Liz Truss hat sich nach rekordkurzer Amtszeit in den Londoner Rücktritts-Reigen eingereiht. In Deutschland kann so etwas nicht passieren. Warum eigentlich nicht?
Wie sich die Briten 2016 in einem Referendum mehrheitlich dafür entscheiden konnten, die EU zu verlassen, können etliche deutsche Medienschaffende einfach immer noch nicht verwinden. Die pflegen seither eine Sicht auf Britanniens Politik, nach der quasi alles, was dort nicht gut läuft, letztendlich auch immer mit dem Brexit zu tun hat. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich eine solche Sicht nun in manchen Kommentaren zum Rücktritt von Liz Truss, der Premierministerin mit der wohl kürzesten Amtszeit, seit es dieses Amt gibt, wiederfindet.
„Wie sich die Briten zum Gespött Europas machen“, überschreibt spiegel.de einen Rücktritts-Bericht. „Wann kommen die Briten zur Vernunft?“, betitelt das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) seinen Kommentar.
Nun ist es in der Tat ein schwer nachvollziehbares politisches Chaos, in die das Top-Personal der Konservativen Regierung und Land gerade stürzen. Und für die britischen Bürger ist das in diesen Krisenzeiten mit Sicherheit alles andere als lustig. Über deren Stimmungslagen würde ich gern mehr lesen, hören und sehen, um sie vielleicht einschätzen zu können, aber dafür bekomme ich zumindest in meiner Muttersprache keine hinreichende Informationsgrundlage.
Erschüttern Rücktritte die Deutschen besonders?
Dafür erfahre ich, dass sich die Briten „zum Gespött Europas machen“. Vielleicht liege ich vollkommen falsch, was Europas Spötter betrifft, aber mein Eindruck ist, dass unsere EU-Partner aktuell mehr wegen deutscher Energie-Alleingänge als wegen eines erneuten britischen Regierungswechsels beunruhigt sind. Zumal möglicherweise mit Boris Johnson wieder ein alter Bekannter in Downing Street 10 einzieht, mit dem umzugehen das politische Spitzenpersonal in Europa bereits lernen konnte.
Natürlich ist ein Rücktritt immer eine politische Erschütterung, doch wenn man in deutschen Kommentarspalten liest, dann scheint den germanischen homo politicus das unfreiwillig-freiwillige Aus-dem-Amt-Scheiden einer Führungskraft ganz besonders zu beunruhigen. Vielleicht ist das die Folge, wenn ein Land – zumindest dessen West-Teil – in 39 Jahren (1982–2021, Anm. d. Red.) nur drei Regierungschefs hatte. Da verlernt man vielleicht, dass das Abtreten einer gescheiterten Regierung zur Normalität in der Demokratie gehört.
Sicherlich ist ein solcher Rücktritt nach sechs Wochen nicht so normal, aber wenn sich eine Führungskraft schon innerhalb der Probezeit als nicht hinreichend befähigt erweist, dann ist es doch besser, sie räumt den Posten auch früher als später, oder? Dieser Gedanke scheint hierzulande allerdings nicht so weit verbreitet zu sein. Eher das, was beispielsweise der RND-Kommentator schreibt:
„Die frappierend unfähige Premierministerin Liz Truss hat nicht nur sich selbst blamiert und auch nicht nur ihr Land. Es geht auch um die Demokratie als solche: Ist eines der Mutterländer von Freiheit und Parlamentarismus nicht mehr in der Lage, vernünftiges Personal für die Regierung aufzustellen?“
Ich fühle mich nicht hinreichend kompetent, hier öffentlich zu bewerten, wie es in Britanniens politischer Klasse um „vernünftiges Personal“ bestellt ist. Aber die Frage, ob das Land nicht mehr in der Lage ist „vernünftiges Personal für die Regierung aufzustellen“ drängt sich dafür umso mehr im eigenen Lande auf. Es gibt etliche Mitglieder der Bundesregierung, die – um es ganz höflich zu formulieren – von den Anforderungen, denen sie derzeit in ihrem Amt genügen müssten, sichtlich überfordert sind.
Der Traum vom Mehrheitswahlrecht
Doch sie müssen nicht zurücktreten. Sie können sich sicher sein, dass ihnen kaum ein Abgeordneter der Regierungsparteien die Gefolgschaft versagt. Das deutsche politische System gibt den Parteiapparaten einfach zu viel Macht, als dass sich Abgeordnete in relevanter Zahl ein abweichendes Stimmverhalten glauben leisten zu können. Im deutschen Wahlrecht ist entscheidend, welche Partei gewählt wird und nicht welcher Abgeordnete.
In einem Mehrheitswahlrecht, wie in Britannien, wird im Wahlkreis der Abgeordnete gewählt, der zwar auch einer Partei angehören mag, aber nicht immer wegen, sondern manchmal auch trotz seiner Parteizugehörigkeit gewählt wird. Das macht nun einmal unabhängiger von Parteiapparaten, weshalb auch eine Premierministerin ihre Mehrheit bei Verfehlungen ganz schnell verlieren kann und gehen muss.
Das ist keine Krise der Demokratie, es ist Demokratie. Es ist lediglich eine Regierungskrise, wenn natürlich auch eine heftige. Doch es ist besser, gescheitertes Personal wird ausgewechselt, um vielleicht befähigteres Personal ins Amt zu bekommen, als dass um einer vermeintlichen Stabilität willen angeschlagene Amtsträger auf dem Posten verweilen. Wie man gerade an Boris Johnson sieht, muss ein solcher Rücktritt ja auch nicht zwingend das Ende einer politischen Laufbahn sein. Insofern sind die Chancen der Briten, dass sie mittelfristig eine halbwegs krisenkompetente Regierung bekommen, wahrscheinlich größer als die der Deutschen.
„Mehr Demokratie wagen“, hatte Willy Brandt einst gesagt. Das Mehrheitswahlrecht wäre ein Schritt hin zu mehr Demokratie. Das hieße dann aber wohl auch: „Mehr Rücktritte wagen“.