Vor sechzehn Jahren, ich war damals eine frische Hörfunkjournalistin, schickte mich mein Sender ins Haus der Wannseekonferenz. Ich sollte dort einen jüdischen Geigenspieler interviewen, der aus Kanada angereist war, um deutschen Musikstudenten Unterricht zu geben - in Kompositionen aus Theresienstadt.
Ich kannte Juden bis dahin nur aus Büchern und Filmen und hatte die Phantasie, sie würden mir, kaum hätten sie mich als Deutsche durchschaut, die ganze Shoah um die Ohren schlagen! Denn ich war ja schuld an allem. Das hatte man mir ja beigebracht, im Elternhaus, in der Schule, den Medien. Ich war natürlich nicht konkret schuld, aber in meiner Seele, ganz dunkel und tief drinnen. Wir Deutschen haben uns das beigebracht.
Paul Kling war aber nicht nur Jude, er hatte Auschwitz überlebt. Vor lauter Aufregung las ich in der kurzen Zeit, die mir vor dem Konzert der Studenten, der Pressekonferenz und dem Interviewtermin noch blieb, den ganzen Ordner aus dem Archiv durch und saugte alle Fakten in mich auf, um bloß keinen Fehler zu machen.
Nachdem sich der Rummel gelegt hatte und die anderen Journalisten fort waren, sollte das Interview mit Paul Kling beginnen. Während ich mein Mikrophon aufstellte, fragte ihn ein Mitarbeiter, ob er nicht mit den anderen zu Mittag essen wolle.
„Ach, ich brauche nichts“, sagte Paul Kling freundlich. „Ein Apfel später würde mir reichen.“
Erst lange danach machte ich mir klar, dass Paul Kling nach den Anstrengungen des Tages, dem Musikunterricht, dem Konzert und der Pressekonferenz, unmöglich nicht hungrig gewesen sein kann. Er hätte bestimmt eine Pause gebraucht. Stattdessen schützte er mich, eine junge, unbedeutende Radioreporterin, vor dem unangenehmen Gefühl, einen betagten Herrn um sein Mittagessen gebracht zu haben.
Das Interview dauerte viel zu lange. Und nicht nur die Fakten machten mich fertig, sondern auch meine Anspannung. Die Kollegen im Sender spotteten später, ich hätte mich angehört, als wäre ich selbst in Auschwitz gewesen.
Paul Kling erzählte geduldig. Von seiner Zeit als Geigenwunderkind bei den Wiener Symphonikern. Wie er nach Theresienstadt kam. Wie er bei den Komponisten auch dort lernte und wie sie die Oper „Der Kaiser von Atlantis“ aufführen mussten, das Ghetto sollte ja heiter wirken. Wie die Musiker nach Auschwitz deportiert und vergast wurden. Wie er in der Baracke Geige übte, ohne Geige natürlich. Wie er überlebte. Ich wollte wissen, was das Schlimmste gewesen sei, das ihm in Auschwitz widerfahren war.
Paul Kling sah mich freundlich an und beugte sich vor.
„Ach“, sagte er sanft, „natürlich kann ich Ihnen das alles erzählen, wenn das wichtig ist für Sie. Aber wissen Sie, Sie sind noch so jung, ich möchte Sie damit nicht belasten.“
Mit diesem Satz hat Paul Kling mich geheilt. Jede Befürchtung, tief in mir könnte irgendwas Nazihaftes, KZ-Wächterinnenhaftes, Ekelhaftes verborgen sein, weil ich Deutsche bin, und ich müsste es unter Kontrolle halten, indem ich mir ständig und immer wieder die furchtbaren Konsequenzen des Nationalsozialismus vergegenwärtige, löste sich und kam nie mehr zurück.
Mein Leben lang hatten die Deutschen dazu aufgerufen, mir Auschwitz immer wieder vor Augen zu führen, „damit sowas nie wieder passiert“. Und er, der Auschwitz überlebt hatte, blieb ganz gelassen. Er befreite uns beide von Klischees und machte uns wieder zu Menschen. Ich war nicht mehr reduziert auf die Rolle der Nazierbin. Er war nicht mehr reduziert auf die Rolle des Auschwitzopfers. Ich war fast noch ein Mädchen, und er war ein Gentleman.
Ich sage natürlich nicht, dass die Geschichtsforschung und das Gedenken nicht wichtig sind. Doch die Behutsamkeit ist es auch, sie erst macht uns empfindsam für das Leid der anderen. Sie zeigt uns, wer sie und wer wir wirklich sind. Ich habe an jenem Tag nicht nur was über Theresienstadt und Auschwitz erfahren. Sondern viel mehr über Güte und Großmut.
Ich weiß seitdem, dass ich mich schützen darf, so wie ich es will und auch brauche. Ich darf wegschalten, wenn im Fernsehen Dokumentationen über Unmenschlichkeit und Grausamkeit laufen. Ich darf die Berichte und die Fotos in der Zeitung überblättern. Ich darf Gedenkstätten meiden. Ich darf sogar heute sagen: Ich halte das nicht aus.
Mein Herz ist dadurch nicht enger geworden. Das verdanke ich Paul Kling. Ich darf es öffnen, wann ich es will, und darum kann ich das auch. Und es zerreißt mich jedesmal.
Ich wünschte, meine ganze Generation wäre irgendwann Paul Kling begegnet. Vielleicht würden dann widerliche Begriffe wie „Auschwitzkeule“ und „Schlussstrichdebatte“ nicht mehr fallen, weil unsere Herzen geschützter und damit offener wären, und weicher. Vielleicht müssten wir dann nicht ständig maskenhafte Kranzniederlegungsgesichter ziehen und Labersätze verwenden, die mit dem unerträglichen „Gerade wir als Deutsche“ beginnen. Wir würden einfach nur hin und wieder weinen.
Paul Kling ist vor zehn Jahren gestorben. Ich habe mich nie bei ihm bedankt und mir das nie verziehen.