Günter Ederer
„Freiheit und Verantwortung“ – die Lebensmaxime des designierten Bundespräsidenten Joachim Gauck weckt bei mir die Hoffnung, dass die entscheidenden Grundlagen für die Zukunft einer Nation in unserer prinzipienlosen Republik wieder in den Mittelpunkt rücken. Bei Gauck sind dies nicht nur Begriffe, die er in Proseminaren eines Philosophiestudiums erlernt hat, sondern bei ihm sind sie ein gelebter Lebensinhalt. Selbst unter den Kommunisten der DDR war er nicht bereit, seine Freiheitsideale zu verraten, selbst wenn er und seine Familie dadurch die Macht des Unrechtsstaates ertragen mussten. Und er hat sich nie vor der Verantwortung gedrückt, die er als Pastor für die Jugendlichen übernommen hatte, die sich trotz der antichristlichen Staatsdoktrin der SED-Bande zur Kirche bekannten.
Nach der Wende hat er dann vorbildlich dafür gekämpft, dass sich die vielen tausend Funktionsträger im Unterdrückungsapparat der DDR nicht vor ihrer Verantwortung davonstehlen konnten, indem er die Behörde zur Aufklärung der Stasi-Verbrechen in ihrer heutigen Form sicherte, die als Gauck-Behörde bekannt ist. Alles, was Joachim Gauck bisher getan und gesagt hat, prädestiniert ihn dafür, der richtige Bundespräsident in einem wiedervereinigten Deutschland zu werden.
Was aber treibt die CDU/CSU? Hat sie noch inhaltliche Überzeugungen, oder ist und wird alles strategischem Kalkül geopfert? Noch schlimmer allerdings wäre die Schlussfolgerung, dass Merkels Hang, charismatische und prinzipientreue Konkurrenten aus ihrer Nähe zu verbannen, die Ursache des unwürdigen Taktierens ist. An Joachim Gauck ist sie Gott sei Dank gescheitert. Zwar sind jetzt zwei ostdeutsche Politiker aus dem protestantisch-lutherischen Milieu an der Spitze des Staates, aber trotzdem könnten die Lebensverläufe nicht unterschiedlicher sein. Und gegenüber Gauck sieht Merkel eher blass aus.
Gaucks Vater wurde unschuldig für Jahre nach Sibirien verbannt, und so erlebte der Sohn schon als Jugendlicher das Unrechtssystem der DDR. Merkels Vater siedelte freiwillig von Hamburg in die DDR, weil er von einem gerechten Sozialismus träumte, dem er mehr vertraute als dem kapitalistischen Westen. Sein Spitzname: der rote Kasi, abgeleitet vom Familiennamen Kasner. Gauck verweigerte sich den DDR-Ritualen, durfte nicht studieren, seinen Kindern wurde das Abitur versagt. Merkel machte bei der FDJ mit. Sie durfte studieren, was fast allen Pastorenkindern verboten wurde. Gauck wehrte sich gegen die Übergriffe des Staates auf die Menschen, Merkel schwamm halt so mit. Gauck organisierte während der Wende Demonstrationen und kämpfte aktiv für ein vereinigtes Deutschland. Merkel tauchte erst nach dem Fall der Mauer am 9. November auf und bot ihre Mitarbeit dem „Demokratischen Aufbruch“ an. Gauck blieb unabhängig und unbequem, stritt wider das Vergessen. Merkel engagierte sich in der CDU und passte sich dem Politikbetrieb an, bis sie selbst die Macht übernahm. Seither hat sie fast alle inhaltlichen Positionen vertreten, die gerade en vogue sind, um die Macht zu erhalten.
Was wir jetzt erleben, ist der massive Versuch, Gauck und seinen Freiheitsbegriff zu relativieren, ihn auszuspielen gegen die obrigkeitshörige Staatsvorstellung, die als „Gleichheit“ und „soziale Gerechtigkeit“ daherkommt. Angeführt von der Linkspartei und den selbstgerechten Moralinterpreten der öffentlich-rechtlichen Talkshows. Alle die, für die die DDR kein Unrechtsstaat war, brauchen natürlich keine Freiheit. Für sie ist das ein relativer Begriff. Sie wollen „soziale Gleichheit“. Aber sie vergessen, dass die DDR-Gleichheit mit West-Krediten bezahlt war und einen Pleitestaat hinterlassen hat.
Außer der Linken entrüsten sich vor allem diejenigen, die sich bisher als den Maßstab für die Republik gesehen haben. Dazu zählen der Christdemokrat Heiner Geißler, der Dauer-TV-Philosoph Richard David Precht und die nur im TV präsente taz-Redakteurin Ines Pohl. Diese Aufzählung ist sicher nicht vollständig – aber deren Einwände sind typisch für eine deutsche Elite, die mit Freiheit noch nie etwas anzufangen wusste. Vielleicht aber spüren sie auch, dass mit Gauck die Zeit der Staatshörigkeit wieder abnimmt. Vielleicht spüren sie, dass Gaucks Freiheitsbegriff mit den Leitberiffen des österreichischen Nobelpreisträgers Friedrich A. von Hayek übereinstimmen: Die Stabilität eines Staates beruht auf Legalität, Freiheit und Eigentum. Also auf allem, was die Gauck-Kritiker ablehnen.
Zuerst erschienen in der Fuldaer Zeitung vom 3.3.2012