Lang ist's her. Aber ich hatte als junger Reporter öfter mal die Ehre und manchmal auch das Vergnügen, die Aktivitäten der Jungsozialisten zu beobachten und zu beschreiben. Es waren die wilden Jahre, als Wolfgang Roth, Norbert Gansel und Karsten Voigt noch Rebellen waren. Diese Vorstands-Rebellen mit höherer Bildung brauchten – man war ja Retter der Arbeiterschaft - dringend einen echten Arbeiter für ihre Führungsriege. Aber woher nehmen? Zum Glück gab es einen gewissen Loke Mernitzka, einen Mann mit etwas schwerer Zunge und eindrucksvoll breitem Siegerländer „R“. Er war ein Geschenk des Himmels für die akademischen Jugend der Arbeiterpartei.
Aber Loke war eine einsame Gestalt. Zwischen ihm und dem übrigen Vorstand mit seinen universitären Spitzfindigkeiten und politischen Fliegenbeinzählereien um Stamokap und Antirevisionisten klaffte ein Abgrund, der die kommenden Abgründe der Sozialdemokratie vorwegnahm. Die ehemalige Arbeiterpartei verwandelte sich unaufhaltsam in Richtung einer theoretisierenden Lehrerpartei.
Irgendwie war das ja auch der Lauf der Zeit. Der Bestand an klassischen Arbeitern mit den entsprechenden Händen schrumpfte und die jungen Revolutionäre strebten nach den wilden Studienjahren direkt in die Pensionsberechtigung und die bürgerliche Mitte. Das ging besser als gedacht: Ihr Marsch durch die Institutionen bewirkte, das sich die Bürgerlichkeit selbst freundlich nach links lehnte, um teilzuhaben an der Sonne des besseren Menschentums.
Als hätten sie soeben ein Känguru am Südpol gesichtet
Gelegentlich setzte sich trotzdem noch einer als Pragmatiker ohne zweites juristisches Staatsexamen durch und schaffte es als einfacher Buchhändler und späterer Journalist zum Ministerpräsidenten und sogar zum Bundespräsidenten. Johannes Rau verfügte - anders als viele Jura-Politiker - über eine umfassende literarische Bildung. Und er war – erstaunlicher noch – ein geistreicher Plauderer.
So, und damit kommen wir endlich zur eigentlichen Sache. Wir schreiben das Jahr 2017 und da taucht doch bei der SPD wieder so ein Exot auf. "Er hat kein Abitur!", schrieben und riefen Journalisten in Print und Funk erstaunt, als hätten sie soeben ein Känguru am Südpol gesichtet. Das ist zwar komisch, aber man muss es verstehen: Hatten die jungen Genossen schon in den siebziger Jahren Schwierigkeiten, nicht akademisches Führungspersonal zu finden, so ist das Abitur inzwischen zu einer Art Führerschein für fast alle geworden. Kein Abitur? Diese Lebensform scheint allmählich zu einer bedrohten Art zu werden. Etwas für den Bund Naturschutz.
Zum Glück gibt es aber immer noch ein paar kluge Burschen und Mädels, die den Schritt ins Handwerk wagen, Spaß am Beruf haben, ordentlich Geld verdienen und sich nicht von einem Praktikum zum nächsten quälen. Aber das nur am Rande.
Jedenfalls kommt dieser Martin Schulz mit seinem nur mittleren Reifezeugnis daher, als schrieben wir 1957 und nicht 2017. Und wieder ist es ein Buchhändler. Und wieder einer, der reden kann, dass den Genossen Tränen des Glücks in die Augen treten. Und als Buchhändler kennt er sich nicht nur mit juristischen sondern noch viel besser mit Texten der Literatur aus. Sogar mit der italienischen. Der Gattopardo von Lampedusa soll einer seiner Lieblingsromane sein. Und mehrere Sprachen spricht er auch noch.
Gebildeter als seine politischen Kollegen mit ermogeltem Doktortitel
Ja, gibt’s denn sowas! Kein Abi und gebildeter als seine politischen Kollegen mit oder ohne echten oder ermogelten Doktortitel. Und obendrein macht er der ewigen Kanzlerin und gelernten Physikerin auch noch ernsthaft Konkurrenz, jedenfalls fürs Erste. Kaum zu fassen.
Falls das alles so klingt, als sei ich ein Martin-Schulz-Fan: Bin ich nicht. Aber ich finde es gut, wenn einer aus dem politischen Einheitsbrei herausragt. Mir hat damals auch der Loke Mernitzka besser gefallen als die übrigen Arbeiterbeglücker des Juso-Vorstands, die nur einen einzigen Arbeiter persönlich kannten, nämlich ihren Loke.
Eine andere Frage ist, ob Schulz hält, was er verspricht. Das kann man natürlich erst sagen, wenn man weiß, was er verspricht. Bisher hat er nur viel gesprochen. Das kann er allerdings besser als die Naturwissenschaftlerin.