Gunnar Heinsohn / 04.10.2019 / 12:00 / Foto: Pixabay / 22 / Seite ausdrucken

Menschheit ohne Berufungsinstanz

Ein von London in Gibraltar festgesetzter iranischer Öltanker wird Ende September nach dem Versprechen der Mullahs wieder freigegeben, dass seine Ladung nicht an das – wegen Massenmord – unter UN-Embargo stehende Syrien gehe. Nach Ausweis amerikanischer Satellitenbilder vom 1. Oktober 2019 aber geschieht genau dieses. US-Außenminister Pompeo begleitet die Fotos mit einem Tweet: "Entgegen der Zusage des iranischen Außenministers Zarif an das Vereinigte Königreich, dass die AdrianDarya1 ihr Öl nicht Syrien überlasse, wird es direkt vor der syrischen Küste transferiert. Wird die Welt den Iran dafür zur Verantwortung ziehen, dass dieses Öl nach Syrien geliefert wird?"

Großbritannien – als vorletzte, 1918 abgelöste Führungsmacht – kann niemanden mehr zur Verantwortung ziehen. Pompeos Amerika, das seitdem als Ordnungsmacht letzter Hand gedient hat, will nicht mehr zuständig sein. Wer oder was nunmehr „die Welt“ sein könnte, wird nicht einmal angedeutet. Allerdings besucht Pompeo am 2. Oktober den Vatikan. Dessen ungeachtet, hat die Menschheit keine Berufungsinstanz mehr – weder eine, die sie fürchten müsste, noch eine, auf die sie hoffen könnte. All den Regimen, die sich Massenvernichtungswaffen zulegen, fällt niemand mehr in den Arm. Fasziniert, verstört, aber auch siegestrunken beobachten die Völker die durchaus zögerlichen, aber doch unaufhaltsamen Absetzbewegungen Amerikas von dieser Rolle.

Wie steht es um das Land zwischen Boston und San Francisco? 1945 besiegt es – mit nicht einmal 140 Millionen Einwohnern ­– die Großmächte Japan und Deutschland, während es die Supermächte Stalins und Churchills über Wasser hält. Noch 1968, als seine Studentenproteste elektrisieren, liefert es zwei Fünftel des Weltsozialprodukts. Bis 2018 sinkt es auf ein Fünftel. Bei der Kaufkraft sind es sogar nur noch 15 Prozent.

Amerikas Africans und Hispanics – 130 der 330 Millionen Bürger – leben in Haushalten, die bei Not nicht einmal 2.000 Dollar Ersparnisse zur Verfügung haben. Obwohl auch sie bei den Kinderzahlen heruntergehen, schenken sie der Nation inzwischen die Hälfte aller Neugeborenen und lange schon die meisten Schulversager. In einer großen Krise müssen 50 Prozent des Nachwuchses und 40 Prozent der Gesamtbevölkerung mit Hilfsprogrammen abgesichert werden. Solche Aussichten beflügeln Träume einer white supremacy nur selten. Inspirieren könnten sie hingegen Sezessionsphantasien à la Katalonien oder Norditalien, wo man ökonomisch noch starke Regionen durch Einhegung in die Zukunft retten will.

10 Millionen Bürger aus China, Korea und Japan

Die 200 Millionen amerikanischen Whites und East Asians verzeichnen die niedrigste Kinderzahl und – mit 44 Jahren – das höchste Durchschnittsalter ihrer Geschichte. Immerhin gibt es unter ihnen 10 Millionen Bürger aus China, Korea und Japan. Ihre Kinder können es mit dem Nachwuchs ihrer ostasiatischen Herkunftsgebiete durchaus aufnehmen. Aber sonderlich viele von ihnen gibt es nicht, weil gerade die Höchstqualifizierten am stärksten gefordert werden und deshalb am wenigstens Zeit für Nachwuchs aufbringen können.

China – als wuchtigster Herausforderer Washingtons – hat zwar „nur“ viermal so viele Einwohner wie die USA, aber mindestens achtmal so viele Kinder in der höchsten mathematischen Leistungsstufe bzw. mit MINT-Abschlüssen. Überdies sind die bald 1,4 Milliarden Han-Chinesen, mit einem Durchschnittsalter von 38 Jahren merklich jünger als jene knapp 200 Millionen Amerikaner, die den Zivilisationskarren bisher abgeschirmt haben. Von ihren Kindern schaffen 40 Prozent Hochschulabschlüsse. Damit stehen sie zwar knapp vor Africans (30 Prozent) und deutlich vor Hispanics (20 Prozent), aber weit hinter East Asians (über 60 Prozent). Woher sollen da die Begabungen, Massen und stürmischen Dränger kommen, die das Blatt noch einmal wenden könnten?

Immerhin gelten Flotte und Luftwaffe der USA noch als konkurrenzlos. Doch selbst die Prunkstücke der Air Force, Tarnkappenbomber vom Typ F 35, müssten ohne spezielle Leiterplatten (circuit boards) der Firma PCB aus Shenzhen am Boden bleiben. Im Zweiten Weltkrieg verliert die US Navy zwölf Flugzeugträger und denkt doch niemals an Aufgabe. Heute wären die Gefallenen auch nur eines Trägers einzige Söhne oder gar einzige Kinder ihrer Mütter. Solche Verluste werden in vergreisenden Nationen nicht mehr ausgehalten.

Jemals wieder als Weltpolizist zur Verfügung stehen?

Von Amerikas Nachwuchs hängt ab, was die große Demokratie in der Zukunft noch vermag. Schaut man auf die Kinder unter 15 Jahren, so stehen 2020 den gut 60 Millionen amerikanischen (32 Prozent übergewichtig) knapp 140 Millionen im arabischen, 160 Millionen im südamerikanischen und 460 Millionen im Subsahara-Raum gegenüber. Bei der nicht nur demografischen, sondern auch wirtschaftlichen und militärischen Konkurrenz in China sind es fast 250 Millionen. Kann da verwundern, dass fast die Hälfte der US-Millennials (Jahrgänge 1981–1994) und der Generation Z (Jahrgänge 1995–2015) schon heute lieber im Sozialismus als im Kapitalismus leben würden?

180 Millionen Latinos wollen momentan in die USA übersiedeln. Ihre eigenen Nationen erleiden einen vorzeitigen Verlust ihrer Industrien, die durch bessere und preiswertere Produkte aus China ausgelöscht werden. Für Gegenstrategien mit Hightech und Künstlicher Intelligenz fehlen ihnen die Talente. Die dequalifizierten Neubürger unterminieren die Wettbewerbsfähigkeit der USA noch zusätzlich. Wie sollten die Amerikaner bei solchen Belastungen und Relationen jemals wieder als Weltpolizisten zur Verfügung stehen?

Eine englische Version dieses Beitrages finden sie hier. An english version of this article can be found here.

Gunnar Heinsohn (*1943) hat von 2011 bis 2019 Kriegsdemographie am NATO Defense College (NDC) in Rom gelehrt. In Stavanger hat er 2018 das Grundsatzreferat zum 15. Geburtstag des Joint Warfare Center (JWC) der NATO gehalten.

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Stefan Weyhenmeyer / 04.10.2019

man kann es den Deutschen auch nie recht machen: erst beschweren sie sich in 70 Jahren Nachkriegsgeschichte immer über die imperialistischen Amerikaner. Und kaum können oder wollen die nicht mehr Weltpolizist spielen, ist es auch nicht recht. Denn jetzt fällt plötzlich auf, dass die Deutschen gar kein eigenes Konzept haben…

Margit Broetz / 04.10.2019

Nun Herr Heinsohn, so sehr ich auch Ihre Einsichten schätze, die USA sind nicht nur gewesener Weltpolizist sondern auch Vater vieler Angriffskriege und Völkermorde (z.B. Ost-Timor, Guatemala), die mit teilweise sehr scheinheiligen hehren Begründungen geführt oder von den Medien ignoriert wurden, und ganze Kulturen, die auf einem guten Weg in die Moderne waren, in die Steinzeit zurückgebombt haben. Mit Menschenrechten oder Bekämpfung von Terrorismus hat das nur auf der Titelseite zu tun. Man kann ja Fotos googeln, wie es z.B. in Afghanistan 1975 aussah! Angesichts der realen Situation in Syrien finde ich es auch heuchlerisch, dem Iran vorzuschreiben, mit wem gehandelt werden darf und mit wem nicht. (Nur zur Vermeidung von Mißverständnissen: daß das Mullah-Regime überall Terror-Gruppen unterstützt will ich nicht beschönigen. Ob die Welt aber besser ist, wenn die USA mit Iran so verfahren, wie mit Irak?).

Robert Schleif / 04.10.2019

Na, und? So ist der Lauf der Geschichte: Großmächte kommen und gehen – ob man nun darüber heult, oder nicht. Ob Ägypter, Makedonier, Römer, Türken, Engländer, Franzosen oder US-Amerikaner: War es nun der Weltuntergang, dass sie irgendwann ihre Hegemonie eingebüßt haben? Hätten die barbarischen Fremdvölker den historischen Machtwechsel besser mit höflichem „Sie-Werden-Entschuldigen-Wollen“ und Serviette vorm Maul, als mit grober Gewalt herbeiführen sollen? Und außerdem: Gerade vor dem Beispiel des Iran und Syriens betrachtet, ist der absehbare Verlust der USA als Weltpolizist ein wahrer Segen. Für uns als die doofen humanitären Ausputzer des Weltimperialismus sowieso!

Paul Braun / 04.10.2019

Die physische Kraft der USA schwindet in dem Maße wie ihre psychische Kraft verloren geht. Die Seele der USA befindet sich in einem nie dagewesenen Rückzugsgefecht. Dabei ist Vielen noch gar nicht klar, von welchen Seiten sie überall angegriffen wird. Vielleicht gelingt es Trump ihr wieder Halt zu geben. Doch warum sollten die USA - eingedenk ihrer Zerrissenheit - noch Opfer (Menschen, Geld, Ehre) auf sich nehmen, wenn ihnen dafür nichts gegeben wird als Schimpf und Schande? Das zermürbt den Stärksten – sofern er eine Seele hat. Die USA müssen sich wieder fangen, sich selber finden.

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