Meine Erfahrungen mit monatelanger Quarantäne

Seit zehn Jahren verbringe ich jeden Winter in einer freiwilligen Quarantäne. Ich habe kein Problem damit. Schwerwiegend ist nicht die Quarantäne, sondern die Krankheit, die eine Quarantäne notwendig macht.

Nach dem Tod meiner damaligen Frau brach mein Immunsystem zusammen. Ich erkrankte an einer ALL-Leukämie. Eine Knochenmarktransplantation ließ den Blutkrebs verschwinden, aber die fremden Blutstammzellen begannen, meine Organe abzustoßen. Diese Graft-versus-Host-Reaktion (GvHD) wurde chronisch und hat bisher 60 Prozent meiner Lunge abgestoßen. Um diesen Prozess zu stoppen, wird das Immunsystem mit zahlreichen Medikamenten erfolgreich unterdrückt. Die Kehrseite: Mit reduziertem Immunsystem ist man anfällig für schwer verlaufende Infekte. Chemos, Bestrahlungen und mittlerweile über 40.000 Pillen haben Folgeerkrankungen ausgelöst.

Seit zehn Jahren bin ich hauptberuflich krank und lebe im Bewusstsein, dass es jederzeit zu Ende gehen kann. Dass dies noch nicht geschehen ist, verdanke ich den Frauen und Männern, die mich im Zellersatzambulatorium des Basler Unispitals betreuen und Großartiges leisten. In den meisten Ländern wäre ich längst gestorben. Somit gibt es keinen Anlass zum Hadern, aber einen Grund, dankbar zu sein für geschenkte Lebensjahre.

Ich bin mein eigener Hofnarr

Als ich im August letzten Jahres die Intensivstation verließ, blieb ich zur Erholung zu Hause. Es wurde eine Quarantäne, die bis heute andauert. Ich sehnte den Frühling herbei. In der letzten Februarwoche vermeldete jedoch die Schweiz die erste Corona-Infektion. Mir war sofort klar, was dem Land blüht, denn sowohl meine Frau als auch meine Schwiegertochter sind aus Asien und haben stets News aus allererster Hand.

Meine Frau nahm unbezahlten Urlaub. Sie wollte nicht diejenige sein, die mir das Virus nach Hause bringt. Ausschlaggebend für unseren Entscheid war die zögernde Haltung des Bundesrats. Führung sieht anders aus. Wir hatten kein Vertrauen. Auch Hamstern ist eine Demonstration des Misstrauens. Wir wussten aus Asien, dass man nur mit einem sofortigen Lockdown die Pandemie in ihren Anfängen stoppen oder wenigstens verlangsamen kann.

Eine Quarantäne bedeutet immer auch finanzielle Einbußen. Aber die Quarantäne als solche ist Pipifax. Allerdings nicht für alle. Wir leben in einer Gesellschaft, die nichts mehr aushält und permanent überfordert ist. Selbst für die „Einsamkeit im Homeoffice“ brauchen einige psychologische Betreuung. Einige bemitleiden sich in der Quarantäne.

Dieses Verhalten ist nicht hilfreich. Man muss sich über das freuen, was in der Quarantäne immer noch möglich ist: E-Books, Online-Zeitungen lesen, Netflix, Dokus auf Youtube, Computerspiele, Kochen, Telefonieren, Social Media und ein voller Kühlschrank. Alles andere muss man von der Wunschliste streichen. Es ist wie im Restaurant: Es hat keinen Sinn, sich Menüs zu wünschen, die nicht mehr auf der Karte sind. Ich habe den Vorteil, dass ich als Romanautor in fiktive Welten abtauchen kann. Ich hatte seit frühester Kindheit großes Kino im Kopf und kann mich selbst unterhalten. Ich bin mein eigener Hofnarr.

Alles, was ablenkt, hilft

Jeder muss seine eigene Strategie entwickeln. Hilfreich ist ein strukturierter und abwechslungsreicher Tagesablauf mit Körperpflege, Fitness, Essenszeiten und Dingen, die man gerne tut. Wenn man nachts gesundheitliche Probleme hat, steht man halt früher auf, und der ganze Tagesablauf ist zeitverschoben. Das ist bei mir die Regel. Krämpfe und Nervenschmerzen sind der Preis fürs Überleben in der Nachspielzeit.

Ich stehe dann auf und kehre zu meinen Romanfiguren zurück oder singe aus Trotz die Hits der 1970er und 1980er, denn man kann nicht singen und sich gleichzeitig sorgen. Songs, die man als Teenager gehört hat, öffnen das Tor zur Erinnerung. Man fühlt sich in die Zeit zurückversetzt, als das Leben noch unbeschwert und frei von Krankheiten war. Alles, was ablenkt, hilft. Man muss sich nicht mit Dingen beschäftigen, die man eh nicht ändern kann. Ändern kann man nur die Einstellung dazu.

In der Quarantäne sollte man keine Besuche mehr empfangen. Ohne soziale Kontakte verdörrt man jedoch, da genügen irgendwann auch keine Romanfiguren mehr. Dank der sozialen Medien hat man aber viele Möglichkeiten, Bekanntschaften zu pflegen. Mein Sohn und ich telefonieren jeden Tag über eine Stunde. Wir teilen ähnliche Interessen und haben einen Sinn für Humor und Ironie. Austausch mit anderen Menschen ist wichtig. Ich habe das große Glück, meine aktuelle Quarantäne mit einer großartigen Frau zu teilen. So viel Glück hatte Robinson nicht.

Die Quarantäne macht aus einem das, was man zulässt

Es ist normal, dass man in schmerzgeplagten Stunden über den Tod nachdenkt. Wie werde ich sterben? Das weiß auch Mike Shiva (Schweizer Wahrsager, Anm. d. Red.) nicht. Man muss sich darüber keine Gedanken machen. Selbst der Tod hat kleine Vorteile, denn über den Tod geht das Leiden nicht hinaus. Es wäre jedoch für jeden Hochrisikopatienten eine Erleichterung, wenn auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin eine Freitodbegleitung im Spital möglich wäre. Denn es ist absehbar, dass die vorhandenen Betten auf den Intensivstationen und die Anzahl der Beatmungsgeräte bald nicht mehr ausreichen werden.

In meinem Beruf hat auch die Quarantäne Nebenwirkungen: Man wird sehr produktiv. Während im Juli mein Pandemie-Roman „Genesis“ erscheint, habe ich den nächsten bereits beendet. Dass „Genesis“ vor dem Hintergrund einer Pandemie spielt, ist Zufall. Da ich mich seit Jahren mit Viren, Bakterien und dem Immunsystem beschäftigen muss, lag es auf der Hand, dass ich eines Tages einen Pandemie-Roman schreibe. Das fertige Manuskript wurde bereits im Oktober 2019 an der Frankfurter Buchmesse den Verlagen angeboten. Es erscheint am 20. Juli bei Nagel & Kimche.

Meine aktuelle Quarantäne habe ich als Notwendigkeit akzeptiert und sie als neue Normalität abgehakt. Die Quarantäne bringt niemanden um, sie macht aus einem das, was man zulässt. Am besten, man sieht es als sportliche Herausforderung. Ich möchte noch ein paar Tore schießen: den Sommer in der freien Natur erleben und meine Enkelin aufwachsen sehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Schweizer BLICK sowie auf Claude Cuenis Blog.

Foto: Sebastian Magnani CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Dov Nesher / 22.03.2020

Alles gute Ihnen. Danke für den Artikel. Quarantäne kann man überleben. Leute macht das Beste draus!

Sebastian Laubinger / 22.03.2020

Danke, Herr Cueni, für diesen Mut machenden Beitrag. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Sie haben völlig recht: Man soll die Dinge genießen, die einem bleiben, und das sind ja nicht gerade wenige. Ich z.B. lese sehr gerne, und genieße meine Bücher. Wir, meine Frau, meine Kinder und ich, bleiben auch zu Hause, soweit das möglich ist—nicht etwa aus Angst, wir sind alle gesund und ohne Vorerkrankungen, sondern aus Rücksichtnahme auf andere. Gott segne und behüte Sie.

Christa Ludwig / 22.03.2020

Was für ein Glück, daß ich noch heute Abend Ihren Bericht finden konnte, lieber Herr Cueni, damit ich Ihnen noch danken kann. Mir tut es so gut, von Ihnen zu lesen, wie Sie mit Ihrem Schicksal umgehen und sich schöne Ziele setzen. Nicht um mich trage ich Sorge, sondern um meinen Sohn, der an einer schweren Immunschwäche leidet und dazu jetzt auch noch entlassen wurde, angeblich aufgrund der Corona-Krise. Er liebt und lebt für seine kleine Familie, beklagt nie seine Krankheit, obgleich er beständig seine Grenzen einkalkulieren muß. Das bedingte auch den Berufswechsel im ehemals künstlerischen Bereich. Sie, lieber Herr Cueni, haben mir nun ein wenig vermittelt, wie ich als Mutter mit diesen Gedanken vielleicht leichter umgehen kann, indem ich verstehe, daß der Kranke sich selber sein kleines Glück sucht und darin seinen Frieden findet. Meine Bewertung von außen als Nichtbetroffene hilft ihm nicht weiter. So bleibt mir nur, Ihnen von Herzen alles Gute zu wünschen, und sich an Ihren Glücksmomenten zu erfreuen und auf viele noch zu hoffen. Ich grüße Sie mit Ihrer Familie und freue mich auf Lektüre von Ihnen (wo ich Sie ja nun schon ein wenig kenne ).

Bernhard Idler / 22.03.2020

Netflix wurde genannt, überhaupt Filme und Serien (nicht “Fernsehen”): Glücklicherweise gibt es derzeit wöchentlich neue Folgen sowohl von “Better call Saul” als auch von “Westworld”; im April auch “Fargo”. Das als Tip für alle zwangsweise Daheimgebliebenen; wer die Serien noch nicht kennt, umso besser, viele Abende mit guter Unterhaltung sind beim Aufholen gesichert. Weitere Serien zum “Binge-Watching”, falls noch nicht gesehen: “Breaking Bad”, “Lucifer”, “The Grand Tour”, “Person of Interest”, “Narcos”, “Dexter” und “Mr Robot” (alles am besten im Original, notfalls mit Untertiteln). Vielleicht nicht der wichtigste Beitrag zum Artikel, eher ein Hinweis zum Verschönern dieser besonderen Zeit, die wir teilen.

herbert binder / 22.03.2020

“1957 in Brüssel. Hergé in Panik.”...So begann hier auf der Achse Ihre 4-teilige Artikel-Serie über “90 Jahre Tim & Struppi”, lieber Herr Cueni - aber wem erzähle ich das? Ich war sofort begeistert. Dabei möchte ich es bewenden lassen; meine Gedanken, und was ich jetzt fühle - ich möchte es für mich behalten. Ach, vielleicht noch dies: ich “leiste” mir immer mal wieder ein Sudoku- auch wenn das manche möglicherweise doof finden - seine Eigenart kann helfen, sich etwas zu sammeln, sich wieder auf sich selbst zu besinnen.  Einfach so.

toni Keller / 22.03.2020

Normalerweise läuft Amnesty international Sturm wenn irgendein Regime irgendjemanden unter Hausarrest stellt. Nun wird es uns schmackhaft gemacht! Warum haben wir eigentlich immer diese Petitionen unterschrieben? Sowas bringt doch keinen um, sowas macht aus einem nur, was man zulässt! Merkt denn keiner wir krank das alles ist?

Johannes Schuster / 22.03.2020

Alles Gute in die Quarantäne. In der Schweiz wird man wenigstens höflich aber bestimmt gebeten, dieses und jenes zu tun, in Deutschland kommt gleich so ein schwarz gekleideter Uniformierter und brüllt einen herrisch an, als sei gerade sein Traum von einer paramilitärischen Mitgliedschaft wahr geworden. Flugsimulator fliegen ist übrigens ein ganz feiner Zeitvertreib, Im Laufental gibt es - ein Quarantäne - Auto vorausgesetzt auch schöne Ecken, garantiert Corona - frei. Der Hochwanderweg über den Rämelsberg ist auch schön - und meistens menschenfrei und selbst für Gliederschlepper gangbar. Viel Kraft und eine gute Zeit.

Erich Reith / 22.03.2020

Sehr geehrter Herr Cueni, herzlichen Dank für ihren sehr persönlichen Erfahrungsbericht über die für Sie lebensnotwendige Quarantäne. Selten habe ich einen ergreifenderen und berührenderen Text gelesen, der nüchtern ohne jegliche Larmoyanz die Bürde des eigenen Schicksals beschreibt und gleichzeitig mit dieser Beschreibung zeigt, was wirklich im Leben zählt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, die gewünschten Tore zu schießen und die Enkelin aufwachsen zu sehen.

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