Jesko Matthes / 16.02.2020 / 11:00 / Foto: Pixabay / 18 / Seite ausdrucken

Meine vergebliche Flucht auf die Vogelweide

Mein erster Schwiegervater in spe war Lehrer, Germanist. Er leitete ein Studienseminar. Heinrich, denn so heißt er passenderweise, war hin- und hergerissen zwischen Deutschland und Italien, imstande, zur passenden und, voll beißender Ironie, auch zur unpassenden Situation plötzlich Trakl, Rilke, Claudius, Gryphius und Den von dem Kürenberg zu zitieren – oder mit typisch deutscher Leidenschaft von Florenz zu schwärmen, von Giotto, Donatello, Botticelli, Fra Filippo Lippi, denn in der Kunst der Renaissance kannte er sich genauso gut aus; und an den Ufern des Arno brauchte man keinen einheimischen Führer.

Seiner schönen Tochter, la figlia del professore, die ich liebte, hatte er diese Leidenschaften vererbt. Sie sprach, an der Eisdiele hinter dem Ponte Vecchio ihr Eis schleckend, von der ewigen Sehnsucht der Deutschen nach Italien, Kennst du es wohl, von der Begehrtheit der blonden Langobardenmädchen unter der Sonne Italiens und dem Begehren ihres südländischen Liebhabers mit der Römernase. Wir lachten, denn auf uns beide passte das sehr gut. Prompt wurde ich auf Italienisch angesprochen und nach dem Weg gefragt. Ich verstand – und wusste ihn nicht.

Das ist ein Schatz, auf den ich bis heute dankbar zurückgreifen kann, auch wenn ich den damaligen „Schatz“ zuletzt unter halb dramatischen – also vollends lächerlichen – Umständen doch nicht geheiratet habe, und wir, Heinrich und ich, uns auf sehr unliterarische und wenig kultivierte Weise darob gegenseitig anschrien; das ist über zwanzig Jahre her. Mein Dank für die Erweiterung meines Horizonts und meine Neigung, mich mittels Literatur und Kunst aus dem Alltag zu flüchten, sind geblieben.

Walthers Welt ist tatsächlich untergegangen

Als alternder weißer Mann will ich also vor dem Alltag, vor allem jenem immer zweifelhafter werdenden politischen, entfliehen. Ich greife ins Bücherregal. Heinrich liebte das Mittelhochdeutsche und sprach es fließend. Ich schlage den entsprechenden Band auf und stoße prompt auf ein Gedicht des Walther von der Vogelweide, entstanden gegen Ende seines Lebens. Walther muss da, zwischen 1220 und 1230, selbst Mitte, Ende fünfzig gewesen sein. Wie ich. Da mir die trockene Prosa der Übersetzung in dem Band nicht gefällt, versuche ich es selbst. – Ha! Mit ein wenig Gebastel muss ich der Schönheit der alten Sprache Walthers nur an ein oder zwei Stellen ein wenig Gewalt antun, die mir Heinrich und die Germanisten verzeihen mögen, und schon klingt es rhythmisch und einigermaßen verständlich.

Doch, ach!, die Enttäuschung naht, schon während ich das herrliche Gedicht übertrage: Es ist das elegische Machwerk eines alten, weißen und offenbar stockkonservativen Mannes – sentimental, altersmüde ohne Milde, selbstkritisch bis zum Selbstmitleid, voller Zweifel an der Jugend, den Bürgern und den Obrigkeiten, der Innen- wie der Außenpolitik. Als würde die Welt untergehen. Na, ganz so verkehrt ist das freilich nicht: Walthers Welt ist tatsächlich untergegangen. Oder doch nicht?

Herr Walther von der Vogelweide

O weh, wo sind verschwunden alle meine Jahr?

Ist mein Leben mir geträumet oder ist es wahr?

Das ich je wähnte, was echt wäre, war das echt?

Danach hab ich geschlafen und ich weiß nicht recht.

Nun bin ich erwachet, und ist mir unbekannt,

was mir hiervor war kundig wie meine andre Hand.

Leute und das Land, darin ich von Kinde bin erzogen,

die sind mir fremd geworden, als wären sie erlogen,

die mir Gespielen waren, die sind träge und sind alt.

Bereitet ist das Feld, gefället ist der Wald.

Wenn nicht das Wasser flösse als es weiland floss,

fürwahr, so käm‘s, ich wähnte, mein Unglück würde groß.

Mich grüßet mancher träge, der mir bekannt war wohl.

Die Welt ist allenthalben von Ungenade voll.

Als ich gedenke an manchen wonniglichen Tag,

die mir sind entfallen als in das Meer ein Schlag,

immer mehr. O weh!

 

Oh weh, wie jämmerlich nun die jungen Leute sind,

den‘ so viel wonniglich Tun war ihres Geistes Kind,

die kennen nur noch Sorgen, oh weh, wie tun sie so?

Wie mich die Welt auch kehre: Da ist niemand froh.

Tanzen, Singen, zergeht mit Sorgen gar,

nie Christen ha‘n gesehen so jämmerliche Jahr.

Nun merket, wie den Frauen ihre Haarpracht steht,

die stolzen Ritter tragen sich wie‘s Bäuerlichen geht.

Uns sind unsanfte Briefe her von Rom gekommen,

uns ist erlaubet Trauer, und Freude gar genommen.

Das müht mich innerlich sehre – wir lebten einst sehr wohl -,

dass ich nun für mein Lachen Weinen haben soll.

Die wilden Vögel betrübet unsre Klage.

Was Wunders ist‘s, dass ich davon verzage?

Was sprech‘ ich tumber Mann in meinem bösen Zorn?

Wer hier der Wonne nachjagt, der hat sie dort verlor‘n.

Immer mehr, o weh!

 

Oh weh, zu reich an süßen Dingen war das Leben,

ich seh die bittre Galle mitten in dem Honig schweben.

Die Welt ist außen schöne, weiß, grün und rot,

und innen schwarzer Farbe, finster wie der Tod.

Wen sie nun verleitet habe, der suche seinen Trost,

er wird mit schwacher Buße von großer Sünd‘ erlost.

Daran gedenket, Ritter, es ist euer Ding:

Ihr tragt die lichten Helme und manchen Rüstungsring,

dazu die festen Schilde und die gewicht‘gen Schwert‘.

Wollte Gott, ich wäre dieser Siege wert!

So wollt ich armer Mann verdienen reichen Sold,

doch mein ich nicht die Höfe noch der Herren Gold.

Ich wollte diese Krone ewiglich hin tragen,

die mocht‘ ein Söldner gar mit seinem Speer erjagen.

Möcht ich die liebe Reise jetzt fahren über See,

und wollt von da an singen wohl und nimmer mehr: o weh,

nimmer mehr o weh.

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Andreas Rochow / 16.02.2020

@ Jesko Matthes - Respekt, Herr Kollege! Sie wagen es, uns einen Schatz unserer Nationalkultur zugänglich zu machen. Vielen Dank! Ein bewegendes Ergebnis ist Ihnen da gelungen. Das überlieferte Klagegedicht dokumentiert, dass auch vor 850 Jahren gesellschaftliche Dynamik und Generationenkonflikt an der Tagesordnung standen. Die schöne, in der DDR als Schulbuch zugelassene, “Deutsche Kulturgeschichte in einem Band” von 1967 erkennt Walther von der Vogelweide als den Überwinder des “höfischen Minnegesangs” an. Obwohl Österreicher von Geburt, wird “er nicht müde, mit der Waffe der Dichtkunst für die Interessen des Reiches zu kämpfen und den einst mächtigen Reichsgedanken neu zu beleben. In seiner Auffassung zeigt diese alte Idee von der einigenden Kraft des Reiches schon Züge eines frühen deutschen Nationalgefühls.” So gesehen wird sich im Werk Walther von der Vogelweides kaum Hilfreiches für die “Große globalistische Transformation” finden. Die UN-Globalisten von heute müssen Nation, Tradition, Kultur und selbst die Erinnerung daran als Hemmnisse erleben und säubern deshalb eifrig den öffentlichen Raum von Straßen- und Universitätsnamen, die an die Falschen erinnern. Deutschland sei ein nationalistisches Konstrukt ohne “Volk”, dessen Aufgehen in eine offene Weltgemeinschaft schnellstens zu erledigen sei, hörte ich kürzlich von einem Globalalarmisten, der sich als Merkelist bekannte. - Ob die Klagelieder von heute in 850 Jahren noch jemanden interessieren werden?

Juliane Mertz / 16.02.2020

Es gehört vermutlich zu einem erfüllten Leben, dass man am Ende froh darüber ist, wenn es vorbei ist.

Esther Burke / 16.02.2020

Vielen Dank für diesen schönen -wenn auch so melancholischen* - Gesang zum Sonntag.  Zufällig bin ich heute morgen auf diesen kleinen Text gestoßen :  “Vögel singen / in einer Welt / die krank / lieblos / und ungerecht ist / vielleicht / haben sie recht ” Andrea Schwarz .    (* wie die Amseln ,die hoffentlich jetzt bald wieder loslegen mit ihren herzerwärmenden Melodien.)

Dieter Kief / 16.02.2020

Nö, Walter’s Welt ist nicht untergegangen, Jesko Matthes, sie lebt in uns und um uns immer weiter fort , die herrliche, melancholische, realistische, ja auch lustige (!) Welt des Deutschen Mittelaters. Hehe - “Fascho-Sound”, ich weiß, aber weil halt Sonntag ist, soll’s einfach gelten - nach gutem Brauch und altem Herkommen! - Ok, Nazi-Sprech grad’ au no! Da muss der vor Jagdeifer überschäumende und heiße Paul Ziemiak jetzt durch. Und seine Kanzlerin und der einfältige Bundespräsdident müssen da mit: Wir braunen Untertanen tanzen ihnen auf der Nase herum, und tun ihnen in der Seele weh - “das ist”, so die Kanzlerin abschließend, “unverzeihlich und muss rückgängig gemacht werden!” Die Sache ist die: Die Kanzlerin wird gehn’, aber alle, die sich darauf freuen, werden mit Erstaunen feststellen, dass der Paul Ziemiak in seiner anpasslerischen Grund-Grobheit und Nazijäger-Trance nach dem Abgang der Kanzlerin genau gleich weitermachen wird. Jedenfalls als Typus. Es wird also nicht schnell besser, soviel unschöner Realismus soll jetzt den Schluss-Stein meines besinnlichen Nazi-Denkgewölbes bilden, ne? - Die Grausamkeit der Wahrheit ist besser als das Duckmäusertum der Heuchelei. - Auch das ist nach neuer Zählung natürlichschon wider ein Nazi-Grundsatz, ich weiß, ich weiß! Aber ich stehe dennoch dazu, denn “das Recht, zu quaken und nicht zu quaken liege ihm nun einmal am Herzen - er bestehe darauf”  - mit anderen Worten: Es ist aus der Sicht der zugegebenermaßen und historisch einwandfrei belegbaren vollkommen naziverseuchten “Froschforschung” (noch einmal Hans Magnus Enzensberger); äh, so gesehen, sag’ ich, ist “das Recht zu quaken und nicht zu quaken” einfach unveräußerlich, bzw. ist es sogar: Fundamental! - Frosch-Nazis und Nazi-Frösche mal jetzt einfach außen vor gelassen… - Fellt mir ein wirklicher Nazi-Frosch aus meiner Kindheit ein: Der ERDAL-Frosch auf einer Dose - Achtung, jetzt kommt die ultimative Skandal-Info: Brauner Deutscher Schuhwichse!

Klaus Plöger / 16.02.2020

WÜRZBURG Under der linden, dâ mugt ir vinden mîn grap. Wol ûf: ich wil iuch noch sagen daz wie man zer welte solte leben: mit minne voler wünne und vrouwelîn im gras.

Markus Harding / 16.02.2020

Für Interessierte: Ougenweide, die Mutter aller Mittelalterbands, hatte dieses Gedicht Walthers bereits in den 70ern sehr schön vertont, wie auch andere Gedichte von ihm, Neidharts von Reuental, und andere mittelhochdeutsche Texte. Empfehlenswert für Menschen, die einmal alte Sprachklänge genießen wollen und nicht das Glück der Bekanntschaft eines Heinrich haben.

Cora B. Hermann / 16.02.2020

Lieben Dank Herr Matthes! Selbst Germanist, werde ich nun “meinen” Walther aus dem Regal holen, ein gutes Glas Tee machen und der “Welt entflieh´n”.

Wolf Hagen / 16.02.2020

Na ja, ich glaube, das Problem ist, dass man mit 20 noch meinte zu wissen, wie die Welt zu retten ist und zwar ohne Wenn und Aber. Danach kam dann diese merkwürdige Lebenserfahrung. Und umso mehr man davon abbekommen hat, desto weniger glaubt man, sondern hinterfragt alles und jeden, schließlich wurde man mehr als einmal vom schönen Schein betrogen. Zudem wird man, umso älter man wird, von der Gesellschaft klammheimlich ausgegrenzt. Hieß es früher immer, Du bist doch noch jung, Dir stehen alle Möglichkeiten offen (was übrigens nie stimmte), so heißt es heute eher, das ist nichts mehr für Dich, dafür bist Du doch eigentlich zu alt. Dabei ist es völlig egal, worum es gerade geht, ob um Sportarten, Frauen, Computerspiele, Politik, Gesundheit, Gesellschaft, Jobs…egal. Zwischen 18 und 40 geht so ziemlich alles, danach tut die Gesellschaft immer mehr so, als wäre man ein Kleinkind. Kein Wunder, dass sich viele Menschen über 40 einfach nur in Erinnerungen, Spielereien und/oder das Private zurückziehen. Dumm nur, dass es gerade die Leute sind, die viele Mechanismen des Lebens und der Gesellschaft verstanden haben und deren Probleme eher lösen könnten, als die, die nur meinen die Welt verstanden zu haben.

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