Peinlichkeit scheuender Lobhudelei für Merkel kaum auf.
Die von Sputnik nachgezeichnete Linie ist allerdings durchaus nachvollziehbar. Und zwar nicht erst, nachdem der seit Jahren schwer unter Ischias leidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor wenigen Tagen die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Zukunft der deutschen Kanzlerin lenkte, die ja laut eigner Aussage eigentlich keine politischen Ämter mehr anstrebt. In gewohnter Distanz charakterisierte Juncker Merkel als „liebenswertes Gesamtkunstwerk“, für eine Position in der EU sei sie „hochqualifiziert“. Das schnuppert nach Bürowechsel.
Die Amtszeit des EU-Kommissionspräsidenten läuft in diesem Jahr ebenso ab wie die Amtszeit des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk. Warum der CSU-Politiker Manfred Weber, dessen Hauptqualifikation in stetiger Präsenz bestehen dürfte, als EVP-Kandidat für die Juncker-Nachfolge aufgestellt wurde, ist ein bislang ungelöstes Rätsel. Dass er Platzhalter für eine mögliche andere, kurzfristig zu benennende Kandidatin ist, wäre zumindest eine Erklärung.
Die „Rettung“ Europas – gemeint ist die EU – durch die Hände der Frau, die der ursprünglich guten Nachkriegsidee einer europäischen Kooperation geschadet hat wie kaum ein anderer rangähnlicher Politiker, ist eine, nun ja, doch etwas gewagte Idee. Hat das Agieren Merkels – und zwar nicht nur während der „Flüchtlingskrise“ von 2015 – bei der britischen Austrittsentscheidung vielleicht auch eine klitzekleine Rolle gespielt? Woher kommt die derzeit nur sehr mäßige Begeisterung der Visegrád-Staaten für das Einheitsprojekt? Derartige Fragen ließen sich fortsetzen.
„Die Welt-Führer riefen“
Auch auf der anderen Seite des Atlantiks möchte jemand das Land respektive die Welt retten. Unter „Rettung“ geht offenbar nichts mehr. Geradezu gebettelt wird der 76-jährige Joe Biden, einst Vizepräsident unter einem der meistüberschätzten zeitgenössischen Politiker. Nun wirft er auf der Seite der Demokraten seinen Hut in den Ring, um 2020 gegen Trump anzutreten. Den flehenden Anrufen der Welt-Führer könne er sich, obwohl im besten Rentner-Alter, doch nicht entziehen. (O-Ton Biden: „I get calls from people all over the world – world leaders are calling me – and they‘re almost begging me to do this, to save the country, save the world.“)
Biden regiert die USA, Merkel führt eine, dann vielleicht auch kompetenzerweiterte EU als Kommissionspräsidentin von Brüssel aus? Die „freie Welt“ wäre niemals eine bessere aller besten Welten gewesen.
Nun steht die Wahl im fernen Amerika erst im November nächsten Jahres an. Biden müsste sich innerparteilich erst noch als Kandidat seiner Partei durchsetzen. Die hiesige Europawahl und dort freiwerdende Spitzensessel sind dagegen brandaktuell. Sollte die derzeitige Kanzlerin tatsächlich noch in diesem Jahr geräuscharm oder gar begleitet von mittelleisem Beifall in eine entsprechende EU-Position wechseln, wäre man geneigt, das undurchsichtige Wirken von Verschwörungen, archaischen Schutzgöttern oder ähnlichem ernsthaft in Erwägung zu ziehen.
Denn dann hätte sie – unter Zurücklassung unübersehbarer Scherbenhaufen – eine in der deutschen Nachkriegsgeschichte beispiellose Karriere zustande gebracht. Jeder ihrer Kanzler-Vorgänger hat das Amt durch Abwahl oder unter Druck räumen müssen. Merkel wäre bei Übernahme einer EU-Führungsposition quasi sogar noch einmal aufgestiegen. Ein weiteres Meisterstück, was aus besagten Gründen ihren Vorgängern nicht möglich war, könnte sie zustande bringen: Das Installieren des Wunschnachfolgers, in diesem Fall wohl der Wunschnachfolgerin, im Kanzleramt.
Gerettet wäre damit eines: eine bruchlose, stetig nach oben weisende, lange und nie wirklich gefährdete Laufbahn, ein blütenreiner, großflächiger Eintrag in den Geschichtsbüchern. Sofern das Innehaben und Ausbauen von Machtpositionen als Maßstab angelegt werden: Alles, aber auch wirklich alles, hat bislang geklappt, diesbezüglich ist das Wort Genialität durchaus angebracht. Die bereits jetzt spürbaren Folgen der im schlimmsten Wortsinne nachhaltigen und kaum reversiblen, von ihr zu verantwortenden Entscheidungen sind bislang in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend von ihrer Person abgekoppelt. Die Gefahr, dass sie sich irgendwann einmal entschuldigen muss, weil sie ein freundliches Gesicht gezeigt hat, ist derzeit äußerst gering.