Antje Sievers / 16.01.2018 / 16:00 / Foto: Pixabay / 10 / Seite ausdrucken

Mein letzter Schulausflug

Diese Woche hatte ich einen Termin in einer Hamburger Behörde, deren Innenräume mir lang vertraut sind: Hier habe ich die ersten drei Gymnasialklassen abgesessen. Damals gab es noch derartig viele Schulbedürftige, dass die Unterstufen aus dem Hauptgebäude ausgelagert werden mussten. Schon ein paar Jahre später war das überflüssig. Mittlerweile ist die ganze Schule überflüssig; das Gymnasium Uhlenhorst-Barmbek mit der Eule im Wappen, nur einen Steinwurf vom Schauplatz des Giordano-Romans „Die Bertinis“ gelegen, existiert nicht mehr.

Auf der Suche nach dem ehemaligen Schulgelände stelle ich verblüfft fest, dass die Bäckerei an der Ecke jedenfalls noch da ist. Vom Schulgelände allerdings ist nichts mehr übrig. Dort, wo früher ein hohes Gitter die Schüler am Ausbüxen hinderte, stehen klotzförmige moderne Wohnhäuser, in einer Enge, die erraten lässt, dass man morgens problemlos den Belag auf dem Frühstücksbrötchen der Nachbarn identifizieren kann. Das historische Hauptgebäude soll angeblich nicht abgerissen worden sein. Aber wo ist es?

Das hier etwa, das große weiße Apartmenthaus? Vorsichtig schleiche ich den gepflasterten Fußweg inmitten der Grünanlagen bis zur hinteren Haustür und luge durch die Glasscheibe. Bingo.

Ein wahrhaft magischer Moment: Dort, rechts an der Wand, befindet sich tatsächlich eines der vier spiralförmigen Mosaiken des ehemaligen Schultreppenhauses, die Mathematik, Physik, Chemie und Biologie darstellend. Wie oft bin ich hier die Treppe hinabgetobt und nach der Pause wieder hinaufgeschlichen, heimlich nach dem Jungen spähend, in den ich wahnsinnig verknallt war, aber der natürlich mit meiner Freundin „ging“, andererseits die Avancen jener vermeidend, die es auf mich abgesehen hatten, die ich aber leider blöd fand. Wie wird man einen Typen wieder los, mit dem man auf der letzten Klassenfete unvorsichtigerweise rumgeknutscht hat?

Moderne Eltern würden Zeter und Mordio schreien

Nun, non scolae, sed vitae discimus. Was habe ich hier nicht alles gelernt! Allein drei Fremdsprachen. Ich lernte viel, wirklich viel, und dabei war ich keine Streberin. Den Aufbau von Tonleitern und das Partituren Lesen. Perspektivisches Zeichnen, Mosaikarbeit und das Kneten weiblicher Torsi aus Ton. Linolschnitt, der grundsätzlich für klaffende Fleischwunden sorgte – moderne Eltern würden Zeter und Mordio schreien.

Literatur – eine ganze Welt öffnete sich mir und versorgte mich fürs Leben. Teile aus dem Faust und dem Käthchen von Heilbronn kann ich heute noch auswendig: Ein Baldachin soll diese Scheitel schirmen, die einst der Mittag hinter mir versengt, Arabien soll sein schönstes Pferd mir schicken, geschirrt mit Gold, mein süßes Kind zu tragen ... wie kann man jemals etwas so Schönes vergessen? Als Mitglied des Schultheaters, vom Lehrer stolz „Das Ensemble“ genannt, lernte ich Büchner und Tschechow kennen und lieben. Shakespeare lasen wir selbstverständlich im Original. Was Gletscher in der Eiszeit aus Europa gemacht haben. Was die Boston Tea Party war. Und der dreißigjährige Krieg.

Wie Cortez unter den indigenen Völkern Südamerikas hauste. Was das Gegenteil von abstrakt oder absolut war. Und soviel mehr. Mathematik, die erste Spirale: Der Lehrsatz des Pythagoras, die binomischen Formeln, die Gaußsche Normalverteilung. Chemie: Mehr als das Periodensystem ist leider nicht hängengeblieben. Physik: Die Funktion von Motoren und Dampfmaschinen, Einfallwinkel gleich Ausfallwinkel, Last mal Lastarm gleich Kraft mal Kraftarm. Biologie: Die Spirale war ganz oben im Treppenhaus und stellte gleichzeitig die Evolution da. Sie endete mit dem Homo sapiens, dargestellt durch ein nacktes Pärchen wie Adam und Eva.

Die Zeiten haben sich geändert. Und wie. Neulich erzählte mir eine ehemalige Hamburger Lehrerin, dass unter Lehrern bereits diskutiert wurde, im Lehrplan sowohl die Evolution als auch das kreationistische Weltbild darzustellen – die Schüler könnten dann ja wählen, was ihnen besser gefiele. Ensthaft.

Schummeln und spicken war hohe Kunst

Die meisten Schüler waren früher evangelisch, einige katholisch, wenige muslimisch, eine jüdisch. Das interessierte niemanden, es war Privatsache. Mädchen mit Kopftuch gab’s kein einziges. Ein Transparent in der Eingangshalle, das den Schülern einen friedlichen Ramadan wünscht, wie heute an Hamburger Gymnasien üblich? Undenkbar. Kafkaesk!

Schummeln und spicken war hohe Kunst, denn Smartphones waren Zukunftsmusik. Eine Zukunftsmusik, die wir nie und nimmer für möglich gehalten hätten. Als sensationelle Neuerung gab es elektronische Taschenrechner – und selbst die läuteten für Kritiker quasi den Untergang des Abendlandes ein. Wenn mal von der Schule zuhause angerufen werden musste, dann ging das nur über das Schulsekretariat. In der Regel bedeutete das eine Katastrophe: Gebrochene Arme und Beine oder schwerste Vergehen wie Feuer legen oder mit Metallkrampen um sich schießen, sowas waren die einzigen Gründe.

Heute dürfen Mütter den gesamten Tag im Büro über von ihrer Brut angerufen, angesimst und angenervt werden. Ich höre es stets von einer Freundin: Die vier Söhne der Kollegin sind alle schon erwachsen, muss man dazu wissen. Die Tochter der anderen Kollegin zwar auch, aber das hat sie nicht davon abgehalten, Mama aufzufordern, doch mal einfach die Arbeit abzubrechen und sie zum Arzt zu fahren. Sowas hätten wir einerseits nicht gekonnt, aber mit Sicherheit auch nicht gewagt.

Als damals 1979 der große norddeutsche Schneewinter einbrach, war von derartiger Verpimpelung weit und breit noch nichts zu sehen. Meterhohe Schneeberge, eine ganze Woche schulfrei und die erste große Liebe, ein vor Khomeini geflohener iranischer Mitschüler, sowas vergisst man natürlich nicht.

Am Montag nach dem ersten Schneefallwochenende fuhren kaum noch öffentliche Verkehrsmittel. Offiziell schulfrei gab es aber erst im Laufe des Tages. Eltern zuckten ratlos die Schultern, rieten einem, noch einen Pullover mehr anzuziehen und halt zu Fuß zu gehen. Manche brauchten etwa zwei Stunden für diesen unvergesslichen Schulweg. Es war wie ein anderes Zeitalter.

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Leserpost

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Hubert Bauer / 16.01.2018

Ich habe es seinerzeit leider nicht auf das Gymnasium geschafft, weshalb ich ältere Leute (Ü 40) um das bewundere, was sie damals für eine breite und tiefe Bildung bekommen haben. Aber zumindest war zu meiner Zeit (vor 25 Jahren) ein Realschulabschluss im kaufmännischen Zweig mit einer Ausbildung zum Bürokaufmann/-frau von heute vergleichbar. Es ist schon ein Wahnsinn, wie das Bildungsniveau in Deutschland sinkt.

Reinhard Bartsch, Leipzig / 16.01.2018

Es war nicht alles schlecht! schön, dass diese Erfahrung in Ost und West gemacht wurden und uns geprägt haben. Den Fortschritt kann und soll man nicht aufhalten, aber die Dummheit, das schier unendliche Halbwissen und Google. Danke für diesen Artikel!

Karla Kuhn / 16.01.2018

“Manche brauchten etwa zwei Stunden für diesen unvergesslichen Schulweg.” Aus den meisten von uns sind aber auch bodenständige, normal denkende, aufgeschlossene, Menschen mit Herzenswärme und einer Portion Humor und Fröhlichkeit geworden. Warum ? Wir wurden nicht gepampert ! Wir waren patent, kreativ und Kichererbsen.

Gertraude Wenz / 16.01.2018

Zum Weinen schön, Ihr Artikel, Frau Sievers! Man möchte sofort zurück in diese alten Zeiten, die noch den Geist der Aufklärung in sich trugen. Ist das wirklich wahr, dass an deutschen Schulen überlegt wird, das kreationistische Weltbild den Schülern als gleichwertig dem evolutionären anzubieten? Ich hoffe immer noch, Sie haben sich einen kleinen Scherz erlauben wollen.

Hartwig Wehrstein / 16.01.2018

ich sehe jeden Tag Mütter die ihre Kinder in Kinderwägen durch die Innenstadt schieben und dabei irgendwelche wahrscheinlich total sinnlosen Meldungen auf ihren Smartphones entgegennehmen. Diese Mütter würden es nicht mal merken wenn ihr Balg an einer Ampel aus dem Wagen genommen würde. Die gleichen Mütter schreien aber Mordio wenn ihr Sven Michael oder ihre Sahrah Lu in der Kita auch nur einen Moment nicht die Aufmerksamkeit bekommt die der oder die kleine unbedingt benötigt um nicht irgendwann abgehängt zu werden. Einige Zeit später setzt sich die Geschichte in der Schule fort. Wenn der oder die Kleinen nicht der Unterrichtsvorstellung des gebeutelten Lehreres folgen wollen und zu spät kommen ihre Aufgaben nicht gemacht haben oder Desinteresse am Unterricht des Lehrers zeigen ist das in den Augen mancher Eltern das Entstehen einer eigenen Persönlichkeit und nicht Ungehorsam und Faulheit .

Dirk Jungnickel / 16.01.2018

Und mein Urgroßvater, der um die vorvorige Jahrhundertwende das gleich Gymnasium besuchte wie meine Wenigkeit vor 60 Jahren würde auch so manche Unterschiede heraus arbeiten. Aber das ist natürlich was völlig anderes. Damals hatten sie eben noch ‘nen Kaiser.

Klaus Klinner / 16.01.2018

Ich erinnere mich etwa an das Schulessen, wir hatten Wahlessen! Die Wahl bestand darin entweder zu essen, was es am Tresen auf den Teller geklatscht gab oder man konnte es einfach lassen. Montag gab es Suppe, Dienstag irgendetwas mit Fleisch, Mittwoch Eierkuchen oder Kartoffelpuffer, Donnerstag etwas angedeutet Vegetarisches und Freitag Fischstäbchen mit Kartoffelbrei. Vor einigen Monaten hatten wir 50jähriges Abi-Jubiläum. Fast alle leben noch. Und, wir hätten uns geschämt mit unseren Eltern Schulprobleme zu besprechen.

Dietmar Schmidt / 16.01.2018

Liebe Frau Sievers, sind das schöne Erinnerungen. Meine sind ganz ähnlich, da ich Jahrgang 1949 haben wir noch feste mit Rechenschieber und Tabellen hantiert. Man wurde nicht unbedingt mit Samthandschuhen angefasst, aber es war vieles irgendwie einfacher und unkomplizierter, als wie heute. Meine Kinder sind auch zurecht gekommen und gehen inzwischen gerade durchs Leben. Hoffentlich bleibt es so. Gruß D. Schmidt

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