Gastautor / 10.12.2013 / 21:25 / 9 / Seite ausdrucken

Mein Abschied von der „Süddeutschen” (1)

Von Till Schneider

Ich bin gerade im Trennungsjahr. Also in jener heiklen Phase, in der die beiden Parteien „... prüfen sollen, ob wirklich alles aus ist. Ist nichts mehr zu retten, braucht es Zeit, um sich vom anderen in jeder Hinsicht zu lösen”, so ein einschlägiger Web-Artikel über Scheidungsfragen. Doch heißt es dort auch: „Anwälte erleben allerdings durchaus, dass Ehepartner sich wiederfinden. Ein Versöhnungsversuch kann bis zu drei Monate dauern, ohne dass das Trennungsjahr unterbrochen wird. Gehen beide dann doch auseinander, gilt nach wie vor der bisherige Zeitpunkt der Trennung. Wenn beide länger zusammenbleiben, bevor sie sich trennen, beginnt alles wieder von vorn.”

Heißt für mich: Wenn ich jetzt nicht aufpasse, war die Kündigung meines „Süddeutsche”-Abonnements für die Katz, weil man mir die Lektüre der noch ausstehenden, bereits bezahlten Ausgaben als „Versöhnungsversuch” auslegen kann. Da ist also Vorsicht geboten. Und so bemühe ich mich jeden Morgen nach Kräften, meine Noch-Ehefrau nur flüchtig und schräg von der Seite her anzuschauen. Was aber nichts ändert, denn ich weiß trotzdem ganz genau, was sie denkt. Mein in neun Ehejahren trainierter Geist ergänzt jeden noch so kleinen SZ-Textschnipsel, der mir beim Durchblättern ins Auge fällt, mit erschütternder Präzision. Ich habe Stichproben gemacht.

Und das ist natürlich auch der Grund für meine Kündigung: Hat man den General-Algorithmus eines Blattes einmal geknackt, dann könnte man dieses Blatt ab dato auch selber schreiben, wenn man nichts Besseres zu tun hätte. Denn der Algorithmus besorgt ja die Umrechnung allen Geschehens in das entsprechende Weltbild, und zwar – entscheidender Punkt – vollautomatisch und anstrengungsfrei. Ich könnte mich also als „SZ-Automat” o.ä. auf den Jahrmarkt stellen und ganz entspannt Extrakohle einfahren. Aber leider steht dem mein Naturell entgegen: Wenn mir langweilig wird, werde ich unausstehlich. Das würde der Kundschaft nicht entgehen.

Es soll nun nicht gesagt sein, dass jedes Blatt einen solchen Algorithmus hat. Aber die SZ, die hat eben einen – wobei für ihren konkreten Inhalt der Klassiker gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Dies wiederum einer der Gründe dafür, dass ich die SZ nicht schon viel früher gekündigt habe. Es gab doch immer wieder klasse Artikel darin. Ach! Da ergreift’s mich mit wildem Weh: Willi Winkler, Burkhard Müller, Susan Vahabzadeh – ich werde euch vermissen! Mal schauen, ob ich nicht auch in Zukunft das eine und andere von euch online schmarotzen kann, oder im Kaffeehaus! Und, Marc Felix Serrao: Bleiben Sie standhaft! Widerstehen Sie der Macht des Algorithmus! Denken Sie weiterhin selbst – und wenn man Sie dafür feuert! SIE finden auch woanders einen Job, Mensch! Wünsche ich Ihnen jedenfalls von Herzen!

Ein weiterer Grund für mein zähes Festhalten an der SZ gleicht aufs Haar dem, der mich – nicht immer, aber durchaus öfter – den „Tatort” gucken lässt: soziologisches Interesse. Meint insbesondere: Knallharte Privatstudien zum Vordringen des rot-rot-grünen Top-Down-Gutmenschentum-Verordnungswesens (schwarz gibt’s ja nicht mehr) bis in die letzte Ritze der Gesellschaft, und bis hinunter zum gemeinen Kriminalkommissar oder Journalisten, die heute ganz oft weiblich sind. (Wobei der gemeine Kriminalkommissar nur im TV ganz oft weiblich ist. Das ist eine staatlich geprüfte Tatsache. Im Journalismus hingegen muss nichts staatlich geprüft werden, da liegen die Verhältnisse offen zutage.)

Und was die SZ angeht, kann ich sagen: Nirgendwo sonst als bei ihr hätte ich „political correctness” derart gründlich erlernen können. Dies zwar zu dem Zweck, immer nur noch fieser das Gegenteil von PC zu praktizieren, aber genau deshalb musste ich mir ja die Gesetze der PC brutalstmöglich aneignen. Da sollte es nachvollziehbar sein, dass ich mir ein Avantgarde-Blatt gehalten habe und nicht irgendwas Lauwarmes, Halbgares. (Gut, zugegeben: Zunächst habe ich die SZ noch anders genutzt. Aber man reift eben, und wächst an seinen Aufgaben. Außerdem: „Wer in der Jugend nicht links ist, hat kein Herz; wer im Alter noch links ist, hat keinen Verstand.” Es ist nach wie vor strittig, ob dieses Sprichwort von Bertrand Russell, Georges Clemenceau oder Winston Churchill stammt – hab’s eben online in der SZ nachgelesen! –, aber letztlich kommt’s ja auf den Inhalt an.)

Noch sind es etliche Wochen, bis ich wieder nur noch eine Tageszeitung in meinem Briefkasten vorfinden werde. In dieser Zeit gedenke ich, würdevoll Abschied zu nehmen von „Tante Süddeutsche” – immerhin der auflagestärksten Qualitätszeitung Deutschlands. Ich habe mir vorgenommen, meine Gedanken, Gefühle, Abschiedsschmerzen dem hier begonnenen Tagebuch anvertrauen; ich will in Erinnerungen schwelgen, will meine Leserbriefattacken Revue passieren lassen (einschließlich persönlicher Antwortschreiben bis hin zum Chefredakteur), will darüber meditieren, weshalb diese Leserbriefe immer seltener abgedruckt wurden (eine Zeitlang war ich sozusagen Stammautor!), und ich will auf diese Weise auch gleich mein altes Ich zu Grabe tragen. Andernfalls ich ja nur ein trüber Gast auf dieser dunklen Erde wäre. So weit erstmal meine guten Vorsätze fürs alte Jahr.

+++ Wird vermutlich fortgesetzt +++

Till Schneider, geboren 1960, ist Pianist und Autor. Er studierte Musik, Journalistik und Psychologie.

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Stefan Petzuch / 11.12.2013

“Es ist nach wie vor strittig, ob dieses Sprichwort von Bertrand Russell, Georges Clemenceau oder Winston Churchill stammt” In der Liste fehlt noch George Bernard Shaw, dem es mindestens ebenso häufig zugeschrieben wird.

Michael Lorenz / 10.12.2013

Für mich ist nur schwer nachvollziehbar, wieso der Abschied von einem solchen Blatt schwerfallen kann - ein Blatt, das z.B. folgendes schreibt: “Kein Satz wird so häufig mit dem amtierenden Präsidenten Irans, Mahmud Ahmadinedschad, assoziiert wie dieser: Israel muss von der Landkarte radiert werden. Das Problem ist nur - er hat diesen Satz nie gesagt. Ahmadinedschad hat die Worte für “map” und “wipe off” nie benutzt. ” *) … während die Neue Züricher Zeitung vermeldet: “Khamenei, das geistliche Oberhaupt Irans, äusserte sich auf einer propalästinensischen Konferenz in Teheran. «Wir fordern Freiheit für Palästina, nicht für Teile von Palästina», sagte er. «Jeder Plan, der Palästina teilt, wird zurückgewiesen.» Palästina erstrecke sich vom Jordan bis zum Mittelmeer. Mit einer Zwei-Staaten-Lösung würde man den Forderungen der Zionisten nachgeben, erklärte Khamenei weiter. Israel bezeichnete er als Krebsgeschwür. ” **) Einem Blatt, dass sich regelmäßig derartige Versuche des ‘Betreuten Denkens’  seiner Leserschaft leistet - zudem hier auch noch in so offensichtlich israelfeindlicher Absicht - , würde ich nicht nur schlagartig den Rücken kehren, sondern mich für den Status des einstigen Lesers jahrelang schämen. Und ich weiß, wovon ich rede: ich habe einst die Grünen gewählt - mehrfach - und bin verzweifelt auf der Suche nach einem Adressaten, bei dem ich dafür um Vergebung bitten kann ;-) ————————————————————————- *) Süddeutsche Zeitung online - “Der iranische Schlüsselsatz” **) Neue Zürcher Zeitung online - “Iranischer Ayatollah lehnt Zwei-Staaten-Lösung ab”

Gerhard Keller / 10.12.2013

Das funktioniert übrigens auch mit der ZEIT. In meinem Abschiedsbrief im Jahr 1998 habe ich geschrieben: <Beginn des Briefs an die ZEIT> Aus einer Literaturzeitschrift: “Der negative Blick auf die Welt ist das Signum der Zeit.” Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft 1983: “Noch nie waren so gut versorgte Menschen so sehr in Abbruchstimmung.”                                               Cees Nooteboom: “In diesem Moment schreibt jemand in Usbekistan oder in Simbabwe ein Buch, in dem mehr klar wird über das Leben auf der Erde als aus einem Jahr Fernsehen und einer Tonne Zeitungen.” Sehr geehrte Damen und Herren, meine ZEIT-Lektüre werde ich jetzt nach vielen Jahren beenden. Ich werde meine Zeit stärker auf Aktivitäten konzentrieren, die für mich einen höheren Wirkungsgrad haben. Ohne große Nachforschungen kann ich Folgendes sagen: Der beste Artikel war der Leserbrief eines badischen Kaufmanns vor einigen Jahren. Auf einen Artikel des zuständigen Ressorts, bei dem eigentlich schon die zugehörige Grafik im Widerspruch zum Inhalt eine reiche und sozial ausgeglichene Gesellschaft in Deutschland zum Ausdruck gebracht hatte, schrieb er, daß er selbständiger Kaufmann sei und sich bisher für recht wohlhabend gehalten habe. Nun finde er sich bei drei Viertel des Durchschnittseinkommens wieder. “Bin ich zu anspruchslos, oder hat hier jemand falsch gerechnet?” fragte er die ZEIT. Den doofsten Artikel habe ich erst vor kurzem in der ZEIT gelesen: Er handelte von den Gründen, die Deutsche bewegen auszuwandern. Beide Artikel bringen die Haltung der ZEIT sowie die Erwartungshaltung, die sie bei ihrer Zielgruppe voraussetzt, exakt zum Ausdruck: der Brief des badischen Kaufmanns, indem er dem Artikel über die drohende Verelendung einfach die elementare Wahrheit über seine eigene materielle Existenz entgegensetzt; der andere, indem er genau entlang der Erwartungshaltung absoluten Blödsinn produziert. <Ende des Briefs an die ZEIT>

Ronald M. Hahn / 10.12.2013

Till Schneider, halt durch!!!

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