Alexander Wendt / 20.11.2017 / 06:54 / Foto: pixabay / 39 / Seite ausdrucken

Merkel schwimmt, das Krokodil wartet

An Angela Merkel wurde in den letzten Monaten selbst von grundsätzlich geneigten Kommentatoren eine völlige Entkernung ihrer Restpolik diagnostiziert. Möglicherweise täuscht der Eindruck. Die Koalition mit der FDP bis 2013 verwaltete sie wurstig, zielstrebig nur in ihrem Vorsatz, den Verbündeten auf Null zu bringen. In den beiden Bündnissen mit der SPD nahm sie den Partner gewissermaßen in die CDU auf, um ihn allmählich zu verdauen.

Im Fall der Jamaika-Konstruktion handelte es sich möglicherweise um die erste Konstellation, die von Merkel mit einer inneren Beteiligung vorangetrieben wurde. Um mit den Grünen ins Geschäft zu kommen, musste sie störende Umstände wie die CSU und die Hälfte ihrer eigenen Partei in Kauf nehmen. Aber das schreckte sie nicht. Auf der anderen Seite gingen auch die Grünen offenkundig davon aus, ein Bündnis mit Angela Merkel und den Medien schließen und den arithmetischen Rest gemeinsam dominieren zu können.

Interessanterweise scheitert dieses Projekt gerade an den beiden zentralen Punkten von Merkels Kanzlerschaft: Der Doktrin einer unbegrenzten Zuwanderung bei offenen Grenzen ohne Rücksicht auf die materiellen und mentalen Ressourcen des Landes – und dem staatsgelenkten Umbau der Energieversorgung ohne Rücksicht auf Physik und Volkswirtschaft. Die eigentlich angestrebte Koalition – Merkel, Grüne, Medien – steht zwar, und das sehr eisern. Nur der Rest macht nicht mehr mit.

Warum eine Kanzlerin, die bekanntlich 2002 vor dem Bundestag sagte, vor einer neuen Einwanderung müssten erst einmal die Migranten der Vergangenheit vernünftig integriert werden, und die 2005 im Ton der schnippischen Schalterbeamtin eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke für alternativlos erklärte, dann später ihre ganze Partei auf das Gegenteil verpflichtete, ist eine Frage für spätere Chroniken. Interessanter ist schon, warum die CDU in beiden Fällen unter nur minimalen Zuckungen mitschwenkte.

Merkel, ein Rückblick

Einen entscheidenden Punkt trifft der Soziologe Wolfgang Streeck in seinem Text “Merkel. Ein Rückblick” in der FAZ: die in der DDR unpolitische (aber schon mit einem Amt in der Staatsjugend betraute) Frau stieg 1990 sofort ganz oben im politischen Getriebe ein: als Ministerin, später Generalsekretärin, Parteichefin, Kanzlerin. Der “heiße Atem des Volkes” (Streeck), den ein Bürgermeister, ein Ministerpräsident spürt, blieb ihr erspart. Das schaffte ihr die Freiheit, in ganz großen Begriffen zu denken. Zehntausende Jobs, die in der traditionellen Energieversorgung verloren gehen? Bedauerlich. Wohnungen für 1,6 Millionen Migranten, Schulplätze und Lehrer für deren Kinder? Ist Ländersache.

Dass sie das Land mit der Grenzöffnung 2015 gewalttätiger, antisemitischer, schwulen- und frauenfeindlicher machte, sind für sie ohnehin keine politischen Kategorien. Die Frage einer Frau in einer Wahlveranstaltung, was sie denn zu den horrend gestiegenen Sexualdelikten sage, beschied sie mit dem Satz: “Strafdelikte sind bei uns nicht erlaubt.” Merkel-Deuter lobten an ihr ja stets ihre Nüchtern- und Trockenheit, ohne je zu erwägen, ob es sich dabei nicht einfach um ein Asperger-Syndrom handelte. Nach diesem Muster verfuhr sie bekanntlich auch auf der Weltbühne. Brexit? Mir egal, ob die wegen mir gehen. Nun sind sie halt weg. Die mittelosteuropäischen Länder? Müssen mit finanziellen Drohungen dazu gebracht werden, die in Berlin erdachte “europäische Lösung” der Migrationsfrage zu exekutieren.

Irgendwann kommt jedes dysfunktionale System an sein Ende. Nichts anderes ist in der vergangenen Jamaika-Nacht passiert. Die Kräfte zur Abwehr des Faktischen reichten einfach nicht mehr, auch wenn Merkels wichtigste Allierten in den Medien sich bis zuletzt ins Zeug legten. Ob in der CDU noch ein Funken Leben steckt, das wird sich jetzt darin zeigen, wie schnell sie in der Lage ist, ihre eigentlich schon erledigte Vorsitzende auch formal noch zu stürzen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in Alexander Wendts  Internet-Magazin „Publico".

Foto: pixabay

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Leserpost

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Martin Schumann / 20.11.2017

Das La Linea Prinzip: «Wenn Du ein kaputtes System zerstören willst: Lass es laufen.» Das Abdanken des Merkill-Systems ist für mich wie ein 2. Mauerfall.

Claudia Dorfner, / 20.11.2017

“Strafdelikte sind bei uns nicht erlaubt.”  - kann ein Volk wirklich so jemanden als Kanzler haben wollen?

Uwe Schramm / 20.11.2017

Nun ist der Knoten also geplatzt. Kein Jamaika. Es lässt an den Merkel-ist-am-Ende Artikel in der FAZ vom vergangenen Donnerstag denken. Er stammt von einem der Großen der deutschen Politikwissenschaft und ist auch insoweit bemerkenswert, als er das Ende der Ära Merkel markiert, nachdem der Durchbruch Merkels an die politische Spitze ebenfalls von einem FAZ-Artikel eingeleitet wurde, als sie Kohl wegen seiner Verwicklung in die Parteispendenaffäre angriff und damit seinen Sturz einleitete. Beides kann man als „historische“ Artikel bezeichnen; sie zeigen nicht nur das Ende einer Epoche an, sondern sie beschleunigen es noch. Wir stehen daher am Anfang einer neuen, einer unruhigen Epoche. Politisch gesehen ist das Kreuz über Angela Merkel geschlagen. Die bisherige linksgrüne Hegemonie, das Bündnis Merkels mit Linksliberalen, Grünen, den grossen Medien, Kirchen und den ihr affinen Teilen ihrer eigenen Partei, ist politisch und kulturell am Ende. Was nun kommt, wissen wir nicht. Gewinnen wird zunächst die FDP.  Sie ist zur Partei der Wähler geworden, die ein „weiter so“ Merkels nicht wollen, aber ebenso keine AfD wählen.  Die FDP hätte das Zeug zur Volkspartei, wird es aber nicht, weil sie keine soziale Komponente hat. Vielleicht kommt die Stunde einer Scholz-SPD ? Oder einer wiedergeborenen Lafontaine-SPD - also sozial scharf links, aber mit einer Antenne für Sicherheit ? Bezeichnend ist, daß dem Verlust der publizistischen und kulturellen Dominanz dem Verlust der politischen Hegemonie durch das Merkel stützende Milieu vorangegangen ist. Ist dies nicht immer die Reihenfolge bei politischen Gezeitenwechseln ? Es hat sich gezeigt, daß selbst ein anhaltendes publizistisches Trommelfeuer, angeführt von den parteiengesteuerten Fernsehanstalten und vehement orchestriert von den tonangebenden Printmedien, für die Erhaltung der Hegemonie nicht ausreichend ist. Das kulturelle Milieu hatte sich dagegen zunächst seine Unabhängigkeit und damit Kritikfähigkeit bewahrt,  um sich seit dem Herbst 2015 bis auf wenigen Ausnahme einer nach dem anderen von Merkel zu verabschieden. Die Unbekannte in dieser Rechnung ist die AfD. Sie wird umso mehr zunehmen, je tumultartiger die weitere Entwicklung verläuft. Je weniger Wähler den bisher regierenden Kräften zutrauen, die Situation zu konsolidieren, desto stärker wird die AfD werden. Je stärker die AfD, desto mehr schränkt das den politischen Handlungsspielraum der anderen ein; ein Verhältnis der negativen Reziprozität. Verläuft dieser Prozeß rasch und unter unerfreulichen Begleitumständen, so werden sich die Unionsparteien, vorab die CSU, rascher von Frau Merkel befreien als gedacht. So oder so: das ist das Ende des Neo-Biedermeiers der Ära Merkel. Jamaika wurde für Angela Merkel zum Fluch der Karibik. Das System Merkel war ein interessantes Experiment. Regieren ohne parlamentarische Zustimmung für die wirklich kritischen Entscheidungen wie in der Flüchtlingspolitik und Energiewende, dafür aber abgestützt auf eine Reihe ergebener Gefolgsleute, vor allem aber auf den Chor der Leitmedien, auf Kirchen und andere gesellschaftliche Großorganisationen. Und das alles mithilfe moralischer Paralysierung der Gegner im Parlament und der Mehrheit draussen im Land.  

Th.F.Brommelcamp / 20.11.2017

Wie nah die Merkel CDU Ideologisch bei Grünen ist! Beide Parteien geben die Schuld am Scheitern der FDP, ergo : wo sind die Unterschiede zwischen Grün und CDU? Heuchler Horst ist auch gerettet.

Geert Aufderhaydn / 20.11.2017

” In den beiden Bündnissen mit der SPD nahm sie den Partner (FDP, d.V.) gewissermaßen in die CDU auf, um ihn allmählich zu verdauen.” Lange nicht mehr so gelacht! . . . Hoffentlich hat DER Spuk nun ein Ende.

Dr. Günter Crecelius / 20.11.2017

‘Die in der DDR unpolitische Frau’! - Ich habe da Zweifel, obwohl kein DDR Insider. Sie war im STASI - Staat DDR, in Sachen Überwachung höchst professionell organisiert - FDJ Sekretärin für Agitation und Propaganda. Also nach meinem Verständnis, nur aus zweiter Hand von DDR Kollegen,  zuständig für die politische Indoktrination der Jugend. Im Altersheim kann ich mir da eine unpolitische Sekretärin vorstellen, aber in der Jugendorganisation? Was hat sie in der Akademie der Wissenschaften eigentlich getrieben - nach eigenem Bekunden 8 - in Worten acht -  Jahre an einer Doktorarbeit gewerkelt, die dann noch nicht einmal veröffentlicht wurde, im Westen eine Voraussetzung für die Aushändigung der Dissertationsurkunde.  In den Institutionen, in denen ich (Physik)Doktoranden betreut habe, undenkbar.  Veröffentlichungen gibt es für acht Jahre Tätigkeit wenige - als Mitautorin unter ferner liefen - zu wenige nach Standards in anderen wissenschaftlichen Organisationen. Fragen über Fragen.

Viktor Schlotz / 20.11.2017

Bingo!!! Biologische Krankheitsverläufe steigen mit dem ende exponentiell.  

Andreas Donath / 20.11.2017

Asperger-Syndrom - das würde in der Tat einiges erklären.

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