Quentin Quencher / 17.07.2016 / 14:17 / Foto: Tim Maxeiner / 1 / Seite ausdrucken

Mein Freund und die „Fehler beim Hinschauen”

Einer meiner Kollegen auf dem Bau pflegte über sich ungeschickt anstellende Lehrlinge zu sagen: „Der macht schon Fehler beim Hingucken"! Abends in der Kneipe wurde dies auf alle möglichen Leute angewandt. Er liebte seinen Spruch, es verging wohl kaum ein Tag, an dem er ihn nicht brachte. Niemand blieb davon verschont, irgendwann traf dieser Vorwurf jeden, zu sehr hatte sich mein Kollege in die Worte und ihre Bedeutung verliebt, als dass er davon lassen konnte.

„Fehler beim Hingucken", sind, so wie er es meinte, das mangelnde Verständnis für die Problematik einer Sache. Als Praktiker und Mann der Tat beurteilte er die Erkenntnisfähigkeit einer Person am Ergebnis dessen was der Erkenntnis folgt. Die folgenden Handlungen verrieten ihm, ob jemand richtig hingeschaut hatte.

Nun muss ich hier noch einfügen, dass mein Kollege nie ein Problem isoliert sah, immer war es eingebunden in Zusammenhänge wirtschaftlicher, technischer oder sozialer Art. Hatte zum Beispiel einer der Lehrlinge eine Arbeit genau so ausgeführt wie er es gelehrt wurde und entsprechend lange dazu gebraucht, so musste er sich keine Vorwürfe über mangelnde handwerkliche Fähigkeiten anhören, sondern solche darüber, dass er Aufgaben geradezu losgelöst von jedweden Zusammenhängen betrachtete und vor allem wirtschaftliche Belange außer acht ließ.

Die Kunst zu wissen, wann man bescheissen kann

Gut, mein Kollege drückte sich anders aus: „Du musst hier bescheißen, sonst bringen wir Geld mit“ waren eher seine Worte. Der Fehler beim Hingucken war hier, nicht zu sehen, dass bei ordungsgemäßer und vorschriftsmäßiger Arbeitsweise der Bankrott folgen muss. Die Kunst des guten Handwerkers, aus seiner Sicht, war eben auch, zu wissen, wann man bescheißen kann und wie, vor allem aber, wann man bescheißen muss. Hingucken bedeutete, etwas in seiner ganzen Komplexität zu erfassen, um daraus das für ihn bestmögliche Ergebnis zu erzielen. 

Schon beim Hingucken dachte mein Kollege an die Konsequenzen, und war, wer will es ihm verdenken, vor allem darauf bedacht, dass diese für ihn positiv ausfallen. Freilich ging das nicht immer gut aus. Als er derart auch mit dem Finanzamt verfahren wollte, hatte er die Steuerfahndung am Hals. Doch das ist noch mal eine andere Geschichte, weil, es kommt auch nicht so oft vor, dass die Steuerfahndung mit massiver Polizeiunterstützung anrückt und demjenigen, dem die Bude durchsucht wird, Fuß- und Handfesseln anlegt. Er konnte ziemlich rabiat werden, mein Kollege, wenn ihm was nicht passte. Die Behörden wussten das, ein paar Jährchen hatte er deswegen auch schon abgesessen. Wie gesagt, das ist noch mal ne andere Geschichte, auch meine Verwicklung darin. Es soll nur verdeutlichen, dass er, von wem auch immer, vorgegebene Richtlinien oder Gesetze eher als Hinweise oder Vorschläge betrachtete. Was für ihn wichtig war, entschied er selbst.

Das ist nun schon viele Jahr her, doch sein Spruch über die „Fehler beim Hingucken" ist mir im Ohr und im Kopf geblieben. Schaust du auch richtig hin? So frage ich mich oft. Kann ich überhaupt hinschauen ohne den Filter der eigenen Interessen oder Befindlichkeiten? Wahrscheinlich ist das unmöglich, eine Selbsttäuschung, wenn man glaubt, es ginge.

Etwas verguckt, zumindest bei dem Ding mit der Steuer

Selten aber wird interessengeleitetes Hingucken so offensichtlich wie bei meinem Kollegen, der Analyse, eigene Interessen, Handlungen und Konsequenzen zu einem Blick vereinte. Nur hatte er sich bei den Konsequenzen manchmal etwas verguckt, zumindest bei dem Ding mit der Steuer. Fehler beim Hingucken also, wie wir sie alle machen, in dem wir Konsequenzen falsch einschätzen.

Dieser multiple Blick auf die Dinge, immer Interessen, mögliche Handlungsoptionen sowie Konsequenzen eingewoben, ist der Normalzustand im Auge des Betrachters. Erst durch Übung oder das erlernen von Techniken in der Betrachtung und Analyse können wir die Phänomene einzeln und isoliert sehen. Menschen wie mein Kollege verachten dies, es widerspricht ihrer Lebenswirklichkeit und Lebenserfahrung. Wohl deswegen verabscheut der Praktiker akademische Diskussionen. Er will nicht wissen was die Dinge sind, sondern wie sie wirken.

Ich aber misstraue den Praktikern, sie mögen eine Lösung für Probleme gefunden haben, doch nicht selten bescheißen sie, damit das Ergebnis stimmt, es für sie positiv ausfällt. Dies ist nun aber etwas, was man nicht nur auf dem Bau beobachten kann. In Vorstandsetagen, in Parlamenten oder in der Familie ist das nicht viel anders. Wenn ich richtig hingucke sehe ich es. Mein Problem dabei ist nur, glaube ich ein Ding, ein Problem, ein Phänomen, seinem Wesen nach erkannt zu haben, so weiß ich doch nicht, wie ich damit umzugehen habe. Dafür brauche ich dann wieder den Praktiker, so einen wie meinen Kollegen, dessen Interesse am Problem vorrangig vom Eigennutz bestimmt ist, der aber wenigstens weiß, was geht und was nicht. Meistens jedenfalls.

Gehe ich also an einem Sonntag zur Wahl, dann ist das in etwas so, als wenn ich einen Handwerker wie meinen Kollegen beauftrage. Ich weiß, er bescheißt, meine Wahl fällt dennoch auf ihn, weil seine Interessen meinen Wünschen nützlich sind. Nur zuviel darf ich nicht erwarten, er wird mir die Dinge, die Probleme, die Phänomene nicht erklären und beschreiben können, dafür ist ihm sein Eigennutz im Weg. Aber wenn er einen plausiblen Weg hin zu einem Ergebnis aufzeigen kann, welches für mich akzeptabel ist, dann soll es mir recht sein.

Zuerst erschienen auf Glitzerwasser hier.

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

netiquette:

Andreas Volkmann / 17.07.2016

Wahl-o-Mat einmal anders? Aber wenn ich richtig hingucke, glaube ich das Ergebnis zu verstehen. Wessen Beschiss werde ich nach dem Wahltag am besten verkraften können? Auf keinen Fall den derer, die uns schon so lange beschissen haben und deren Beschiss ich nicht einmal vor mir selbst vertuschen kann.

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