Rainer Bonhorst / 06.12.2018 / 16:00 / Foto: Tim Maxeiner / 13 / Seite ausdrucken

Mein gemischter Freistaat

Bayern feiert zur Zeit hundert Jahre Bayern. Genauer: hundert Jahre Freistaat Bayern. Die Bayern gibt es natürlich schon viel länger. Schon so lange, dass man gar nicht genau weiß, wer oder was sie eigentlich sind. Auf jeden Fall etwas stark Gemischtes. Eine Melange, wie die Österreicher sagen würden, von denen ja viele auch zur bayerischen Groß-Ethnie gehören. Und weil die Bayern schon immer eine Mixtur waren und es heute noch mehr sind, möchte auch ich mich kurz als einen typischen Bayern outen.

Meine Mixtur: in Franken geboren, im Ruhrgebiet sozialisiert, in bayerisch Schwaben gelandet, und seither häufiger München-Besucher, wo ich Leberkäs mit Kartoffelsalat und Espresso mit Sambuca genieße. Espresso mit Sambuca? Auf das Italienische an Bayern komme ich noch zurück.

Die Landessprache spreche ich nicht. Sie ist mir im Ruhrgebiet verloren gegangen. Und wenn ich sie noch spräche, dann wäre es nur eine der drei Landessprachen, nämlich „frängisch“, oder genauer: nembercherisch. Diese Sprache, inzwischen auch die Sprache des bayerischen Ministerpräsidenten, hat mit dem eigentlichen Bayerischen so viel zu tun, wie das Bratwurstglöckle mit einer Radi-Brotzeit. Wo ich heute wohne, spricht man ungefähr wie Theo Waigel, also einer robuste Form des Schwäbischen mit kräftig gerolltem „R“, das mit dem eigentlichen Bayerischen so viel zu tun hat, wie Kässpatzen mit Semmelknödeln. 

Auch das echte Bayerisch ist keine einheitliche Sprachgruppe. Um nur ein Beispiel zu nennen: Zwischen dem oberbayerischen Staccato eines Edmund Stoiber und dem niederbayerischen Brummgesang eines Hubert Aiwanger klaffen sprachliche Abgründe. Aber wir wollen nicht übertreiben: Der Franke Markus Söder und der Niederbayer Aiwanger können sich, wenn sie langsam sprechen, was Aiwanger von Hause aus tut, als Regierungspartner durchaus ohne Dolmetscher verständigen.

Zugwanderer, auch "Preiß" oder gar "Saupreiß" genannt 

Zur bayerischen Melange gehört natürlich auch der sogenannte Zugereiste, in bayerisch-national gesonnenen Kreisen auch Preiß oder gar Saupreiß genannt. Auch davon gleich noch mehr. Hier zuerst der Hinweis auf den sogenannten vierten Stamm der Bayern: die vielen Sudetendeutschen, die nach dem Krieg großherzig und zähneknirschend im Freistaat aufgenommen wurden. Dieser Stamm ist in zweiter und dritter Generation sprachlich völlig integriert, spricht also die jeweils ortsübliche Mundart. Die Generation, die noch bämisch sprach, lebt nicht mehr, und mit ihr verschwand – wie weiter oben das Ostpreußische – ein Stück der deutschen Sprachvielfalt.

Dass diese Mixtur ein so ausgeprägtes „Mir-san-mir“-Gefühl entwickelte, gehört zu den Geheimnissen des menschlichen Daseins. Dieses Mir-san-mir-Gefühl entwickelt immer neue Formen. So ist es eine als unpassend empfundene, aber nicht zu leugnende Tatsache, dass in den Wohngebieten, in denen besonders viele Deutsche mit russischem Migrationshintergrund leben, die AfD besonders gut abgeschnitten hat. Ich weiß nicht, wie sich das anderswo erklärt. Aber hier im Süden liegt es auf der Hand: Die hiesigen Russlanddeutschen wollen nicht, dass sich zu viele Zuagroaste aus dem Nahen Osten in ihrem schönen Bayern breit machen. 

Inwieweit sich Bayerns Bürger mit türkischem Migrationshintergrund diesem Mir-san-mir-Gefühl anschließen, weiß ich nicht. Was sagt der Koran zum Dirndl mit augenfreundlichem Dekolletee? Sicher nichts Direktes. Und indirekt kann man bekanntlich alles – nicht nur das im Koran – drehen und wenden, wie es passt. Das Kopftuch ist in dieser Migrantinnen-Gruppe zweifellos sichtbarer als das Dirndl. Das kann allerdings auch daran liegen, dass eine dunkelhaarige Dirndl-Trägerin mit anatolischen Vorfahren von einem ebenfalls oft dunkelhaarigen Bayernmadl mit tiefen Wurzeln in der hiesigen Melange nicht so leicht zu unterscheiden ist. Ich selber könnte ganz gut mit einem Mädchen in Dirndl und mit Kopftuch leben – als gelungene Fortsetzung der bayerischen Mixtur. Aber das ist sicher eine Einzelmeinung.

Ausgerechnet ein Sozialist hat den Freistaat ausgerufen

So weit dieses Geplauder zur alten und neuen Melange namens Bayern. Als Freistaat ist das Gebilde, wie gesagt, erst hundert Jahre alt, weil damals etwas geschah, was man heute als ausgesprochen, ja geradezu schmerzhaft unbayerisch empfinden würde. Dass ausgerechnet ein Sozialist namens Kurt Eisner den Freistaat ausgerufen hat, gehört zu den gerne vergessenen Familiengeheimnissen des CSU-Staats von heute. Ein Sozialist bewegte den König, den dritten Ludwig, der so gerne im englischen Garten spazieren ging, zu (einer Art) Abdankung! Manchmal ist wahr, was nicht wahr sein darf. 

Es dauerte mehrere Jahrzehnte – mit einem unrühmlichen bayerisch-nazistischen Zwischenspiel – bis sich die CSU den Freistaat zu eigen machen konnte. Dass zwischendurch Adolf Hitler eine solche Vorliebe für Bayern hatte und auch so bayerisch brüllte, lag natürlich daran, dass sein österreichisches Braunau nur einen Steinwurf von der Grenze nach Bayern entfernt lag. Die Österreicher mussten ihn nicht weit herüberschieben, um ihn zum Deutschen zu machen. Aber das nur am Rande. 

Es ist schlimm genug für die heutige bayerische Seele, dass ein Sozialist den Freistaat gegründet hat. Dass dieser Sozialist aber auch noch ein gebürtiger Berliner war, kann nur als landsmannschaftliche Katastrophe beschrieben werden. Aber ist es andererseits nicht auch kennzeichnend? Am Anfang des Freistaats stand eine Figur wie sie weniger bayerisch nicht sein konnte. Und wie sie darum bayerischer nicht sein konnte.

Der Zustrom aus dem „preußischen“ Norden ist geradezu konstituierend für den Freistaat. Nicht wenige Bayern geben sogar zu, dass dieser Zustrom aus dem Norden ein Teil der Erfolgsgeschichte dieses Südlandes ist. Jedenfalls ist der Aufstieg Bayerns vom bedürftigen Agrarland zum reichen und technologisch führenden Bundesland phänomenal. Die CSU schreibt sich das selbst zugute und fühlt sich deshalb als bayerische Staatspartei. Ganz unrecht hat sie dabei nicht: Es gibt nichts besseres für eine Wirtschaft als eine Regierung, die sanft lenkt, im Übrigen aber den Kräften freies Spiel lässt. Das hat die Staatspartei meist getan. Und so entstand das Bayern von Laptop und Lederhose.

Nach kurzem Aufenthalt bereits in Lederhose

Die Lederhose und das volkstümliche Jodel-Bayern entlocken vielen Nordlichtern bis heute ein Lächeln. Aber das Laptop-Bayern ist unwiderstehlich. Und der eingewanderte Berlin-Bayer ist nach kurzem Aufenthalt bereits in Lederhose und kariertem Hemd auf der Wies'n zu besichtigen. Erst wenn er den Mund aufmacht, ist er als Nicht-Urbayer zu erkennen. Und selbst das ist keine hundertprozentige Sache mehr. Denn der großstädtische Urbayer entfernt sich immer weiter von seinem Dialekt, verliert nach und nach das gerollte „R“ und unterwirft sich dem Fernseh-Deutsch. So werden der lederbehoste Zugereiste und der Echtbayer in seiner Ledernen nach und nach austauschbar.

Die Melange wird immer weiter gerührt und wird auf immer neue Weise attraktiv. Das Schmunzeln der Nordbewohner wird nach der Südwanderung schnell zur Begeisterung. Das hat auch einen Grund jenseits von Laptop und Lederhose. Das bayerische Lebensgefühl ist unschlagbar. Vor allem im Süden der Freistaats hat sich eine Mischung aus transmontaner und bayerischer Lebensart entwickelt, wie sie genuss- und sinnenfroher kaum sein kann. Statt Laptop und Lederhose also Biergarten und italienisches Café, beides unter freiem weißblauen Himmel. Nicht wenige im Süden Bayerns behaupten fröhlich, in Norditalien zu leben. Und die Italiener fühlen sich wohl, weil sie das Leben in vollen und sonnigen Zügen genießen können und gleichzeitig eine halbwegs vernünftige Regierung haben. Eine Melange des Lebensgefühls also. 

Ja, kann denn nichts den Aufstieg des Freistaats bremsen und ihn aus seiner Führungsposition vertreiben? Hoffnung für Nichtbayern bietet derzeit nur der Fußball. Der FC Bayern droht sein Abonnement auf die Meisterschaft zu verlieren und könnte von Borussia Dortmund abgelöst werden. Also endlich eine Erfolgsgeschichte, in der Bayern das Nachsehen hat? Schau'n wir mal, dann seh'n wir schon. Wie der Bayer Franz Beckenbauer sagte. 

Egal, was geschieht: Mir san mir, wer immer wir auch sein mögen.      

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Gottfried Meier / 06.12.2018

Wenn die Saupreißn in Bayern immer mehr werden und irgendwann die Macht übernehmen, dann werden sie auch Bayern runterwirtschaften;-) In München haben sie bei der letzten Landtagswahl ja schon für einen Machtwechsel gesorgt.

Emanuel Franziskus Penzkofer / 06.12.2018

Sehrt geehrter Herr Bonhorst, die von Ihnen Beckenbauer zugeschriebene Formulierung lautet lautmalerisch einwandfrei bayerisch: “Schau mara moi, dann säng ma scho.”

Hans Schmitt / 06.12.2018

Den “mia-san-mia” Schmarrn deafan’S gern do lassn, wo er herkemma is und wo er a hin ghört: in Minga.

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