Rainer Bonhorst / 08.02.2017 / 06:15 / Foto: Dutch National Archives / 12 / Seite ausdrucken

Mensch, der hat kein Abitur

Lang ist's her. Aber ich hatte als junger Reporter öfter mal die Ehre und manchmal auch das Vergnügen, die Aktivitäten der Jungsozialisten zu beobachten und zu beschreiben. Es waren die wilden Jahre, als Wolfgang Roth,  Norbert Gansel und Karsten Voigt noch Rebellen waren. Diese Vorstands-Rebellen mit höherer Bildung brauchten – man war ja Retter der Arbeiterschaft - dringend einen echten Arbeiter für ihre Führungsriege. Aber woher nehmen? Zum Glück gab es einen gewissen Loke Mernitzka, einen Mann mit etwas schwerer Zunge und eindrucksvoll breitem Siegerländer „R“. Er war ein Geschenk des Himmels für die akademischen Jugend der Arbeiterpartei.

Aber Loke war eine einsame Gestalt. Zwischen ihm und dem übrigen Vorstand mit seinen universitären Spitzfindigkeiten und politischen Fliegenbeinzählereien um Stamokap und Antirevisionisten klaffte ein Abgrund, der die kommenden Abgründe der Sozialdemokratie vorwegnahm. Die ehemalige Arbeiterpartei verwandelte sich unaufhaltsam in Richtung einer theoretisierenden Lehrerpartei.

Irgendwie war das ja auch der Lauf der Zeit. Der Bestand an klassischen Arbeitern mit den entsprechenden Händen schrumpfte und die jungen Revolutionäre strebten nach den wilden Studienjahren direkt in die Pensionsberechtigung und die bürgerliche Mitte. Das ging besser als gedacht: Ihr Marsch durch die Institutionen bewirkte, das sich die Bürgerlichkeit selbst freundlich nach links lehnte, um teilzuhaben an der Sonne des besseren Menschentums.

Als hätten sie soeben ein Känguru am Südpol gesichtet

Gelegentlich setzte sich trotzdem noch einer als Pragmatiker ohne zweites juristisches Staatsexamen durch und schaffte es als einfacher Buchhändler und späterer Journalist zum Ministerpräsidenten und sogar zum Bundespräsidenten. Johannes Rau verfügte - anders als viele Jura-Politiker - über eine umfassende literarische Bildung. Und er war – erstaunlicher noch – ein geistreicher Plauderer.

So, und damit kommen wir endlich zur eigentlichen Sache. Wir schreiben das Jahr 2017 und da taucht doch bei der SPD wieder so ein Exot auf. "Er hat kein Abitur!", schrieben und riefen Journalisten in Print und Funk erstaunt, als hätten sie soeben ein Känguru am Südpol gesichtet. Das ist zwar komisch, aber man muss es verstehen: Hatten die jungen Genossen schon in den siebziger Jahren Schwierigkeiten, nicht akademisches Führungspersonal zu finden, so ist das Abitur inzwischen zu einer Art Führerschein für fast alle geworden. Kein Abitur? Diese Lebensform scheint allmählich zu einer bedrohten Art zu werden. Etwas für den Bund Naturschutz.

Zum Glück gibt es aber immer noch ein paar kluge Burschen und Mädels, die den Schritt ins Handwerk wagen, Spaß am Beruf haben, ordentlich Geld verdienen und sich nicht von einem Praktikum zum nächsten quälen. Aber das nur am Rande.

Jedenfalls kommt dieser Martin Schulz mit seinem nur mittleren Reifezeugnis daher, als schrieben wir 1957 und nicht 2017. Und wieder ist es ein Buchhändler. Und wieder einer, der reden kann, dass den Genossen Tränen des Glücks in die Augen treten. Und als Buchhändler kennt er sich nicht nur mit juristischen sondern noch viel besser mit Texten der Literatur aus. Sogar mit der italienischen. Der Gattopardo von Lampedusa soll einer seiner Lieblingsromane sein. Und mehrere Sprachen spricht er auch noch.

Gebildeter als seine politischen Kollegen mit ermogeltem Doktortitel

Ja, gibt’s denn sowas! Kein Abi und gebildeter als seine politischen Kollegen mit oder ohne echten oder ermogelten Doktortitel. Und obendrein macht er der ewigen Kanzlerin und gelernten Physikerin auch noch ernsthaft Konkurrenz, jedenfalls fürs Erste. Kaum zu fassen.

Falls das alles so klingt, als sei ich ein Martin-Schulz-Fan: Bin ich nicht. Aber ich finde es gut, wenn einer aus dem politischen Einheitsbrei herausragt. Mir hat damals auch der Loke Mernitzka besser gefallen als die übrigen Arbeiterbeglücker des Juso-Vorstands, die nur einen einzigen Arbeiter persönlich kannten, nämlich ihren Loke.

Eine andere Frage ist, ob Schulz hält, was er verspricht. Das kann man natürlich erst sagen, wenn man weiß, was er verspricht. Bisher hat er nur viel gesprochen. Das kann er allerdings besser als die Naturwissenschaftlerin.  

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Leserpost

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Hans Denker / 08.02.2017

Top, die Wette gilt: Schulz wird am 24.09. Merkel ablösen. Alles andere wäre für mich eine Überraschung (obwohl auch ich kein Schulz-Fan bin!).

Hermann Kanther / 08.02.2017

Ob Herr Schulz gebildet ist oder nicht, kann man anhand seiner Angaben zum Lieblingsbuch schwerlich ergründen. Denn zum einen ist dergleichen leicht gesagt, zum anderen heißt das nicht, dass er die Literatur auch hinreichend verstanden hat. Es ist aber auch ziemlich egal: Für politische Entscheidungen ist Belletristik nicht wirklich hilfreich. Kenntnisse in Betriebs- und Volkswirtschaft wären zum Beispiel deutlich wertvoller. Auch die MINT-Fächer wären von Nutzen. Und sei es nur um des strukturierten Denkens willen. Daneben scheint mir, dass die SPD-Anhänger die fehlende schulische/akademische Ausbildung in einen Vorteil verwandeln wollen. Das geht aber nun wirklich zu weit. Denn dass eine gute Ausbildung für´s Leben besser ist als die von Herrn Schulz, sollte doch wohl klar sein. Das heißt nicht, dass jeder Akademiker jedem mit Mittlerer Reife intellektuell und praktisch überlegen ist; wenn wir Bildung für wichtig halten, muss das aber doch tendenziell richtig sein. Und daher kann man das auch Herrn Schulz ankreiden. Nicht, dass der Doktortitel der Kanzlerin sich in ihrer Regentschaft bemerkbar gemacht hätte, aber es geht ja ums Prinzip.

Karl Krumhardt / 08.02.2017

Bitte, Merkel als Naturwissenschaftlerin zu bezeichnen mag formal vielleicht richtig sein, weil sie vor ueber 30 Jahren mal in einem naturwissenschaftlichen Fach taetig war, aber angesichts dessen, was diese Frau aktuell macht bzw. nicht macht ist das eine Beleidigung fuer jeden ehrlichen Naturwissenschaftler.

Karla Kuhn / 08.02.2017

“Und wieder einer, der reden kann, dass den Genossen Tränen des Glücks in die Augen treten.”  Den Genossen, das glaube ich, die sitzen so tief im Keller, daß ihnen Schulz wahrscheinlich als Messias vorkommt. Allerdings treten mir und meinen Freunden und vielen Bekannte keine “Tränen des Glücks in die Augen” wenn wir Schulz reden hören. Mittlerweile hören wir uns sein Gerede gar nicht mehr an.  Es zweifelt ja auch keiner an, daß er reden kann, nur was sagt, ergibt für mich keinen Sinn. Und vor allem, wie will er das überhaupt realisieren ?? Keine Antwort.  Reden können sehr viele, nur am Inhalt mangelt es ebenfalls vielen.

Petra Wilhelmi / 08.02.2017

Okay, Sie hätten vollkommen recht, wenn ein gewisser Herr Schulz auch ohne Abi mit viel Wissen, Allgemeinbildung und wirklich Erfahrungen als Buchhändler daher käme. Dem ist aber nicht so. Sicherlich Buchhändler. Aber wo? In einer kleinen Klitschenbuchhandlung, die seine Schwester aufgemacht hat und ihn als Teilhaber genommen hat. Ich weiß jetzt nicht, was dran ist, dass er seine Lehre nicht abgeschlossen hätte, ist mir auch egal. Er ist mir niemals mit wirklicher Haltung zu Deutschland, zu den arbeitenden Menschen hier aufgefallen. Er ist eher einer von vielen Absahnern in der EU aufgefallen. Er ist mir durch Klüngelei in der EU aufgefallen und mit der irren Idee einen Eurostaat zu bilden. Mit viel Durchblick ist er mir auch nicht aufgefallen. Sicherlich Abi muss nicht sein, aber Allgemeinbildung, Wissen in Wirtschaft, Wissen, wie eine Gesellschaft funktioniert, viel eigenes Lernen, das wäre schon wünschenswert für einen BK. Mit Blubberblasen kann kein Land geleitet werden. Dass er für viele/einige als toller, lustiger Mensch rüberkommt, kann doch wohl nicht der Maßstab für einen BK sein. Wir leben in sehr speziellen Zeiten. Da bedarf es schon einen klugen Menschen und keinen Möchtegern.

Arne Busch / 08.02.2017

Bei nahezu jedem Politiker in Regierungsposition lautet meine Reaktion: “Mensch, der ja nicht die geringste Ahnung!”

Michael Scheffler / 08.02.2017

Selbst, falls er gebildet sein sollte, was ich zu bewzeifeln wage, denn den Arbeiterführern in der DDR wurde ja auch Selbiges nachgesagt und beim näheren Hinsehen… Aber lassen wir das. Er ist ein absolut unsympathischer EU-Apparatschik

Uta-Marie Assmann / 08.02.2017

In einem Punkt will ich widersprechen: es gibt keinerlei Hinweise darauf - am allerwenigsten in seinen Interviews -, dass Martin Schulz ein sogenannter ‘gebildeter’ Mensch ist. Dazu reichen weder die Tätigkeit eines Buchhändlers noch das Lesen des ‘IL GATTOPARDO’ aus. Auch hätte ich den Herrn zu gerne einmal in einer der fünf Sprachen reden gehört, die er zu beherrschen behauptet - Englisch ausgenommen. Ich halte Martin Schulz für einen Vertreter des heute bedauerlicherweise so verbreiteten Politikertyps des Egomanen mit eher mediokren Fähigkeiten. Endgültig vorbei sind die Zeiten der Brandts und Schmidts.

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