Viele, die mit ihrer Kritik an den deutschen Zuständen an den rechten Rand gedrängt wurden, fragen sich: Wieso sollen wir jetzt denselben Politikern und Medien in Bezug auf die Ukraine glauben? Doch der Feind des Feindes muss keineswegs ein Freund sein. Eine Analyse der deutschen Ukraine-Debatte.
Seit drei Monaten gebe ich einmal in der Woche ehrenamtlich Deutschunterricht für eine Gruppe ukrainischer Flüchtlinge, acht bis zehn Frauen, deren Kinder eine Berliner Schule besuchen. Die Teilnehmerinnen stammen aus Charkow, Dnipro, Odessa und Schytomyr und sind bemerkenswerterweise ohne Ausnahme russische Muttersprachlerinnen. Natürlich verstehen sie auch Ukrainisch, aber Umgangssprache in ihren Familien und untereinander ist Russisch.
Mittlerweile können wir uns in einem Mix aus Russisch, Englisch und Deutsch ganz gut verständigen. Deshalb konfrontierte ich sie mit Erkenntnissen, die ich in sogenannten alternativen Medien gewonnen habe und die auch ihren Niederschlag in den Leserkommentarspalten der „Achse“ oder „Tichys Einblick“ gefunden haben. Dass dieser Krieg Russland vom „militärisch-industriellen Komplex der USA“, von der NATO und Klaus Schwab aufgezwungen wurde. Dass das korrupte Regime des Schauspielers Selenski durch seine Unterdrückung der „Russen“ im Osten der Ukraine Putins Angriff bewusst provoziert hat. Dass der Westen, allen voran die US-Amerikaner, viel Schlimmeres auf dem Kerbholz hat als Russland.
Die Teilnehmerinnen waren konsterniert von diesen für sie neuen „Informationen“, etwa dass sie durch ihre bloße Existenz das legitime Sicherheitsbedürfnis des russischen Nachbarn verletzt hätten, das sie die Zerstörung ihrer Heimatstädte, ihre Flucht nach Deutschland und den drohenden Tod ihrer immer noch für das ukrainische Marionettenregime kämpfenden Ehemänner (und Väter ihrer Kinder) mit völlig anderen Augen sehen müssten. Dass sie bis dato blind gegenüber der Tatsache gewesen seien, nicht Ukrainerinnen, sondern eigentlich Russinnen zu sein.
Mainstream gegen Mainstream
Nein, natürlich haben diese Frauen andere Sorgen, als sich mit den Kübeln voll Dreck zu beschäftigen, die verbal über ihrem Land ausgeschüttet werden – oft mit der Begründung, da die etablierte Politik und die Mainstream-Medien die Ukraine unterstützten, müsse wohl das Gegenteil richtig sein. Das ist in mehrfacher Hinsicht zu kurz gedacht, denn zum einen tut es so, als sei der russische Angriffskrieg ein Medienkonstrukt und nicht schreckliche Realität für Millionen Menschen. Zum anderen übersieht es die riesige Kluft zwischen Reden und Handeln, zwischen Anspruch und Wirklichkeit der deutschen Ukraine-Politik (und -Berichterstattung). Außerdem sind „Mainstream“ nicht nur die Medien, die im Übrigen in Sachen Ukraine keineswegs alle mit einer Stimme sprechen.
In Wahrheit ist es auch „Mainstream“, diesem Land, das gerade um seine schiere Existenz kämpft, seine Korruptionsanfälligkeit vorzuhalten. Es ist „Mainstream“, die angebliche Vorgeschichte des Krieges in den Fokus zu nehmen, den Krieg selbst mit seinen ungeheuren Verwerfungen hingegen kleinzureden. Es ist „Mainstream“, den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk ausweisen zu wollen, weil er so „unverschämt“ ist, die Heuchelei führender deutscher Politiker – insbesondere solcher von der SPD – beim Namen zu nennen. Es ist „Mainstream“, dem Angegriffenen die Abtretung eines bedeutenden Teils seines Staatsgebietes – darunter das industrielle Zentrum und die meisten Häfen – anzuempfehlen, ohne den er gar nicht lebensfähig wäre, ihn zu Friedensverhandlungen aufzurufen und dabei unerwähnt zu lassen, dass der Angreifer einen bedingungslosen Vernichtungskrieg gegen alles Ukrainische führt. Es ist „Mainstream“, zu unterschlagen, dass jedes Argument, das gegen die Ukraine vorgebracht wird (korrupt, unterdrückt Minderheiten, toleriert in ihren Streitkräften das nationalistische Asow-Regiment, unterhält geheime Biolabore etc.) doppelt und dreifach auf Russland zurückfällt.
Indem sie gnädig über den Balken in Putins Auge hinwegsehen, übernehmen diese Kritiker übrigens eine jahrzehntealte Obsession der Linken: die USA und den Westen für alles Böse dieser Welt verantwortlich zu machen – derselben Linken, die Anfang der 80er Jahre Atomkriegsangst schürte und Massendemonstrationen gegen amerikanische Pershing-Raketen organisierte, unter Ausblendung der Tatsache, dass diese als Reaktion auf die Stationierung sowjetischer SS-20 aufgestellt wurden. Schließlich ist es „Mainstream“ zu behaupten, viele Ukrainer würden mit fetten SUVs nach Deutschland kommen, um hier Sozialleistungen abzusahnen. So reden die deutschen Stammtische (womit keineswegs gesagt werden soll, dass die Stammtische nicht oft auch richtig liegen), und so denken viele deutsche Politiker, auch wenn ihre Lippenbekenntnisse ganz anders klingen.
Nicht unser Krieg?
„Nicht unser Krieg!“ – wirklich nicht? Angela Merkel hat mit ihrer Politik in den vergangenen 16 Jahren Schäden angerichtet, die aus heutiger Sicht kaum reparabel erscheinen, angefangen bei der „Eurorettung“ über die „Energiewende“ und „Flüchtlingskrise“ bis hin zum Corona-Management. Nun dringt ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit, dass sie Deutschland obendrein in eine fatale Abhängigkeit von russischem Erdgas geführt hat.
Und wenn Putin das zu seinem Angriff entscheidend ermutigt hat? Auch durch Unterlassung, Ignoranz und politische Naivität kann man mitschuldig werden. Im Falle Merkels und der mitregierenden, in Teilen putinhörigen SPD kommt wohl ein Denken in den Kategorien des Kalten Krieges hinzu, wonach die Ukraine automatisch in die russische Einflusssphäre gehöre oder zumindest als neutraler Pufferstaat zu dienen habe und deshalb kein Selbstbestimmungsrecht besitze.
Die „Nicht-unser-Krieg“-Fraktion diffamiert die Unterstützer der Ukraine als Kriegstreiber, weil diese sich berechtigte Sorgen machen, ein russischer Präsident, der sich selbst als Wiedergänger Peters des Großen sieht, könnte nach einem Sieg über die Ukraine Appetit auf mehr bekommen, etwa aufs Baltikum. Spätestens dann wäre es allerdings wegen der NATO-Beistandsverpflichtung auch ganz offiziell „unser Krieg“.
Divers oder Nazi
Mit der von Merkel postulierten Alternativlosigkeit ihrer Entscheidungen, die dem gleichzeitigen inflationären Gerede von Demokratie, Meinungsfreiheit und Vielfalt Hohn sprach, hat sie auch die Diskussionskultur in Deutschland zerstört. Im Ergebnis ihrer Regierungszeit gibt es nur noch schwarz oder weiß, richtig oder falsch, „divers“ oder „Nazi“, „solidarische Maßnahmenbefürworter“ oder „Coronaleugner“. Kaum begann der Hype um Corona endlich abzuebben, brach Putin den Krieg gegen die Ukraine vom Zaun. Deshalb fragen sich viele, die mit ihrer berechtigten Kritik an den skizzierten Zuständen an den rechten Rand gedrängt wurden: Wieso sollen wir jetzt denselben Politikern und Medien in Bezug auf die Ukraine glauben, die uns seit Jahren bei jedem anderen Thema immer nur ihre „alternativlose“ Sicht der Dinge servieren? Das macht die unerbittliche Spaltung in der Diskussion über die Ukraine-Politik verständlich, erklärt aber noch nicht die Verachtung vieler Liberal-Konservativer gegenüber einem Land, von dem die meisten vor dem 24. Februar 2022 wohl kaum mehr als den Namen kannten. Die Gründe dafür dürften weniger bei der Ukraine selbst als vielmehr in der deutschen Innenpolitik zu suchen sein.
Ein beträchtlicher Teil des bürgerlichen Mittelstandes, der die deutsche Gesellschaft durch seine Arbeitsleistungen und Steuerzahlungen am Laufen hält, ist – aus nachvollziehbaren Gründen – in einem Maße enttäuscht und entsetzt über die rasante Abwärtsentwicklung der letzten Jahre (Euro, Energie, Migration, innere Sicherheit, Bildung, Identitätspolitik, Kampf gegen „rechts“ und – nicht zu vergessen – die willkürlichen und demokratiefeindlichen, gesundheits- und wirtschaftsschädigenden Corona-Maßnahmen), dass sie diesem Staat und seinen Vertretern innerlich längst den Rücken zugekehrt haben. Wladimir Putin war für sie Gegengewicht und Hoffnungsträger. Er machte sich über „Genderwahn“ und „westliche Dekadenz“ lustig, gerierte sich als letzter Verteidiger des christlichen Abendlandes und seiner traditionellen Werte, schien klar Stellung gegen Islamisten zu beziehen, gab mit seinem „alternativen“ TV-Sender RT Deutsch den Kritikern des deutschen Corona-Managements ein Forum.
Nun stellt sich auf einmal heraus, dass er gar nicht „unser“ Freund war, sondern Schwächen und Mängel des Westens lediglich für die eigenen russischen Großmachtträume kalkuliert und instrumentalisiert hat. „Wir“ waren für ihn nur nützliche Idioten. Zu Enttäuschung über eine zerstobene Hoffnung kommt möglicherweise Neid auf die Ukraine als ein Land, das tapfer um seine nationale Existenz und kulturelle Identität kämpft und dessen Politiker sich rückhaltlos für die eigenen Interessen einsetzen. Da ist ein Präsident im Kampfanzug, der im Bunker übernachtet und mit Leib und Seele für sein Land einsteht. Da ist ein erfrischend undiplomatischer Botschafter, der Klartext redet statt Phrasen zu dreschen (auch wenn er manchmal danebenliegt). Nebenbei: Ein Ukrainer, der so gut Deutsch gelernt hat wie Andrij Melnyk und der den Mut hat, den Bundeskanzler treffenderweise als „beleidigte Leberwurst“ zu bezeichnen – wie sehr muss der im Grunde seines Herzens die Deutschen lieben!
Russlands ostasiatische Kolonialvölker werden verheizt
Seit dem 24. Februar 2022 gibt es eine neue Realität, an der niemand vorbeikommt. Putin hat den schlimmsten Krieg in Europa seit 1945 zu verantworten. Leidtragende sind zuallererst die Ukrainer. Zehn von 40 Millionen sind auf der Flucht. Der gesamte Osten dieses riesigen Landes ist entweder besetzt oder wurde dem Erdboden gleichgemacht (oder beides). Es kam zu massenhaften Plünderungen, Morden und Vergewaltigungen durch Angehörige der russischen Armee, die dafür von höchster Stelle noch belobigt wurden.
Zugleich werden unzureichend ausgebildete und bezüglich ihres Einsatzes in die Irre geführte russische Wehrpflichtige von Putin als Kanonenfutter verheizt – ähnlich übrigens wie nationale Minderheiten. Die Bevölkerung in Russland leidet unter den westlichen Sanktionen. Russische Künstler im Westen leiden unter „Cancel Culture“. Und was in Folge des Krieges, vor allem aber aufgrund vorheriger falscher politischer Weichenstellungen an Entbehrungen auf die deutsche Bevölkerung zukommt, ist ebenso wenig abzusehen wie ein Ende der Kämpfe. Fest steht nur: Der 24. Februar war tatsächlich eine „Zeitenwende“, und auf absehbare Zeit wird es für keine Seite mehr ein Zurück vor dieses Datum geben.
Wer jetzt noch auf dem Asow-Regiment und der fehlerhaften Sprachenpolitik der jungen Ukraine herumreitet, kämpft daher die Kämpfe von gestern und verabschiedet sich aus dem politischen Diskurs. Alle, die auf grundlegende Veränderungen in Deutschland hoffen, sollten stattdessen die Chancen, die die neue Lage bietet, erkennen. Am dringlichsten ist eine kritische Aufarbeitung der skandalösen Energiepolitik der letzten Jahre (von CDU, SPD, Grünen und deren Vorfeldorganisationen), die hauptverantwortlich dafür ist, dass ab Herbst hier möglicherweise ganze Industriezweige zusammenbrechen und viele Leute schon jetzt nicht mehr wissen, wie sie ihre Einkäufe und Gasrechnungen bezahlen sollen. Grüne Denkverbote müssen schnell aufgehoben werden, um in letzter Minute eine Wende der „Energiewende“ zu ermöglichen. Mit seinem Krieg hat Putin wider Willen erreicht, dass der von ihm als schwächlich und dekadent verachtete Westen (dabei besonders Deutschland) nach drei Jahrzehnten wieder über Sicherheits- und Geopolitik, über Wehrfähigkeit, eigene Interessen und nicht zuletzt auch über die eigenen Grundwerte nachdenkt.
Auf einmal verschwinden alle Länder zwischen Deutschland und Russland
Die Annäherung der Ukraine an die EU mit dem Ziel einer späteren Mitgliedschaft würde helfen, den historisch bedingten blinden Fleck der (West-)Deutschen in Bezug auf Osteuropa zu schließen. Sobald es um die deutsch-russischen Beziehungen gehe, verschwänden alle Länder zwischen Deutschland und Russland oft auf magische Weise aus dem Blick, konstatiert Artur Weigandt in der „Welt“. Die Verlagerung des Schwerpunktes der EU nach Osten könnte der deutschen Politik zu einer differenzierteren Sicht auf die als „rechtspopulistisch“ abgestempelten Schmuddelkinder Polen und Ungarn verhelfen. Sie könnte auch für eine heute noch undenkbare Aussöhnung mit einem Russland nach Putin von Bedeutung sein.
Was die Aufnahme von bisher einer knappen Million ukrainischer Flüchtlinge in Deutschland betrifft, dürfte der Nutzen längerfristig die Kosten überwiegen. Diese (zumeist) Frauen und Kinder – so sie denn für längere Zeit bleiben wollen oder müssen – sind in der Regel bildungsaffin und bereit zur schnellen Integration in den deutschen Arbeitsmarkt und die deutsche Gesellschaft.
Den Kampf gegen rechts hat die Sowjetunion erfunden
Spätestens am Beispiel der russischen Begründung des Angriffskrieges gegen die Ukraine sollte die Verlogenheit des hiesigen „Kampfes gegen rechts“, der in den Merkeljahren in die Hände von Linksextremisten gelegt wurde, seitdem mit jährlich über einer Milliarde Euro vom Steuerzahler finanziert und heute von einer ideologisch verblendeten Innenministerin verstärkt weitergeführt wird, auch dem Letzten klar geworden sein: So wie Putin den sowjetischen Widerstand gegen Hitler für seine Zwecke missbraucht, wird in Deutschland seit Jahren die „Nazikeule“ instrumentalisiert, um Kritiker der Migrations-, Klima- und Coronapolitik mundtot zu machen.
Wir selbst sollten nun, da die bleierne Zeit der „alternativlosen“ Entscheidungen einer Angela Merkel endlich vorbei ist, sowohl in unseren eigenen Kreisen als auch darüber hinaus einen Diskussionsstil pflegen, der einen sachlichen Austausch unterschiedlicher Meinungen ermöglicht und auf persönliche Diffamierungen verzichtet. Für den Konflikt um die Ukraine würde das bedeuten, jeweils Andersdenkende weder als „Putinversteher“ noch als „mainstreamhörig“ abzuqualifizieren.