Bei meinem letzten Klassentreffen, im Herbst 2015, waren es z. B. auch Industriekapitäne, die Unsinn verzapften wie “nun mal langsam, wir brauchen diese Leute” (O-Ton!) mit Bezug auf die damals aktuell hereinströmenden Versorgungssuchenden aus Afrika und Südasien. Zum Glück ist man mit Ende Vierzig alt genug, auch mal den Mund zu halten in der Gewissheit, dass die Widerlegung solch steiler Thesen durch die Realität ohnehin erfolgen wird.
Unsere DDR-Jugend war da etwas anders. Natürlich gab es auch bei uns die nervigen Streber und Dummschwätzer. Allerdings waren mein späterer Ehemann und ich in Spezialklassen: er an der Sportschule mit Einzelunterricht nebenbei zum Training, ich in einer Russisch-Klasse, in der sich regelmäßig die intelligenteren Schüler sammelten (den Russisch-Unterricht ab 3. Klasse nahm man für bessere Ausbildung und weniger Unterrichtsausfall gern in Kauf). Phrasendreschende Streber kamen bei uns praktisch nicht vor. Fast alle hielten sich bei politischen Themen zurück und sagten nur nach Aufforderung das, was der Lehrer hören wollte - schließlich wollte man sich ja nicht die Zukunft versauen. Rebellen gab es allerdings auch keine. Bei Klassentreffen stellt man fest, dass aus den meisten etwas vernünftiges (und unpolitisches) geworden ist: Ärzte, MINT, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater usw. Ein paar Lehrer sind natürlich auch dabei, aber auch die halten sich bei politischen Themen immer noch zurück. Linksgrüne Propaganda ist auf keinem Klassentreffen zu hören, ein paar verhaltene Stimmen gegen die Regierungspolitik schon eher. Also eigentlich alles wie zu DDR-Zeiten auch. Ansonsten teile ich Ihre Erfahrung: mit Ideologen kann man nicht diskutieren, sondern nur einen großen Bogen um sie machen. Gefunden habe ich sie bisher allerdings bisher nur unter den im Westen aufgewachsenen. Wobei ich die (Ex-)Stasi-Typen (die jetzt wieder groß im Kommen sind) natürlich auch zu meiden gelernt habe.
@Sheldon Cooper: Sie nehmen Anstoß an dem Satz “...die gut in Mathe waren, sind Ingenieure bei Daimler.” Ich habe das als Ausdruck von Anerkennung gelesen.
Rückblende: Lange Haare, Parka und „Ho-Chi-Minh“ auf den Lippen. Der Oktoberclub sang die wahren Hits und Ferien verbrachte man in einem Kinderfreundlichen Land mit FDJ-Aufsicht. Der Rote Punkt war nicht nur ein Mitfahrsignal, sondern ein Bekenntnis. Im Religionsunterricht hörte man erstmals von den Schmuddelkindern, von denen ein Herr namens Degenhardt krächzte, der später auch mal RAF-Verbrecher verteidigte, die man jetzt bei Wikipedia als „Bader-Meinhof-Gruppe“ (GRUPPE!) bezeichnet findet. Salvatore Allende war ein Held, Che sowieso und Traumgedanken sponnen Fäden zu dem sandinistischen Bauern in Nicaragua, um mit ihm die Weltrevolution zu starten. So gaben sie sich und dann begruben sie sich in einem Reihenhaus, das Mitgliedsbuch einer staatstragenden Partei unter dem Kopfkissen. (Der Ehepartner hatte das der Opposition, denn sicher-war-sicher). Nun sind sie älter geworden, schwadronieren bei Sekt und Kaviar über das Elend der Welt, dass die Armut in der Karibik ganz schrecklich sei, wie man es selbst vom Kreuzfahrtdeck aus gesehen habe. Sie winken den Schulschwänzern zu, die mit dem SUV zum Klimahüpfen fahren und sagen dass das mit dem CO² dringend geändert werden muss, wenn sie in den Kamin einen Holzscheit nachlegen. Heute wählen sie Grün, denn das beruhigt das Gewissen und entbindet sie von eigenem Tun und belastet auch nicht mit logischem Nachdenken. Das ist so ökologisch. Und so einfach. Sie stehen auch heute ihrer Raucherecke und ein Pfeifchen macht die Runde, wenn man das nächste „Teelicht-Halten-Gegen-Rechts“ beschwafelt. Aber nicht am kommenden Wochenende, denn da hat man einen Kurztrip noch Grönland geplant. Nachgucken ob der Schnee dort wirklich schmilzt….
Hatten vor einigen Monaten 50. Ungefähr die Hälfte des Jahrganges war gekommen. Davon die Hälfte “Jungs”. Seltsamerweise alles gestandene, alte, weiße Männer und alle davon stehen heute in der “Raucherecke”. Unsere Schule war naturwissenschaftlich orientiert, weshalb wir 1 und 1 zusammenzählen können mussten. Schwafeln war nicht gefragt. Lag es daran, dass ich mich zumindest bei den männlichen Schülern nicht an einen wirklichen Streber in unserer Klasse erinnern kann? Bei den “Mädchen” sah und sieht es naturgemäß ein bisschen anders aus. Damals wie heute.
Ein unfassbar guter und treffender Artikel!!! Seine Metaphern schlagen jede Pseudoargumentation und persönlichen Angriffe des Hypermoralikers. Alles Liebe aus der Raucherecke!
Ja, ja, ja, Sie haben sowas von recht. Man kann es nicht besser ausdrücken. Billiger war Applaus nie zu bekommen. Das trifft es auf den Punkt. All die drittklassigen Mimen, die C- bis Z-Promis haben jetz einen schönen großen Zug gefunden, auf den sie aufspringen können und ein paar Sekunden Ruhm ernten, genau wie die Streber von einst (bei mir waren es die fleißigen Melder im Statsbürgerkundeunterricht mit Aussicht auf den Posten des FDJ-Sekretärs), die sich dabei auch endlich mal furchtbar rebellisch fühlen können und gar nicht merken, wie sie schon wieder zu Mitläufern auf längst viel zu breit getretenen Pfaden werden.
Merkelismus ist, wie mit einer Zeitmaschine in die DDR zu reisen und dann zu merken, dass man vorher nicht getankt hat und der Treibstoff erst in 20 Jahren erfunden wird. Schöner Mist ist das.
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