Man nimmt in diesen Zeiten ja Rat, wo immer man ihn kriegt. Zum Beispiel vom Fahrradhändler. Berlin Prenzlauer Berg, ich zahle ein günstiges Gebrauchtrad bar und mache den nahe liegenden Witz „Das ist Ihnen sicher lieber als per Kreditkarte“. Eine Steilvorlage für meinen Fahrradhändler. Ein vehementer Vortrag folgt, mit den groben Stationen Finanzkrise – Goldman Sachs – Paulson – Krupp-Familie – zweiter Weltkrieg – Rüstungsindustrie – sieben Familien besitzen die US-Federal Reserve-Bank – Inflation – Hamsterkäufe – Anarchie – Umsturz und neue Ordnung. Ich bin zu verwirrt, um nach Einzelheiten zu fragen. Auch weil mein mein Fahrradhändler nicht nur Marx inhaliert hat, sondern auch Sokrates und dessen Fragetechniken. Glauben Sie mir: Wenn der Mann Sie mit bohrenden Augen anblickt und fragt „Wissen Sie eigentlich, wem die Fed gehört? Na?“, dann sagen Sie auch nichts mehr…
Im Grunde sollte er im Fernsehen auftreten. Schließlich macht er nur das, was auch die Vertreter öffentlich-rechtlicher Medien momentan tun: Sie, denen die Funktionsmechanismen globaler Finanzmärkte so fremd sind wie mir das Innere meiner neuen Nabenschaltung, tun so, als hätten sie „es schon immer gewusst“, und prophezeien, alles werde noch viel schlimmer. Und, ganz wichtig, signalisieren, dass Amerika an allem schuld sei und man nun schleunigst nach einer Alternative zum bösen Anglo-Kapitalismus suchen müsse.
Parallelen zu 9/11 tun sich hier auf. Uneingeschränkte Solidarität hin oder her: Auch damals spürte man, wie freudig viele Deutschen die Chance witterten, endlich auf Distanz zu den USA zu gehen. Bushs Irakkrieg erleichterte das. Auch heute geben sich viele Kommentatoren ihrer gehegten Vorstellung hin, es gebe einen kontinentaleuropäischen Sonderweg eines risikoärmeren und „gesünderen“ Wirtschaftens. Gerade in Zeiten wie diesen zeigt sich: Der Antiamerikanismus ist mehr denn je ein zentrales Moment deutscher Identitätsfindung.
Mein Fahrradhändler ist da weiter. Als guter Marxist hält er Europa für genauso verkommen wie die USA. Er schloss mit den Worten, heute zählten nur noch harte Werte wie Gold – oder eben Fahrräder. Vielleicht sollte ich noch mal rübergehen.