Nach einem Besuch in London wurde mir klar: Die deutsche Politik der künstlichen Verknappung und des Flügelstutzens ist eine Sackgasse. Eine ABBA-Show bringt dich da auf ganz andere Gedanken.
Die letzten zweieinhalb Jahre waren wohl für die meisten Menschen alles andere als einfach. Die Corona-Politik hat global ihren Tribut gefordert, und nun stapeln sich ökonomische Probleme, die durch den Ukrainekrieg noch befeuert werden. Deutschland unternimmt gerade das Abenteuer, auf russisches Gas zu verzichten und gleichzeitig sowohl ohne Kohle- als auch Atomkraft durch den Winter kommen zu wollen. Ein Roulettespiel mit unser aller Wohlstand. Wie soll man als einzelner Bürger gegen diese wahnwitzigen Beschlüsse ankommen?
Aus meiner Sicht liegen die Probleme in Deutschland tiefer. Dies zumindest wurde mir deutlich, als ich kürzlich mit meinem Freund für ein paar Tage nach London reiste. Wir ahnten natürlich nicht, dass wir genau eine Woche vor dem Tod der Queen zu Gast in der britischen Hauptstadt waren.
Grund für den Kurztrip war der Besuch einer der ABBA-Shows, die seit diesem Mai in einer eigens gebauten Arena mehrmals pro Woche stattfinden. Die Tickets hatten wir vor ziemlich genau einem Jahr gekauft, und ich weiß noch, dass ich bei der Buchung davon ausging, um diese Zeit sowieso nicht nach London reisen zu können. Ein Ausweg aus dem Karussell der Corona-Politik schien zum damaligen Zeitpunkt nicht in Sicht, geschweige denn, eine derartige Massenveranstaltung wie in alten Tagen erleben zu können. Umso glücklicher war ich, als wir schließlich im Flieger für ein verlängertes Wochenende saßen.
Eine entspannte Lebendigkeit
Ich war bereits zweimal zuvor in London gewesen und wusste, dass ich diese Stadt toll finde. Doch als wir ankamen, fremdelte ich ungemein mit meiner neuen Umgebung. Und dabei gefiel mir London bei diesem Besuch besser als je zuvor.
Wir wohnten in einem schönen Hotel in der Nähe des Towers, spazierten am ersten Abend über die hell erleuchtete Tower Bridge, die Uferpromenade entlang und setzten uns auf die Außenterrasse eines Pubs. Wir beobachteten die gegenüberliegende Skyline aus wirklich geschmackvollen Hochhäusern (wie zum Beispiel „the shard – die Scherbe“), die sich harmonisch ins übrige Stadtbild einfügen, und fragten uns, warum Berlin stattdessen eine Bausünde nach der anderen produziert. Um uns herum herrschte eine entspannte Lebendigkeit, die uns in den nächsten Tagen mehr und mehr ins Auge fiel und an die wir als geschädigte Bewohner der deutschen Hauptstadt, in der alles immer anstrengender und komplizierter zu werden schien, überhaupt nicht mehr gewöhnt waren.
Am nächsten Tag hatte ich den verwegenen Gedanken, auf die Suche nach neuen Schuhen zu gehen, weil zu dem von mir erdachten ABBA-Outfit leider keiner meiner mitgebrachten Treter passte. Mein Freund zeigte sich äußerst kooperativ, jedoch musste ich seine Geduld keineswegs überstrapazieren, denn im ersten Geschäft, das wir zufällig betraten, wurde ich fündig. Statistisch gesehen ist dies eigentlich in Sachen Schuhkauf unmöglich, nicht zuletzt, weil ich außerdem noch eine perfekt passende Tasche fand. Was mich jedoch wirklich sprachlos machte, waren die Verkäuferinnen, die um mich und die anderen Kunden herumwuselten und dabei eine emsige Freundlichkeit zur Schau trugen, die ich wirklich noch nie erlebt hatte, schon gar nicht in Berlin. Britische Höflichkeit at its best – und das in einem ganz normalen Schuhgeschäft!
Doch das eigenartige Gefühl blieb, auch als wir anschließend durch Harrod’s bummelten, das himmlische Café „Peggy Porschen“ besuchten (ganz in rosa gehalten, mit Kunstblumen und lebensgroßen Einhörnern dekoriert, sagen Sie nichts), den Abend in Chinatown ausklingen ließen und durch das Londoner West End mit seinem Broadway-Charme und seinen viele Theatern flanierten. Wir fragten uns unweigerlich, wann wir in Berlin zuletzt ein so pulsierendes, aber gelassenes Treiben beobachtet hatten. Vor allem überlegten wir, wann wir in der angeblichen deutschen Party-Hauptstadt das letzte Mal abends so viele junge Leute auf einem Haufen gesehen hatten. Was mir vor allem ins Auge fiel, war, dass die Menschen auf den Straßen und in der U-Bahn viel zufriedener wirkten als die Leute, die mir in Berlin begegneten. Bildete ich mir das ein?
Bereit für ABBA
Am nächsten Tag, dem Tag des ABBA-Konzertes, platzte bei mir schließlich der Knoten. Tagsüber besuchten wir die Anlage des Towers, auf deren Areal man wirklich einen ganzen Tag verbringen kann, weil es so viel Geschichte zu entdecken gibt: Die Begründung der Anlage durch Wilhelm den Eroberer, die Reihe berühmter Hingerichteter wie Anne Boleyn oder die Ausstellung der Kronjuwelen. Als ich diese bewunderte und mich mit der Krönungszeremonie befasste, fragte ich mich ironischerweise, wann diese Insignien wohl das nächste Mal zum Einsatz kommen würden. Wie dem auch sei, die altehrwürdigen Gemäuer, die neben einer glanzvollen Vergangenheit auch viel Schauriges gesehen hatten, schienen mir mein eigenes Problem zu spiegeln: Ich war auf Düsternis abonniert. Und die Londoner Heiterkeit überforderte mich offenbar.
Dieses Eingeständnis erschien mir zunächst unangenehm, da ich mich im Grunde als positiv eingestellten Menschen wahrnehme. Doch Corona-Politik hin, Energie-Desaster her: Unabhängig von meiner eigenen Befindlichkeit schien die Stimmung in Deutschland oder zumindest in Berlin einen traurigen Tiefpunkt erreicht zu haben, der offensichtlich auf mich abfärbte. Auch wenn durch die Touristenbrille immer alles schöner aussieht, als es ist: Wie mir auch mein Freund bestätigte, erschien London voller Vitalität, während Berlin im Vergleich dazu ein Dasein in der Dauerdepression zu pflegen scheint. Der Spaßfaktor war auch vor Corona in der deutschen Hauptstadt nicht mehr besonders hoch gewesen. Und was die Maßnahmen anbelangte, spielten die meisten Länder der Welt verrückt, auch England stellte hier keine Ausnahme dar. Doch hinsichtlich der Verbissenheit und der Liebe zur Unterwerfung hatten wir Deutschen wohl wieder mal ein Glanzstück abgeliefert.
Diese Reflexion führte jedenfalls dazu, dass ich mich auf das Londoner Stimmungslevel „eingrooven“ konnte und abends in genau der richtigen Verfassung für ABBA war – und für das Paillettenkleid, das ich passenderweise tragen wollte. Voller Vorfreude machten wir uns auf den Weg zur Show, je mehr wir uns der ABBA-Arena näherten, desto mehr Menschen, vor allem Frauen, fielen uns auf, die ebenfalls bunt und fröhlich gekleidet waren. Viele kamen wie ich in Pailletten, manche in bunten 70er-Jahre-Overalls mit Schlaghosen – eine Gruppe von Freundinnen hatte sich sogar in Agnetha-Lookalike-Outfits des berühmten Waterloo-Auftritts beim Grand Prix von 1974 geworfen. Einerseits waren viele Leute zwischen 50 und 60 gekommen, die ABBA noch aus ihrer Jugendzeit kannten, andererseits waren ungefähr ebenso viele Teenager und junge Erwachsene dabei: Teilweise hatten Mütter ihre Töchter mitgenommen, aber es waren auch einige junge Leute ohne erkennbaren Erziehungsberechtigen zu sehen.
„Knowing me, knowing you“
Über die ABBA-Konzertreihe, die von „ABBA-taren“, also voll animierten, jugendlichen Versionen der ABBA-Mitgliedern zur Musik einer Live-Band bestritten wird, ist bereits viel geschrieben worden. Gespannt standen wir in einem Meer von erwartungsvoll lächelnden Menschen – und grinsten uns ebenfalls an. Für uns war es ein epischer Abend. Während der 100 Minuten des Konzertes herrschte eine sehr bewegende, emotionale und ausgelassene Stimmung im Publikum. Die ABBA-Hologramme wirkten von Weitem erstaunlich authentisch, auf den Bildschirmen sah man natürlich, dass es sich um digitale Animationen handelte. Doch dies tat dem Ganzen überhaupt keinen Abbruch. Alles fühlte sich trotzdem sehr echt an. Wie die meisten Anderen auch, tanzte ich einerseits ausgelassen und gab mich andererseits der Rührung hin. Bei „Knowing me, knowing you“ stiegen mir Tränen in die Augen. Im selben Moment sagte ein etwa 15-jähriges Mädchen hinter mir zu seiner Freundin: „Man muss einfach weinen, man kann nichts dagegen tun.“ Als hätte sie meine Gedanken ausgesprochen.
ABBA ist ein Mythos, der in dieser Form wohl einzigartig ist, weil es auch von den größten Künstlern nur die wenigsten schaffen, derart zeitlos zu sein, dass sich immer wieder neue Generationen in ihre Musik verlieben. ABBA jedenfalls ist mit dieser Show einen Schritt der Unsterblichkeit nähergekommen. Planmäßig läuft die Konzertreihe im kommenden Mai aus. Eine Wiederaufnahme an anderen Orten ist vorläufig nicht vorgesehen. Aber wer weiß.
Im Programmheft zur Show heißt es von Produzentenseite über den Beginn des Projektes im Jahr 2016: „Ein Haufen Leute saß um einen Tisch herum mit nichts als einer vagen Idee. Wir begannen, alles auszuloten. Gibt es schon eine Technologie, die das umsetzen könnte, was wir uns vorstellen? Nein? Gibt es denn jemanden, der so etwas für uns erfinden könnte? (…) Manchmal war es schwierig, stressig und anstrengend, aber es hat immer Spaß gemacht. Es war immer ein Abenteuer.“
Wachstum, Entwicklung, Lernen, Veränderung
Wäre ein solches Projekt, ein solcher Pioniergeist heutzutage noch in Deutschland denkbar? Kann man sich den Berliner Senat dabei vorstellen, binnen kürzester Zeit den Bau einer Arena für ABBA zu ermöglichen, um eine neue Konzert-Technologie umzusetzen? Und das Ganze auch noch freudig zu begrüßen? Wohl eher nicht. Die Grünen und mittlerweile auch die übrigen Regierungsparteien träumen von allem Möglichen, nur nicht vom Fortschritt.
Im Namen der Rettung der Welt versucht man uns weiszumachen, dass der Mensch vom Verzicht, von der Einschränkung, vom Kleinmachen leben kann. Doch ich denke, dass unsere Natur genau das Gegenteil verlangt. Wachstum, Entwicklung, Lernen, Veränderung. Das Leben ist Bewegung, der Tod ist Stillstand. Unsere Politik der künstlichen Verknappung und des Flügelstutzens führt unser Land in den klinischen Tod.
Nach unserer ABBA-Erfahrung waren wir endgültig bester Stimmung und verbrachten zwei weitere, fröhliche Tage mit Sightseeing. Nach Berlin zurückgekehrt, fühlten wir uns, als wären wir in eine zähe Masse geraten, durch die wir uns nur mit großer Kraft bewegen können. Nun spürte ich den umgekehrten Effekt: Ich war voller positiver Londoner Energie und befremdet angesichts der bleiernen Schwere, die mir in meiner Heimatstadt entgegenschlug. Ich konnte meine Leichtigkeit für ungefähr zwei Tage aufrechterhalten, dann rutschte ich wieder in das Energiefeld von Berlin.
Mehr von Ulrike Stockmann finden Sie auf ihrem YouTube-Kanal.