Mehr Sozialdemokratie wagen!

Andrea Nahles hatte es vergeigt. Gründlich. Deshalb ist sie weg vom Fenster. Richtig weg. Mit ihrem aktuellen und wohl allerletzten Schritt puscht sie die SPD allerdings noch einmal so richtig auf: Andrea Nahles gibt ihr Bundestagsmandat zurück. Das hat ungeahnte Folgen.

Die Mandatsrückgabe kommt zwar um Jahrzehnte zu spät, dennoch ist diese Entscheidung wesentlich besser als vieles, was sie mit der SPD bisher veranstaltet hatte. Danke, Andrea! Diese Geschichte könnte hier zu Ende sein. Doch plötzlich gibt es Stimmen unter den Genossen, die die Genossin Nahles zum Festhalten am Mandat überreden möchten. Das tun sie nicht, weil ihnen so viel an der abgetretenen Vorsitzenden liegt, sondern um ihren Nachrücker im Bundestag zu verhindern.

Lassen wir uns kurz von der FAZ erklären, wie das mit dem Nachrücken funktioniert:

„Im Normalfall rückt der Nächstplazierte auf der SPD-Landesliste nach. Das wäre im Fall von Nahles der ehemalige Finanzminister von Rheinland-Pfalz Carsten Kühl, der hat aber bereits schriftlich seinen Verzicht erklärt. Kandidatin Nummer zwei fällt ebenfalls aus: Isabel Mackensen sitzt seit Juli schon im Bundestag, als Nachrückerin für Katarina Barley, nachdem die ehemalige Justizministerin ins Europaparlament gewechselt ist. Um Kandidat Nummer drei auf der Nachrückerliste wiederum tobt in der SPD ein heftiger interner Streit: Joe Weingarten hatte bei der Wahl 2017 in Bad Kreuznach für den Bundestag kandidiert. Inzwischen hat er sich mit den SPD-Funktionären vor Ort derart verkracht, dass manche ihn am liebsten aus der Partei werfen würden.“

Vor allem scheint der Mann aber inzwischen bei den Spitzengenossen in seiner Landeshauptstadt Mainz und in Berlin äußerst unbeliebt zu sein. Sein Vergehen: Er redet Klartext, und er kritisiert eine unrealistische Migrationspolitik, die Fakten nicht sehen will, wenn sie die eigenen Illusionen zu zerstören drohen. Nicht jeder, der zu uns kommt, kommt schließlich aus edlen Motiven und nicht jeder, der zu uns kommt, kann von uns willkommen geheißen werden.

Bei einer SPD-Parteiveranstaltung habe Weingarten gesagt, dass man zwischen verschiedenen Zuwanderergruppen unterscheiden müsse und diese dabei grob in drei Gruppen unterteilt: „Asylsuchende“, die Deutschland aus humanitären und völkerrechtlichen Gründen aufnehmen müsse, „Arbeitssuchende“, von denen die meisten, die derzeit kämen aber keine ausreichende Qualifikation hätten, die dritte Gruppe, die kein Recht auf Aufnahme hätte, habe Weingarten „Gesindel“ genannt.

„Das hätte niemand verstanden“

Nun ist das sicher keine feinsinnige Zuschreibung, aber das Publikum dürfte verstanden haben, dass Weingarten damit all die im Zuge der weitgehend unkontrollierten Zuwanderung eingereisten Messerstecher, Vergewaltiger, Diebe, Antänzer und Islamisten gemeint hat und nicht die Mehrheit der Zuwanderer, die nach Weingarten ja zu den ersten beiden Gruppen gehören.

Doch so viel Differenzierungsvermögen trauen die Tugendwächter in der Partei den Bürgern offenbar nicht mehr zu oder sie haben es selbst verloren. Denn geblieben ist nur die Empörung darüber, dass Weingarten im Zusammenhang mit „Flüchtlingen“ von „Gesindel“ gesprochen hat.

Es ist noch gar nicht so lange her, da hat ein SPD-Vorsitzender im Zusammenhang mit Bürgern, die gegen neue Asylunterkünfte protestierten, von „Pack“ gesprochen.  Seinerzeit konnten die Genossen noch differenzieren und erklärten dem Publikum, dass der Genosse Vorsitzende ja nicht alle protestierenden Bürger gemeint habe, sondern nur bestimmte.

Gut, das war etwas ganz anderes und wir kehren zum „Gesindel“-Skandal zurück. Joe Weingarten tat nun nicht das, wozu wahrscheinlich jeder moderne deutsche Politikberater geraten hätte. Er erging sich nicht in Selbstkritik und Entschuldigungen, sondern verteidigt seine inkriminierten Äußerungen auch heute noch, wie fuldainfo.de berichtet: „Ich hätte auch von gewaltaffinen soziologischen Randgruppen sprechen können“, wird er zitiert. „Das hätte dann aber niemand verstanden.“

„Ich bin seit 41 Jahren in der SPD und stehe dort für eine pragmatische und wirtschaftsfreundliche Politik, zu der auch die Einhaltung von Recht und Ordnung gehören“, wird Weingarten vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) zitiert. Nach seiner Aussage würden viele in der SPD denken wie er: „Aber die Frage ist, ob in der SPD noch Platz für Vertreter dieser Denkrichtung ist.“

Positionen unter Quarantäne

Joe Weingarten zeigt sich damit als Sozialdemokrat alter Schule, nach dem Vorbild von Karl Schiller, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Annemarie Renger. Leider sind das alles Persönlichkeiten, die heute in der SPD nicht einmal mehr Plakate kleben dürften. Weingarten steht für das, wofür bis vor wenigen Jahren in der SPD noch die Seeheimer standen: Chancengleichheit, wirtschaftliche Stärke, sozialer Ausgleich. Doch schon allein diese Positionen stehen in der Partei heute unter Quarantäne. Enteignung und Bevormundung scheinen inzwischen salonfähiger.

Joe Weingarten ist für den politisch-korrekten Politikbetrieb nicht nur wegen seines „Gesindel“-Spruchs indiskutabel. Die taz formulierte die dazu passende Beurteilung:

„Unter Geflüchteten vermutet der dreifache Vater „Gesindel“. Dabei handele es sich um Personen, „die ihren Aufenthalt für kriminelle Aktivitäten oder zur Ausbeutung des Sozialstaates nutzen“. Auch in Klimafragen stellt er sich gegen die Parteilinie: Die Besteuerung von CO2-Emissionen nennt Weingarten „nicht nur unnütz, sondern auch verfassungswidrig“, eine diskutierte Mehrwertsteuererhöhung auf Fleisch den „täglichen Steuererhöhungs-Schwachsinn“. Mit Inbrunst schmäht der 57-Jährige in den sozialen Medien die Klimaaktivistin Greta Thunberg. Mit seinen GenossInnen soll Weingarten mittlerweile derart über kreuz liegen, dass bereits von Parteiausschluss die Rede ist. Was also den Grünen ihr Boris Palmer ist, könnte für die SPD Joe Weingarten werden.“

In der SPD Rheinland-Pfalz ist im Moment der Teufel los. Joe Weingarten für Andrea Nahles ab September 2019 in der SPD-Bundestagsfraktion? Der könnte den ruhigen Verlauf des politischen Selbstmords der SPD vielleicht stören, wenn ein Sozialdemokrat plötzlich die in der Bevölkerung mehrheitsfähigen Positionen auf der bundespolitischen Bühne in die böse Welt hinausposaunen darf? Müsste Holger Fuß sein für September angekündigtes Buch „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt: Über das Ende einer Volkspartei“ schnell noch umschreiben oder ein Kapitel „Mehr Sozialdemokratie statt Sozialismus wagen“ anfügen? Oder gibt Andrea Nahles dem Druck ihrer Zöglinge nach und behält das Mandat?

Weingarten mochte sich bis dato nicht zur Mandatsübernahme äußern. „Erst wenn der Wahlleiter auf mich zukommt, werde ich zusammen mit meiner Frau eine Entscheidung treffen und die dann mitteilen.“ Der Landeswahlleiter kommt aber erst ins Spiel, nachdem Andrea Nahles auf ihr Mandat verzichtet hat. Insofern weiß niemand, ob Weingarten nicht gar am Ende verzichtet. Das hätte er vielleicht im Vertrauen auch manch verantwortlichen Genossen gesagt. Aus der SPD habe, so las es sich in der RND-Meldung, aber niemand mit ihm gesprochen.

Foto: Bundesarchiv/ Ludwig Wegmann CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia

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Runhild Streitferdt / 13.08.2019

Sozialdemokraten schenken möglicherweise der Berichterstattung von Medien Glauben, die von der eigenen Partei kontrolliert werden. Das kann zu erheblichen Verzerrungen in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität führen.

Marc Blenk / 13.08.2019

Lieber Herr Weißgerber, herrlich zu lesen! Der Mann war mir bisher gänzlich unbekannt. Wenn dann die SPD unter den 5% Limbo tanzt, könnte er gemeinsam mit Ihnen und Herrn Sarrazin nach dem Kehraus der Veranstaltung den Laden übernehmen. Meine Unterstützung hätten sie.

Thorsten Helbing / 13.08.2019

Ehemalige Sozialdemokraten und aktuelle scheinen keine Heimat mehr zu haben. In der SPD sind sie nicht Willkommen und wechseln sie zur AfD sind sie Verräter und und demzufolge ein “NoGo”. Das betrifft natürlich alle Wechselwilligen und Bewahrer Werte ehemaliger Volksparteien wie die SPD oder die CDU. Die SPD sticht dagegen heraus. Hier wird ein Weg gegangen den nichtmal die SED der DDR sich gewagt hat zu gehen. Auto? Kann weg! Sichere Energieversorgung? Kann weg! Antisemitismus? Kann weg! Politik für den Arbeiter welcher den Laden am laufen hält? Kann weg! Kann weg! Kann weg! Nahles? Kann weg! Schulz? Gabriel? Kann weg! Politik für Werktätige und sozial Benachteiligte und in Opposition zur CDU? Kann weg!  Antisemitismus? Kann weg! Nahles war also im Klosterm, wie wir nun medienwirksam erfahren. Was Sie daraus gelehrnt hat, welche Schlüsse Sie daraus gezogen haben mag, das erfährt hier niemand. Die Antwort könnte ja “Parteischädigend” daherkommen.

Margit Broetz / 13.08.2019

Nun haben sich seinerzeit ja auch der beste Kanzler, den Deutschland je hatte (ich weiß jetzt kommt das Geschrei) und sein Nachfolger, Helmut Schmidt, sehr deutlich über genau diese Problematik geäußert. Allerdings, trotz polemischem Unterton, sind ihre Worte druckfähig, wenn auch heute nicht mehr sagbar. Und sie wurden in der Sorge um Land und Volk der Deutschen geäußert! - Eine solche Motivation traue ich dem heutigen Führungspersonal nicht zu. Da fehlt es nicht nur an Charakter, sondern schon an Kinderstube.

G. Schilling / 13.08.2019

Nicht unsympathisch der Mann. Ich wundere mich allerdings, dass er in Malu-Land SPD Mitglied sein kann. Schiller, Brandt, Schmidt und Renger hätten sicher ihre Freud an ihm gehabt. Dafür haben wir heute Schulze, Maas, Giffey und die anderen Versagenden.

Angela Seegers / 13.08.2019

Maulkorberlass, da ist er wieder. Dieses Land schweigt sich noch mal zu Tode.

Nicklas Gruber / 13.08.2019

Die Sozialdemokratie war der Wegbereiter für den heutigen linken Unsinn. Ich bin froh, dass sie bald in selbstverschuldeter Bedeutungslosigkeit versinkt. Politik ist eben nicht die Lösung, sondern das Problem.

Robert Bauer / 13.08.2019

Ein Problem, das für die SPD nach der ersten BuTa-Sitzungsteilnahme des MdB Weingarten gelöst sein wird. Nach dem ersten Redebeitrag eines AfD-Abgeordneten wird er, um glaubwürdig zu bleiben, Beifall klatschen müssen. Das wäre dann der Parteiausschlußgrund.

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