Von Roger Schelske.
Kürzlich war wieder einmal Klassentreffen, das zwanzigjährige Abi-Jubiläum. Ich geh da immer ganz gerne hin, um ein paar Kumpels von früher zu treffen und zu sehen, wie sich die Mädels gehalten haben. Man unterhält sich nach all den Jahren auch recht nett mit Leuten, mit denen man in der Schule nicht viel zu tun hatte. Am Ende saß ich dann aber doch wieder mit denen zusammen, die früher in der Raucherecke standen, den Outlaws, die hauptsächlich damit beschäftigt waren, cool zu sein und den Rest der Klasse, die Streber und Langweiler, zu verachten. Inzwischen ist mir die Attitüde von damals ein bisschen peinlich. Trotzdem ist es irgendwie beruhigend zu sehen, dass auch aus den Strebern nichts Besonderes geworden ist. Die fleißigen Mädchen sind jetzt Lehrerinnen und diejenigen, die gut in Mathe waren, sind Ingenieure bei Daimler. Erstaunlich finde ich immer wieder, wie präsent die Schulzeit für manche Leute noch immer ist. Sie erzählen sich lustige Episoden von damals, als wäre es gestern gewesen. Für mich ist die Zeit längst abgeschlossen, tempi passati, interessiert doch niemanden mehr – dachte ich.
Die Schulzeit hat mich eingeholt. Immer öfter sehe ich mich zurückversetzt in den Klassenraum, in die letzte Reihe, von wo aus ich die Streber beobachte, wie sie die Finger strecken und mit wichtigem Gehabe trivialen Unsinn von sich geben, der irgendwie nachdenklich und kritisch klingen soll und für den sie dann belobigt werden: „Sehr guter Hinweis, Stefan, man muss auch an die Menschen in der Dritten Welt denken!“ Neuerdings spielt sich dieses Szenario in einem größeren Maßstab ab. Klimabewegte Pennäler recken Pappschildchen, auf die sie ihre wohlfeilen Parolen gepinselt haben. „Es gibt keinen Planet B“ – ein Klassiker aus der Bewegungszeit, deren ergraute Relikte ganz hingerissen davon sind, dass ihre Uralt-Sprüche noch einmal aufgewärmt werden. Andere Sprüche sind weniger angestaubt, aber auch nur mäßig originell: „Die Jahreszeiten sind unregelmäßiger als meine Tage“ steht da beispielsweise. Ja, diese kessen, frühreifen Mädchen gab es früher auch schon. Vorneweg marschieren die artigen Musterschülerinnen, dieselbe Sorte, die auch die Abi-Reden hält, mit ihren kritischen Mienen und den altklug vorgetragenen Floskeln von Betroffenheit und Weltrettung. Keine Frage, die Kids haben die Zeichen der Zeit erkannt. Sie haben gemerkt, dass moralisierender Unsinn nicht mehr nur bei linken Sozialkundelehrern gut ankommt, sondern man damit auch in der Öffentlichkeit richtig abräumen kann.
Die Streber und Poser sind plötzlich überall. Da ist zum Beispiel dieser Joe Kaeser, der im Dienste des Geschäfts regelmäßig den Russen, Chinesen und den Iranern seine Aufwartung macht, sich aber nicht entblödet, dem heimischen Publikum gegenüber als Kämpfer für Demokratie zu posieren. Oder dieser Wichtigtuer aus Schleswig-Holstein, Muttis treuester Dackel, der dem linken Zeitgeist hinterherhechelt, wo er nur kann. Und natürlich, nicht zu vergessen, das Männchen mit den peinlichen Popstar-Allüren im Außenamt, das neben dem Händeschütteln mit Schwulen-steinigenden, Israel-hassenden Mullahs noch Zeit findet, so aufrüttelnde Büchlein zu schreiben wie „Aufstehen statt wegducken: Eine Strategie gegen Rechts“ (Amazon-Rang: 238.439). Darin schreibt er: „Wenn rechte Hetzer oder Angstmacher zu Kundgebungen rufen, liegt auf der Hand, was zu tun ist: auch auf die Straße, runter von der Couch, raus aus dem Wohnzimmer. Hingehen, Haltung zeigen.“ Wow, eine derartige Anhäufung von Plattitüden muss man erstmal zustande bringen. Diese Typen halten sich jetzt für die großen Helden, weil sie Oberwasser in den Medien haben und von der Frau Oberlehrerin auf die Schulter geklopft bekommen: „Interessanter Vorschlag, Daniel! Eine Koalition mit der LINKEN ist im Moment zwar nicht opportun. Trotzdem, ein Fleißsternchen für den guten Willen und die korrekte Haltung!“
Billiger war Applaus nie zu bekommen
Aber es sind nicht nur die notorischen Streber, die sich aufplustern. Auch die Ruhigen und Unscheinbaren, die früher auf dem Schulhof brav in ihrer Ecke standen und die man aus Mitleid in Ruhe gelassen hat, machen plötzlich den Mund auf – gegen rechts natürlich. Ist klar, denn billiger war Applaus nie zu bekommen, und alle, die sich bisher immer weggeduckt haben, dürfen jetzt mal mitreden. Im Zweifel, wenn man fürs Argumentieren nicht eloquent und informiert genug und für den gepflegten Streit zu feige ist, dann reicht ein „Nazis raus!“, um auf der Gewinnerseite zu stehen. So kommt auch die letzte Pfeife mal zu einem kleinen Triumpf und ein bisschen Bestätigung.
„Nichts aus der Geschichte gelernt“, schreibt ein gewisser V.G. zum Europawahlergebnis in Sachsen bei tagesschau.de und sammelt damit die erwarteten Likes von Seinesgleichen ein. Ein anderer versucht es mit Anbiederung: „Man kann nicht genug betonen wie wichtig heutzutage der öffentlich rechtliche Rundfunk für die Pressefreiheit ist. Gut, dass wir ihn haben“. Ich will mir nicht ausmalen, wie es derartigen Schleimern auf dem Schulhof ergangen wäre. Nun aber werden noch die plattesten Floskeln und die primitivsten Ausfälligkeiten goutiert, solange sie nur die richtige Gesinnung erkennen lassen. Da wird mit der Meute geheult, was das Zeug hält, wie das eben so ist, wenn man sich hinter dem Lehrer, einer Regierung oder einer 8-Milliarden-Medienmaschinerie verstecken kann.
Und dann sind da noch die Wohlmeinenden unter den Doofen, die Schlimmsten von allen, die einem früher erzählt haben, wie schädlich Alkohol ist und dass man doch die Finger von den Drogen lassen soll. Mann, was haben die genervt mit ihrem moralisierenden Gehabe und ihrer völligen Ahnungslosigkeit. Die waren tatsächlich überzeugt davon, dass man sich Hasch in Spritzen verabreicht. Wenn man nicht aufpasste, wurde man als Haschischspritzer denunziert. Auch die sind wieder da. Jetzt schreien sie hysterisch „Nie wieder Auschwitz“ oder „Nie wieder Krieg“, wenn jemand vor den Folgen unkontrollierter Einwanderung warnt oder einen weiteren Souveränitätstransfer an die EU ablehnt. Rechte, EU-Kritiker, Populisten, Nazis – für die ist das alles dasselbe.
Nun steh ich wieder in der Raucherecke
Aber da sie sich für aufgeklärt halten, versuchen sie es trotzdem mit Überzeugung. Es sind diejenigen, die einen in Diskussionen verwickeln, die man sofort bereut, weil man merkt, dass man sich komplett im Kreis dreht und jedes Argument einfach nur abprallt. Man schaut diese Leute an und fragt sich, was man mit ihnen anstellen soll. Man könnte ihnen erzählen, dass man Haschisch nicht spritzt, sondern wahlweise raucht oder in Keksform verzehrt. Aber die Tatsache, dass man so etwas weiß, würde einen in ihren Augen ja erst recht zum Junkie machen. Man könnte auf die historischen Wurzeln des Nationalstaats verweisen und erklären, dass der EU die Voraussetzungen für die Übernahme weiterer staatlicher Funktionen fehlen. Aber damit wäre man schon in der EU-Skeptiker-AfD-Nazi-Schublade und müsste sich fragen lassen, ob man denn nicht gleich auch noch den Holocaust leugnen möchte. Die Sache ist aussichtslos, denn was auch immer man tun oder sagen könnte, es würde diese Freaks nur in ihrer Weltsicht bestätigen.
Ich dachte, ich hätte das alles hinter mir. Und nun steh ich wieder in der Raucherecke, der publizistischen, zusammen mit den anderen Outlaws und wir fragen uns, wo plötzlich all die Idioten herkommen und wie wir damit klarkommen sollen. Früher hatte man zumindest nach Schulschluss und am Wochenende seine Ruhe, und man wusste, nach dem Abi ist es vorbei, dann muss man sich nicht mehr mit den Dumpfbacken herumschlagen. Mit einigem Abstand hatte ich dann sogar geglaubt, ich hätte übertrieben mit meiner Arroganz, und im Grunde wären die doch alle ganz in Ordnung gewesen. Aber jetzt, zwanzig Jahre später, beginnt derselbe Film von vorne. Die Streber, die feigen Mitläufer, die moralisierenden Klugscheißer, sie alle sind wieder da und es ist kein Schlussgong, kein Wochenende und kein Abi in Sicht. Merkelismus ist wie Schule für immer. Wie wir da wieder rauskommen, weiß ich nicht, aber eines ist klar: Wir sind die Coolen.
Roger Schelske ist Politikwissenschaftler