Ralf Schuler / 06.11.2019 / 12:22 / Foto: StopWatchingUs / 154 / Seite ausdrucken

Merkel-Interview: Kein Missgriff, eine Frechheit 

Die Kanzlerin hat Spiegel-Online ein bemerkenswertes Interview gegeben. Zum einen, weil Interviews der Kanzlerin ohnehin rar sind und für gewöhnlich zweckdienlich vor Wahlen gewährt werden. Zum anderen, weil es dann doch einige interessante Einblicke bietet.

Da ist gleich eingangs die Frage, was aus ihr wohl geworden wäre, wenn die Mauer nicht gefallen wäre und die DDR heute ihren 70. Republikgeburtstag (wie es ehedem hieß) gefeiert hätte. Nun mag die Vorstellung des Fortbestandes der DDR auch in deren vormaligen Insassen Unterschiedliches wachrufen. Bei mir, das gebe ich zu, ist es ein heftiger Abwehr-Reflex, die unbändige Freude über das damalige Ende und düstere Ahnungen darüber, wie ein Leben unter fortlaufender SED-Herrschaft wohl ausgesehen hätte.

Angela Merkel sagt: „Ich hätte immerhin schon meinen Traum verwirklichen können: In der DDR gingen die Frauen mit 60 in Rente, ich hätte mir also schon vor fünf Jahren meinen Reisepass abgeholt und wäre nach Amerika gereist. Rentner hatten ja Reisefreiheit in der DDR – wer als sozialistischer Erwerbstätiger nicht mehr gebraucht wurde, durfte raus.“

Das mag launig dahingesagt sein, und vielleicht ist es heute auch bis in die Spitzen der Union irgendwie unmodern geworden, als „Kalter Krieger“ zu gelten. Es kann auch sein, dass die Kanzlerin es für taktisch klug hält, im Jahr des Mauerfall-Jubiläums Ost-Romantikern nicht allzu konfrontativ entgegenzutreten.

Freiheit nur bei Unbrauchbarkeit

Der geradezu besonnte imaginäre Rückblick auf ein Leben in der DDR und das Renteneintrittsalter von Frauen hat aber doch eine etwas verstörende Leichtigkeit: Kein Wort dazu, dass sich nach gängigem Verständnis lebenslanges Einsperren mit Freigang zur Rente nicht durchgesetzt hat. Kein Wort zum Menschenbild, das Freiheit lediglich bei Unbrauchbarkeit für den Arbeitsmarkt gewährt. Und vor allem: kein Wort zu dem DDR-Leben vor dem Renteneintritt mit all seinen Drangsalierungen, Schikanen, Demonstrationen und Gleichschritt. 

Wie lange hätte sie tatsächlich frei forschen können, ohne zum SED-Beitritt gedrängt zu werden? Welche Einschränkungen hätte sie in Kauf genommen für ihre Unabhängigkeit? Hätte ihr Mann auch in der DDR jene Forschungsmöglichkeiten gehabt, die ihm nach der Wende offenstanden?...

Stattdessen bringt Angela Merkel im Gespräch einen Topos, der sonst von Linken-Frontmann Gregor Gysi gern zur Belustigung des Ost-Publikums gebracht wird: den ängstlichen Wessi. „Und da ich weiß, dass in Westdeutschland damals nicht nur Mutbolzen lebten – ich erinnere mich, wie es manchen schon zu viel wurde, wenn sie mal für uns ein Buch über die Grenze schmuggeln sollten – könnte man das sicher mehr würdigen.“

Kein Missgriff, eine Frechheit 

Schon richtig: Auch in der alten Bundesrepublik war und ist der Bekennermut nicht gleichmäßig mit der großen Kelle ausgeteilt worden. Es ist aber schon ein beträchtlicher Brocken Chuzpe nötig, um über das repressive Regime generös hinwegzugehen und sich stattdessen über die Ängste seiner möglichen Opfer lustig zu machen. Dafür dann ausgerechnet das Beispiel des Bücher-Schmuggelns zu nennen, ist nicht nur ein ärgerlicher Missgriff, sondern im Grunde eine Frechheit.

Ja, viele Bundesbürger taten es, brachten Solschenizyn, Rainer Kunze und andere verbotene Bücher mit in den Osten. Dies aber als nette, folgenlose Geste abzutun, verrät doch eine gewisse Naivität. Der Journalist Jörg Kürschner saß dafür, dass es ihm nicht „zu viel“ war, einige Bücher zu schmuggeln, in Hohenschönhausen und Bautzen und dürfte sich für dieses Bonmot der Kanzlerin herzlich bedanken. Und er war nicht der Einzige. Aber vielleicht hat man bislang auch nur in der Biografie der Kanzlerin übersehen, welche mutigen Widerstandsgesten sie zu solchen Hinweisen berechtigen.

Und noch ein Punkt stößt seltsam auf in dem Interview: Im Großen und Ganzen ist Angela Merkel mit dem Zustand der Meinungsfreiheit in Deutschland zufrieden. „Meinungsfreiheit heißt nicht Widerspruchsverbot“, sagt sie und reagiert mit einem klaren „Nein“ auf die Frage, ob sie die Meinungsfreiheit in Gefahr sehe. Dann folgt ein interessanter Absatz:

„Natürlich muss zum Beispiel der AfD-Gründer Bernd Lucke eine Vorlesung an der Universität Hamburg halten können, das muss der Staat notfalls durchsetzen. Aber die Debatte läuft ja so, dass ein sogenannter Mainstream definiert wird, der angeblich der Meinungsfreiheit Grenzen setzt. Doch das stimmt einfach nicht. Man muss damit rechnen, Gegenwind und gepfefferte Gegenargumente zu bekommen. Meinungsfreiheit schließt Widerspruchsfreiheit ein. Ich ermuntere jeden, seine oder ihre Meinung zu sagen, Nachfragen muss man dann aber auch aushalten. Und gegebenenfalls sogar einen sogenannten Shitstorm. Ich habe das ja auch schon erlebt. Das gehört zur Demokratie dazu. In der alten Bundesrepublik gab es seinerzeit noch ganz andere Debatten, beispielsweise Ende der Sechzigerjahre, wenn ich richtig informiert bin.“

Meinung kann Folgen haben 

Das ist durchaus bemerkenswert. Die Kanzlerin selbst betont immer wieder, dass die Verrohung der Sprache zu einer Verrohung der Sitten führe, aus bösen Gedanken böse Worte und am Ende böse Taten würden. Mit anderen Worten: Wer die Diskurskultur als Dimension der Meinungsfreiheit völlig ausblendet, hat sie nicht verstanden. Völlig zu recht sind im Bundestag Transparente, Demonstrationen und andere lautstarke Artikulationsmöglichkeiten der Meinungsfreiheit verboten, weil die Debatte zwar heftig, aber mit Worten, sprich: fairen und gleichen Mitteln ausgetragen werden soll. Dies kann, darf und muss man auch für den öffentlichen Diskursraum einfordern.

Nach Merkels Lesart handelt es sich bei den niedergebrüllten Vorlesungen von Bernd Lucke um einen bedauerlichen Einzelfall. In Wahrheit hat ihre eigene Partei etwa den Juristen Sascha Ott wegen eines Likes auf einer AfD-Seite nicht zum Justizminister in Mecklenburg-Vorpommern nominiert. Der Suhrkamp Verlag distanzierte sich von migrationskritischen Äußerungen seines Autors Uwe Tellkamp, obwohl diese die legitimen Grenzen der Meinungsfreiheit in keiner Weise überschritten. Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt wurde von Veranstaltungen wieder ausgeladen. Der Kabarettist Dieter Nuhr sah sich wegen Greta-kritischer Scherze üblen Verleumdungen und der Einstufung als „neuer Rechter“ ausgesetzt… Meinung kann Folgen haben.

All die Genannten können das gut aushalten. Und doch greift es zu kurz, wenn ausgerechnet die Regierungschefin Meinungsfreiheit als eine Art Guerilla-Scharmützel sieht. Motto: Müsst ihr das Echo eben aushalten. Meinungsfreiheit bedeutet auch, innerhalb des Verfassungsbogens neben Widerspruch eben nichts aushalten zu müssen. Sonst sind wir schnell wieder beim Thema DDR. Siehe oben.

Foto: StopWatchingUs CC0 via Wikimedia Commons

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Peter Wachter / 06.11.2019

Weiss jemand, ob es stimmt das Mutti, wenn sie irgendwann in Rente geht, in das Land zieht, wo auch ihr Vorbild seine Rente verbracht hat? Hoffe sie hat dort auch Personenschutz, dort ist es gerade etwas ungemütlich und könnte noch schlimmer werden, Sozialismus halt.

Robert Jankowski / 06.11.2019

Böse, aber ich habe irgendwie kurz gedacht: Mensch, mit Mauer hätte diese Frau Deutschland nie regiert/zugrunde gerichtet und wäre schon in Rente. Wäre doch toll! Alleine der Satz, dass man eben den resultierenden Shitstorm aushalten müsste, entlarvt Frau Merkel als Jemanden, der offensichtlich nicht viel von freier Meinungsäußerung hält. Mal ist es eben ein Shitstorm und wenn Charlie Hebdo ihre bösen Witze über Mohammed machen, dann werden sie eben erschossen. Dänische Karikaturisten müssen dann eben auch mit beilschwingenden Islamisten rechnen. Selber schuld!

Marc Blenk / 06.11.2019

Lieber Herr Schuler, die Abrissbirne der deutschen Demokratie hält Audienz. Eine ans Herz gehende journalistische Sternstunde unseres kritischen Lügenmagazins Nr 1 im Lande…. Zu diesem Käseblatt gibt es nun wirklich nichts mehr zu sagen. Zu Merkels selbstverräterischem Dampfgeplauder: Es gab in der ‘DDR’ wie in jeder anderen Drecksdiktatur eben nie so etwas wie gelungenes Leben. Alle Diktaturen machen ohne Ausnahme jede Existenz ihres Machtbereichs zu Schanden. Die Existenz der Mitläufer wie Merkel, die Existenz der Opfer, die Existenz der Widerstandskämpfer (die solidarisch und tapfer sind und lieben, aber dennoch leiden) und die Existenz der Täter. Diese Frau war nie eine Demokratin, sie versteht nicht, was das überhaupt ist- Wenn diese Frau abtritt, wird ein millionenfaches Plopp durch Deutschland gehen. Von den geköpften Sektflaschen zur Feier ihrer Abdankung.

toni Keller / 06.11.2019

Ich bin immer wieder erstaunt wie so ein unbedarftes Muttchen so lange dieses Land hier regieren darf. Sie redet als sei sie Lieschen Müller, dass fest daran glaubt, dass die da oben es doch nur gut meinen! Mittlerweile glaube ich, man will hierzulande einfach glauben, dass Gesellschaften nicht von Persönlichkeiten leben, man will hierzulande einfach glauben, dass es um Wichtig zu sein, nicht Charisma braucht, dass es nie und nimmer Personen mit Ideen sind, die Firmen, Gesellschaften, Völker vorwärts bringen, oder auf Irrwege bringen. Man will hierzulande glauben, dass das System so wie es ist, einfach wasserdicht, sicher und der Garant von Wohlstand und Glück für alle, einfach alle, ist. Und deshalb gibt es keine Kritik an Frau Bundeskanzler, weil es ja so ist, dass es nicht auf die Personen ankommt, sondern auf das System! Ich fürchte auch das wird durchexerziert werden bis zum Untergang, und dann wird man jemanden ein Flugzeug besteigen sehen, mit den hehren Worten “Aber ich habe euch doch alle lieb!”

Sylvia Ehrler / 06.11.2019

Ich hatte die Meldung der Kanzlerin, mit 60 wäre sie dann zu Besuch nach USA gegangen, auch schon an anderer Stelle gelesen und sie macht mich fassungslos. Erstens die “gelebte Gleichberechtigung der Frau” - durften Frauen in der DDR doch mit 60 in die Rente gehen, Männer erst mit 65! Und wovon hätte Frau Merkel den Aufenthalt beim “Klassenfeind” und die Flüge finanzieren wollen? Man konnte nicht einfach zur Bank und die Alu-Chips in harte Währung tauschen!

Dr. Karl Wolf / 06.11.2019

Eine Frau ohne jede Empathie, ohne jedes Mitgefühl. Die muß nur weg.

Dr. Günter Crecelius / 06.11.2019

Die Relotius-Postille hat schließlich einen Ruf zu verteidigen. Und da macht sich die GröKaz als Märchentante doch ausnehmend gut. Wer dieser Dame in diesem Blatt irgendetwas abnimmt, ist selbst schuld und dem ist auch nicht mehr zu helfen. Er soll weiter CDU wählen. Hoffentlich ist er jung genug, um noch die Rechnung mitbezahlen zu dürfen.

Dr. Inge Frigge-Hagemann / 06.11.2019

Korrektur: nicht 1 Mio. E-Autos bis 2030, es sollen lt. Merkel 7- 10 Mio. werden - mindestens. No comment.

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