Mein Zivildienst bescherte mir Begegnungen mit ganz normalen Menschen, mit Schicksalsschlägen, Krankheit und Tod, mit Fehlern und Unvermögen, mit dem prallen, ungeschminkten Leben jenseits des eigenen Erfahrungsbereichs.
„Stellen Sie sich folgende Situation vor: Nach dem Untergang eines Schiffes können Sie sich nur mit Hilfe eines Stückes Treibholz über Wasser halten. Ein anderer Schiffbrüchiger schwimmt heran, doch das Holzstück reicht nur aus, um einen zu tragen. Wie verhalten Sie sich?“
Eine der berüchtigten Fangfragen, mit denen man als Wehrdienstverweigerer bei der sogenannten Gewissensprüfung konfrontiert wurde. Wenn man angab, den Leidensgenossen zurückzuweisen, konnte man offensichtlich doch die Tötung eines anderen Menschen akzeptieren. Wenn man aussagte, sich opfern zu wollen, würde das als unglaubwürdig angesehen. Wenn man einräumte, sich womöglich auf einen Kampf einzulassen, stünde wieder die Frage im Raum, ob man dabei den Tod des Anderen in Kauf nehmen könnte.
Ich hatte mich gut auf den Termin vor dem Prüfungsausschuss im Wiesbadener Kreiswehrersatzamt vorbereitet, mit Hilfe einer Organisation, die Wehrdienstverweigerer wie mich kostenlos beriet. Ein Büchlein mit praktischen Tipps hatte ich auch gelesen. Pazifist war ich keiner, hatte nicht an Ostermärschen oder Blockaden von US-Stützpunkten teilgenommen. Ich wollte mich einfach nicht herumkommandieren lassen, kostbare Zeit verbummeln, mit einem Schießprügel herumhantieren und auf einer stickigen Bude mit Kameraden zusammenleben müssen, die sicher noch nie etwas von Beethovens späten Streichquartetten gehört hatte, die ich schon damals lieber hörte als ACDC, Genesis oder die Rolling Stones.
An die Fragen, die mir ein paar ältere Herren stellten, kann ich mich nicht mehr im Detail erinnern. Aber es waren auch ein paar der typischen Fangfragen dabei, die ich wacker beantwortete, ohne sie zu beantworten. Denn die erste Regel lautete: Lass Dich nicht auf inhaltliche Diskussionen mit den gewieften Inquisitoren ein, bei denen Du immer den Kürzeren ziehst! Ich berief mich vor allem auf meine christliche Gesinnung, meine durchweg positiven Erfahrungen bei den Katholischen Pfadfindern, wo ich den einen oder anderen Feldgottesdienst organisiert und dabei flammende Reden zum Schutz von Gottes Schöpfung gehalten hatte. Um die Herren vom Prüfungsausschuss zu beeindrucken, kramte ich auch einen entfernten Verwandten hervor, der im Widerstand gegen das Naziregime sein Leben gelassen hatte. Die Frage nach der Berechtigung des Tyrannenmordes stellten sie mir glücklicherweise nicht.
Beinahe gerührt von meiner Performance
Die Gewissensprüfungen, in der jeder Verweigerer von 1956 bis 1983 zunächst schriftlich und dann in mündlicher Anhörung den Ernst seiner Gewissenentscheidung gegen den Dienst mit der Waffe darlegen musste, waren eine reichlich bizarre Angelegenheit. Wie sollte man annehmen, dass es wirklich möglich sei, in einem formalisierten Gespräch quasi am Fließband das tiefe Fühlen und Wollen eines Menschen erforschen zu können? Irgendwie alles sehr idealistisch, sehr deutsch.
Hoffentlich erleben diese Tribunale keine Wiederauferstehung, wenn es erneut eine Wehrpflicht geben sollte, um „den Russ“ von seinen, wie man hört, spätestens 2030 beginnenden Eroberungszügen gen Westen abzuhalten? Wobei man sich vorstellen könnte, dass das Modell der Gewissensprüfung auch auf andere Lebensbereiche ausgedehnt werden könnte. „Stellen Sie sich vor, Sie sehen bei einer Polarkreuzfahrt eine Eisbärenmutter mit ihrem Baby auf einer schmelzenden Eisscholle. Wie kehren Sie vom Hafen auf Spitzbergen nach Hause zurück? Mit dem Flugzeug?“
Mein Termin vor dem Prüfungsausschuss ging schnell über die Bühne und ich kann sagen, dass ich mit Bestnote als Kriegsdienstverweigerer anerkannt wurde. Ich glaube mich erinnern zu können, dass die Herren ziemlich beeindruckt, ja beinahe gerührt waren von meiner Performance. Im November 1981 trat ich meinen vierzehnmonatigen Zivildienst im Kreiskrankenhaus meiner Heimatstadt Eltville am Rhein an, Station Innere für Männer, die von einer führungsstarken Oberschwester und einem eher lässigen, kettenrauchenden Oberpfleger geleitet wurde. Chefarzt war ein iranisch-stämmiger Mediziner, der als Herzspezialist galt, ein vornehmer Mann. Außerdem gab es noch einen quirligen Pfleger, der mit seinen Kunstpfeifkünsten brillierte, eine mütterliche Krankenschwester aus Kroatien sowie eine etwas pedantische, dienstbeflissene Kollegin, die mich häufig zurechtwies und von der ich mich nicht selten ungerecht behandelt fühlte.
So einen guten Zivi habe man noch nicht gehabt
Krankenhäuser wie jenes, in dem ich meinen Zivildienst – Zivildienstgegner sprachen abschätzig von „Ersatzdienst“ – ableistete, gibt es heute so gut wie nicht mehr. Es ging dort ziemlich familiär zu, was Vor- und Nachteile hatte, weil die medizinische Behandlung wohl nicht selten suboptimal war. Dafür konnten die Patienten unweit ihres Wohnortes behandelt und gepflegt werden, von Menschen, die meist die gleiche Rheingauer Mundart sprachen wie sie. Und auf dem Nachttisch der Patienten lag das Rheingau Echo, eine lokales Käsblättchen, für das ich nach dem Abitur zu schreiben begonnen hatte – auch ein Grund, warum ich nicht zur Bundeswehr einrücken wollte, die diesen Nebenjob sicher nicht geduldet hätte.
Weil es sich um eine bekannte Weinbauregion handelte, wurden viele Patienten wegen den Folgen übermäßigen Alkoholkonsums behandelt, das Codewort dafür lautete C2-Abusus. Der Rest waren meist Herzinfarkte und Hirnschläge. Komplizierte Fälle wurden in die Städtischen Kliniken nach Wiesbaden oder ins Mainzer Uniklinikum geschickt. Neben zwei Inneren Stationen für Männer und Frauen gab es auch eine chirurgische Abteilung, wo vor allem orthopädische Notfälle behandelt wurden. Dort ging es lustiger zu als bei uns, weil die Patienten jünger waren und meist geheilt das Haus verlassen konnten, während bei uns viele alte, multimorbide Menschen ihrem Tod entgegensahen.
Mit dem mir offenbar angeborenen Sinn für Ordnung machte ich mich schnell unentbehrlich. Ich versah sogar alleine Nachtdienste, bei denen ich für die ganze Station verantwortlich war. Ob dies arbeits- und haftungsrechtlich gedeckt war, weiß ich nicht. Das wäre fast so gewesen, als wenn man einen Wehrdienstleistenden in der Grundausbildung an den Roten Knopf für die Atombomben gesetzt hätte. Alles in allem machte mir die Arbeit mit den Ärzten, Pflegekräften und Patienten Spaß, wozu natürlich auch das Einsammeln und Ausleeren von Bettpfannen und Pinkelflaschen gehörte. Als ich nach Ende meiner Dienstzeit das Eltviller Kreiskrankenhaus verließ, war die Bestürzung groß. So einen guten Zivi habe man noch nicht gehabt. Dabei war der Personalmangel im Pflegebereich damals bei weitem noch nicht so drückend wie heute.
Toleranz gegenüber menschlichen Ausscheidungen
Was blieb mir von dieser Zeit? Die Erfahrung wie es ist, in einen Dienst geworfen zu werden, den man eigentlich nicht leisten wollte, einen Dienst an der Allgemeinheit, wenn man so will. Wobei ich fast schon wie ein normaler Arbeitnehmer gearbeitet habe und von den Kollegen wie einer der ihren behandelt wurde. Was noch blieb? Lehrreiche Konfrontationen mit ganz normalen Menschen, mit Schicksalsschlägen, Krankheit und Tod, Konfrontationen auch mit Fehlern und Unvermögen, mit dem prallen, ungeschminkten Leben jenseits des eigenen Erfahrungsbereichs.
Bei der Bundeswehr hätte ich diese Erfahrungen sicher nicht oder nur begrenzt machen können. Wie mir meine Schulkameraden berichteten, die oft in der mittlerweile abgewickelten, 30 Kilometer entfernten Rheingau-Kaserne in Lorch am Rhein ihren Dienst versahen und als „Heimschläfer“ bei den Eltern übernachteten, ging es dort vor allem darum, die Zeit tot zu schlagen. So ist das bei der Truppe, wenn man nicht, was zum Glück eher selten vorkommt, auf einen „Feind“ eindrischt, massakriert man die Zeit. Die größte Herausforderung aller Armeen der Welt dürfte die Langeweile sein.
Was mir blieb, ist auch die Fähigkeit, Bettzeug schnell und adrett neu zu beziehen. Bettanbauen lernt man im Krankenhaus mindestens ebenso gut wie in der Kaserne. Ich weiß, was eine Schnabeltasse ist und beim Gastroenterologen müssen sie mir nicht erklären, was bei einer Darmspiegelung passiert, das habe ich Dutzende Male gesehen. Und auch meine im Eltviller Krankenhaus erlernte Toleranz gegenüber menschlichen Ausscheidungen aller Art und den von ihnen ausgehenden olfaktorischen Reizen wird mir mit fortschreitendem Alter nützen. Denn irgendwann rückt man selbst ein an jenem Ort, denn man als junger Zivi nach Ende der Schicht frohgemut und immer auch etwas erleichtert hinter sich lassen konnte.
Georg Etscheit ist Autor und Journalist in München. Fast zehn Jahre arbeitete er für die Agentur dpa, schreibt seit 2000 aber lieber „frei“ über Umweltthemen sowie über Wirtschaft, Feinschmeckerei, Oper und klassische Musik. Er schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss, und auf Achgut.com eine kulinarische Kolumne.