Der sogenannte Asylstreit ist ein Streit um die künftige Gestalt der EU, ohne dass eine Seite dies auszusprechen wagt. Die Frage, warum es die europäische Lösung nicht gibt, wird durch Schuldzuweisung gelöst, also infantil, durch Lösungsverweigerung. Merkel ringt, wenn man sie lässt, noch in fünf Jahren um die europäische Lösung, die sich um Deutschland herum dann längst etabliert haben wird. Die EU nimmt eine neue Gestalt an, und Deutschland kann sagen, es habe erfolgreich verhindert, dass etwas Vernünftiges dabei herauskommt. Dabeisein ist alles.
Die deutsche Politik besteht in der Ära Merkel weitgehend aus Verwaltungshandeln (governance). Hört man auf ihre Vertreter, dann sehen sie die Aufgabe, für die sie gewählt sind, in der Umsetzung supra-, inter- und postnationaler Konzepte, Beschlüsse, Papiere, zu deren Ausformulierung Regierungen und NGOs ihre Fachleute entsenden. Um das Ergebnis anschließend als verpflichtend zu akzeptieren, bevor es – pro forma – die Parlamente passiert hat. Muss einmal gehandelt werden und die Vorgaben widersprechen einander, dann passiert so etwas wie Merkels Alleingänge: Man greift nach dem Strohhalm irgendeiner Globaltheorie, die bei den Journalisten gut ankommt, und überlässt den Rest nachrangigen Gremien: Sie schaffen das schon. Den Abgleich mit der Wirklichkeit überlässt man anschließend den Sozialämtern sowie Polizei und Justiz.
Wie jedes System produziert auch dieses spezifische Kosten. Sobald sie einen wahlstrategisch relevanten Teil des Publikums erreichen, erhöht sich der propagandistische Einsatz mit den sattsam bekannten Folgen. Versagt diese Form der Eindämmung, spaltet sich die Gesellschaft, und es entstehen neue Kraftfelder, die nicht mit dem Gesinnungsspektrum der existierenden Parteien übereinstimmen müssen. Für ein Land mit einer trägen, weitgehend unpolitisch denkenden und wählenden Wählermasse wie Deutschland gilt das mehr als für andere, zum Beispiel Italien oder Frankreich, in denen fast über Nacht neue Parteien nach der Macht greifen können. Was hierzulande rechter und linker Populismus heißt, ist nicht durch AfD und Linke abgegolten, sondern durchzieht mittlerweile das gesamte Parteiensystem. Es sind die Magnetfelder einer sich neu formierenden Politik.
International gesehen, bedarf das schwache, aber von den sogenannten Eliten des Westens befürwortete und, mit den üblichen Abstrichen, getragene Regiment aus UN-Resolutionen, EU-Verfügungen und Konferenz-Absichtserklärungen – aus denen zum Teil niemals ratifizierte, geschweige denn adäquat umgesetzte Verträge hervorgehen – einer starken Korrektur. Das liegt – neben den unmittelbaren Folgen – daran, dass auf dem Weg zum EU- oder Weltstaat einige der wichtigsten Player bereits verlorengegangen sind oder verlorenzugehen drohen: in der EU England, teilweise die Visegrad-Staaten, womöglich Italien, global gesehen Russland und, je nach Interessenlage, das zur globalen Über-Macht heranreifende China. Diese Länder definieren heute, was nationale Politik in Zukunft bedeuten wird.
Die EU kann gegen die USA nicht bestehen
Die beliebte Diagnose, es handle sich dabei um die fatale Rückkehr der alten, überwunden geglaubten Geopolitik, ist schon deshalb heuchlerisch oder naiv, weil der bisherige Garant des internationalen Systems, die USA, sie zu keiner Zeit aufgegeben hatte. Die USA haben sich stets als Ankermacht des Systems, nie als Teil von ihm definiert und entsprechend gehandelt. Insofern hat der unter Obama umgesetzte amerikanische Entschluss, Russland zu isolieren und einen Cordon sanitaire durch Europa zu legen – des weiteren China nicht länger als Entwicklungspartner, sondern als strategischen Gegner zu behandeln – das System lange vor Donald Trump erschüttert.
Wenn Trump den Ausgleich mit Russland sucht, dann zieht er die notwendigen Konsequenzen aus der entstandenen Lage. Ihn für das Desaster der Obama-Politik in Afrika, im Nahen Osten und – nicht zu vergessen – in der Ukraine verantwortlich zu machen, grenzt an Sündenbock-Mythologie und verstellt den Blick auf die Notwendigkeiten der eigenen Politik.
Warum der Asylstreit? Die EU kann gegen die USA nicht bestehen. Das folgt nicht nur aus den militärischen und ökonomischen Potenzen. Deutschland ist und bleibt der wichtigste Stützpunkt der USA in Europa. Er garantiert die amerikanische Dominanz über den Erdteil und damit das geopolitische Gleichgewicht. Militär, Kapital, Medien, Geheimdienste, ein Geflecht transatlantischer Organisationen und Kontakte sichern diese Dominanz ab. Überraschenderweise hat Trump zu Beginn seiner Amtszeit angeboten, die Nato in der bisherigen Form abzuschaffen oder von Grund auf neu zu konzipieren (eine virulente Idee im Europa der 1990er Jahre). Die Europäer haben mit Panik darauf reagiert. Dafür werden sie zahlen. Selbstgewählte Unmündigkeit, als Überlegenheit maskiert, ist teuer. Schon fehlt der EU der wichtigste Kitt dieser wie jeder auf Einheit zielenden Politik: Einmütigkeit.
Merkel hat, verführt durch einen verkürzten Politikbegriff, ihre Glaubwürdigkeit an ihren Anti-Trump-Kurs gebunden. Das kostet sie über kurz oder lang das Amt. Wenn Merkel über die Flüchtlingspolitik stürzt, dann deshalb, weil hier ein vollständig transparenter symbolischer Austragungsort für fast sämtliche Konflikte entstanden ist, die durch das von ihr exekutierte Politikmodell des letzten Jahrzehnts aufgelaufen sind. Eine hohe Bürgermobilisierung ist gesichert. Es wird nicht gelingen, die Leute mit der Behauptung wieder nach Hause zu schicken, nichts sei geschehen und die Welt sei nach wie vor in Ordnung. Wer in dieser Situation nichts zu bieten hat als den obligaten, im übrigen heuchlerisch geführten Kampf gegen Rechts, wird verlieren.