Wolfgang Röhl / 01.12.2018 / 06:06 / Foto: P. Lindgren / 28 / Seite ausdrucken

Mein Programmie, ein Blick in den Abgrund

Mit Printmedien sei in naher Zukunft kein Blumenpott mehr zu gewinnen, pfeifen die Spatzen von den Dächern der Verlagshäuser. Der Blick auf die Auflagen von Tageszeitungen und Magazinen scheint das zu bestätigen. Fast alle Titel verzeichnen seit etwa 20 Jahren zuerst mähliche, später galoppierende Verluste bei der „demokratischen Abstimmung am Kiosk“, wie der Verleger Axel Springer anno 1968 sein damals hoch lukratives Zeitungsgeschäft veredelte. Folglich kennen auch die Anzeigenerlöse mittlerweile nur mehr eine Richtung, nämlich abwärts.

Und doch gibt es ein Pressprodukt, welches Geld generiert wie das legendäre Las Vegas-Casino „Golden Nugget“. Es handelt sich um das Fernsehprogrammheft „rtv“, Auflage 8,4 Millionen. Jede Woche wird es vielen Zeitungen und Zeitschriften beigelegt, zum Beispiel dem „Stern“. Das Supplement, 1961 gegründet von dem erfolgreichen Photohausunternehmer und DDR-Spion Hannsheinz Porst („IM Fotograf“), ist heute ein Goldesel des Medienkonzerns Bertelmann. 

Die Geschäftsidee: Programmies billig produzieren, sie für kleines Geld an zahlreiche Blätter verticken und mit der auf diese Art geschaffenen medialen Reichweite Anzeigenraum teuer verkaufen. Dazu passt gut, dass Programmbeilagen nur eine sehr schlanke Redaktion benötigen. Den Löwenanteil des Textes liefern die Sender kostenfrei. Kein anderes Medium hat eine Reichweite wie rtv, abgesehen von der ADAC-Clubzeitschrift „Motorwelt“, die jedoch ab 2020 nur noch vierteljährlich erscheinen soll. Wer eine ganzseitige Vierfarbanzeige in rtv schaltet, muss dafür ab dem nächsten Jahr 113.525 Euro löhnen; die halbe Seite kostet 68.670 Euro. Natürlich gibt es Mengenrabatte.

Man darf annehmen, dass Anzeigenkunden rechnen können. Sie wissen offenbar, dass ihre Werbekohle doppelt oder dreifach zurückfließt, aus Produktverkäufen an die rtv-Leser. Deshalb kann man aus den in rtv beworbenen Gütern so etwas wie eine typische Leserschaft modellieren. 

Verstopfung, Blähbauch, Durchfall, Schlaflosigkeit, Nagelpilz

Die Inserate gliedern sich in vier Bereiche. Der erste besteht aus rezeptfreien Mitteln gegen mannigfache Wehwehchen. Etwa Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Verstopfung, Blähbauch, Durchfall, Schlaflosigkeit, Sodbrennen, Nagelpilz, Fließschnupfen, Schwindelgefühl, Vergesslichkeit, Arthrose, Taubheitsgefühl. 

Ein zweiter Anzeigenstrauß offeriert Hilfe bei Störfällen wie Gesichtsrötungen, Pigmentflecken, Runzelhaut, Übergewicht und Beischlafkalamitäten („Einfach aufsprühen, schon erleben Sie eine sofortige Erektion“). Kurz, nur die zweiwöchentliche Kundenzeitschrift „Apotheken Umschau“, Auflage mehr als neun Millionen, bedient deutsche Leidensgenossen ähnlich intensiv und flächendeckend wie rtv.

Der dritte Werbeblock führt in die bunte Welt der Urlaubsreisen. Wo das Spektrum vom Billigaufenthalt im Bayerischen Wald nach dem „Roulette“-Prinzip (einchecken, wo gerade Betten frei sind) über die Busrundreise zu den üblichen irischen „Highlights“ bis hin zur Mittelmeerkreuzfahrt auf der „Aidasol“ reicht. Auch eine Neuauflage des guten alten KdF-Cruise („Norwegens Fjorde“) ist im Angebot.

Der vierte rtv-Anzeigenbereich steht im Zeichen der hierzulande besonders grassierenden Gebrechlichkeit. Prominent vertreten ist der Klassiker „Lifta, der Treppenlift“, ebenso der „AP+ Treppenlift mit Glücklich-Garantie“. Daneben werben Hersteller von mechanischen Badewannenliften und Luftkissen-Badeliften sowie Erzeuger von mobilen Treppensteighilfen. Räumlich angegliedert sind Annoncen für Seniorenvehikel, E-Rollstühle sowie Schiebe- und Bremshilfen für das Tuning herkömmlicher Rollis. 

Setzt man also, gespeist aus den Pixeln seiner vorrangigen Interessen, das Phantombild eines in vielen Millionen Exemplaren real existenten Deutschen zusammen, so ergibt sich ein Blick in den Abgrund. Er zeigt einen Menschen mit diversen Darm-, Rücken- und Untenrumproblemen, schlaflos, nagelpilzgeplagt und puterrot im Antlitz. Dem vieles irgendwie wehtut oder juckt oder sauer aufstößt. Der schetterige Herbergen in der Pampa genauso attraktiv findet wie das Herumlungern auf hässlichen Fressdampfern. Freilich, gesundheitsmäßig nimmt er’s vom Feinsten. Therapieangebote wie Wenn’s vorne juckt und hinten beißt, nimm Klosterfrau Melissengeist schlägt er aus. Für ihn müssen mindestens Kijimea Regularis ran, hilfreiche „Fasern aus der Forschung“.  

Die Zukunft ist der Treppenlift

Die Zukunft dieses homo teutonicus, das ist der Treppenlift beziehungsweise der E-Rollstuhl. Und die Zukunft hat längst begonnen. rtv-Leser sind nach Verlagsangabe im Schnitt zwischen 50 und 62 Jahre alt – je nach Trägerblatt, dem das Supplement beiliegt –, aber mental offenbar bereits auf dem Weg nach Hause. Kein Ausreißer: Bei der Leserschaft des rtv-Hauptkonkurrenten „Prisma“ schaut es bezüglich Hirn, Herz und Gebein sehr ähnlich aus. 

Da kann einem angst und bange werden. Nämlich bei der Vorstellung, es bräche mal eine wirklich verheerende Wirtschaftskrise über dieses Land herein. Oder ein langer Stromausfall verursachte ein Chaos; Gewaltausbrüche, Plünderungen, bürgerkriegsähnliche Zustände nach sich ziehend. Das Risikopotenzial hat sich inzwischen kumuliert, in den Stromnetzen genauso wie in manchen Stadtvierteln. Da könnte allenfalls eine robuste, solidarische Nachbarschaft das Schlimmste verhindern. Doch mit Zeitgenossen, auf welche rtv-Inserate abzielen, durch schweres Wetter segeln? Der Himmel bewahre.

Wer kann, wird sich im Ernstfall absetzen. Vielleicht auf ein friedsames Eiland. Mull of Kintyre? Bloß nicht auf eine deutsche Insel! Da stieße er garantiert auf rtv, das Vademecum für die hypochondrische Couchkartoffel. 

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Ruedi Tschudi / 01.12.2018

Das heißt aber noch lange nicht, daß jeder sowas auch liest.

Robert Krischik / 01.12.2018

Ich lese nur Spon und denke auch, dass es Millionen Treppenlifte in Deutschlad geben muss.

J.P.Neumann / 01.12.2018

Ich schliesse mal messerscharf daraus, das nur ältere gebrechliche Menschen kurz vor Exitus dieses Supplement konsumieren.  Zuletzt zerriss meine jüngste Tochter verächtlich dieses Juwel deutscher Pressekultur direkt vor meinen Augen. Auf meinen Einwand, daß sie soeben das TV-Programm der ganzen Woche vernichtet hätte, entgegnete sie: “Meine Güte, Fernsehen.  Bist du jetzt schon in Rente oder was? “

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