Alexander Gutzmer / 16.10.2008 / 19:02 / 0 / Seite ausdrucken

Mein Mann in der Krise

Man nimmt in diesen Zeiten ja Rat, wo immer man ihn kriegt. Zum Beispiel vom Fahrradhändler. Berlin Prenzlauer Berg, ich zahle ein günstiges Gebrauchtrad bar und mache den nahe liegenden Witz „Das ist Ihnen sicher lieber als per Kreditkarte“. Eine Steilvorlage für meinen Fahrradhändler. Ein vehementer Vortrag folgt, mit den groben Stationen Finanzkrise – Goldman Sachs – Paulson – Krupp-Familie – zweiter Weltkrieg – Rüstungsindustrie – sieben Familien besitzen die US-Federal Reserve-Bank – Inflation – Hamsterkäufe – Anarchie – Umsturz und neue Ordnung. Ich bin zu verwirrt, um nach Einzelheiten zu fragen. Auch weil mein mein Fahrradhändler nicht nur Marx inhaliert hat, sondern auch Sokrates und dessen Fragetechniken. Glauben Sie mir: Wenn der Mann Sie mit bohrenden Augen anblickt und fragt „Wissen Sie eigentlich, wem die Fed gehört? Na?“, dann sagen Sie auch nichts mehr…

 

Im Grunde sollte er im Fernsehen auftreten. Schließlich macht er nur das, was auch die Vertreter öffentlich-rechtlicher Medien momentan tun: Sie, denen die Funktionsmechanismen globaler Finanzmärkte so fremd sind wie mir das Innere meiner neuen Nabenschaltung, tun so, als hätten sie „es schon immer gewusst“, und prophezeien, alles werde noch viel schlimmer. Und, ganz wichtig, signalisieren, dass Amerika an allem schuld sei und man nun schleunigst nach einer Alternative zum bösen Anglo-Kapitalismus suchen müsse.

Parallelen zu 9/11 tun sich hier auf. Uneingeschränkte Solidarität hin oder her: Auch damals spürte man, wie freudig viele Deutschen die Chance witterten, endlich auf Distanz zu den USA zu gehen. Bushs Irakkrieg erleichterte das. Auch heute geben sich viele Kommentatoren ihrer gehegten Vorstellung hin, es gebe einen kontinentaleuropäischen Sonderweg eines risikoärmeren und „gesünderen“ Wirtschaftens. Gerade in Zeiten wie diesen zeigt sich: Der Antiamerikanismus ist mehr denn je ein zentrales Moment deutscher Identitätsfindung.

Mein Fahrradhändler ist da weiter. Als guter Marxist hält er Europa für genauso verkommen wie die USA. Er schloss mit den Worten, heute zählten nur noch harte Werte wie Gold – oder eben Fahrräder. Vielleicht sollte ich noch mal rübergehen.

 

 

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Alexander Gutzmer / 09.03.2016 / 12:00 / 16

Schreiben im Namen des „Kleinen Mannes“?

Dies sind tückische Zeiten für Journalisten. Eigentlich sehen wir Schreiber uns als Anwalt des „Kleinen Mannes“ (im Folgenden „KM“). Wir schreiben für den KM. Wir…/ mehr

Alexander Gutzmer / 18.07.2015 / 17:06 / 2

Deutschland – ein Fetisch

Als größter Wohltäter der deutschen Linksdenkenden erweist sich seit Wochen Wolfgang Schäuble. Dessen harte Linie zum Thema Griechenland-Kredite dient ihnen als Steilvorlage. Mit großem Enthusiasmus…/ mehr

Alexander Gutzmer / 25.12.2014 / 09:33 / 1

Kims großer Plan

Kim Jong-Un ist ein begnadeter Stratege. Die Mechanismen des Kapitalismus durchschaut er wie kein zweiter. Er weiß: Scheinbar drohende Knappheit eines Gutes und die Bedrohung…/ mehr

Alexander Gutzmer / 18.08.2014 / 09:29 / 4

Der neue “linke” Nationalismus

Als Gratmesser öffentlichen Bewusstseins eignet sich kein Medium so gut wie Facebook. Nachzuvollziehen war das hervorragend im Zuge der amerikanischen Abhöraktivitäten. Die Empörung in meinem…/ mehr

Alexander Gutzmer / 29.04.2014 / 22:32 / 14

Schuld am FC Bayern-Desaster: die 17 anderen Bundesliga-Clubs

So fühlt er sich also an, der Boden der Tatsachen. Real Madrid hat Fußball-Deutschland demonstriert, dass sich die Grundkoordinaten des Clubfußballs mitnichten fundamental verändert haben…/ mehr

Alexander Gutzmer / 02.03.2014 / 16:44 / 3

Neo-Mormonen in Kreuzberg

Es ist die Zeit der überraschenden – oder scheinbar überraschenden – Allianzen. Etwa zwischen Teilen der linken Bürgerlichkeit und dem Antisemitismus. Oder zwischen konservativen und…/ mehr

Alexander Gutzmer / 25.01.2014 / 09:41 / 3

Journalismus als Darsteller seiner selbst

Wenn man die Vorgeschichte der kollektiven Anti-Lanz-Stimmung im Land nicht kennt und das ach so schreckliche Interview mit Sahra Wagenknecht betrachtet, sieht man etwas völlig…/ mehr

Alexander Gutzmer / 13.01.2014 / 18:26 / 3

Der Fußball und das Burleske

Im Profifußball verstehen wir die Welt. So oder so ähnlich rechtfertigt sich die Abhandlung bundesligasoziologischer Themen in den Feuilletons. Zuletzt hat unsere Gesellschaft anhand des…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com