Aus China wird von einer Protestwelle gegen das strenge Corona-Regime berichtet. Doch dieser Protest ist weit mehr, gerade in einer kommunistischen Diktatur. Die versteht jede öffentliche Forderung nach Freiheit als existenziellen Angriff und das wissen die Demonstranten genau.
Mindestens tausend Menschen, so las man auch in deutschen Medien am Montag, versammelten sich am Morgen auf einer Hauptverkehrsstraße in Peking und skandierten: „Wir wollen keine Masken, wir wollen Freiheit." Sollte man jetzt daran erinnern, wie Demonstranten, die solches auf deutschen Straßen skandiert hätten, vor nicht allzu langer Zeit in den meisten Medien und von regierenden Politikern bezeichnet worden wären? Die Zuschreibungen „Querdenker“ oder „Coronaleugner“, die sich in einer Szene tummeln, in der auch die „Delegitimierung des Staates“ gepflegt werde, hätte man sicher lesen und hören können.
Nun, die Versuchung mag groß sein, jenen Kollegen ihre verbalen Entgleisungen vorzuwerfen, die in den Hochzeiten des deutschen Corona-Ausnahmezustands die Diffamierung von Unmaskierten und die Ausgrenzung von Ungeimpften mit geiferndem Beifall publizistisch begleiteten. Solche Verbindungen herzustellen, wäre aber vollkommen unangemessen. Das Risiko, das jeder Demonstrant in Urumqi, Shanghai, Peking oder all den anderen Städten, in denen inzwischen protestiert wird, in Kauf nimmt, den Mut und/ oder die Verzweiflung, die es für die aktive Teilnahme an solchen Demonstrationen braucht, würde man damit auch dann kleinreden, wenn man das vermeiden will.
Die Proteste, von denen nur ausschnitthafte Berichte in die internationalen Medien gelangen, sind – so heißt es in einigen Berichten – immerhin die größten seit 1989, als die damalige Demokratiebewegung in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstrierte, bis sie am 4. Juni durch einen blutigen Militäreinsatz zerschlagen wurde.
Des Kanzlers nettes Treffen mit Xi Jinping
Die Proteste jetzt scheinen sich nicht nur in Windeseile auszubreiten, sondern sie blieben auch nicht nur Protest gegen die Corona-Restriktionen, sondern wurden zu Demonstrationen gegen die Herrschaft von Xi Jinping und seiner Kommunistischen Partei. Welche Dynamik sich da entwickeln wird, darüber kann jetzt jeder spekulieren. Um mich aber hier mit öffentlichen Analyse-Versuchen vorzudrängeln, fühle ich mich nicht hinreichend kompetent. Weder beherrsche ich die Sprache noch habe ich ein chinesisches Umfeld. Für fundierte eigene Anschauungen war ich wiederum zu selten und zu kurz in China.
Aber mir gehen diese Proteste auf eine andere Art nahe, so wie vielleicht auch Anderen, die in einer kommunistischen Diktatur aufgewachsen sind und deshalb mit gewissen Grundmustern einer jeden Diktatur vertraut sind, die es bei allen noch so großen kulturellen Unterschieden gibt. Dazu gehört dann auch das Gefühl der Verbundenheit mit denen, die sich gegen die Diktatur auflehnen. Leider, so ist zu erwarten, wird diese Verbundenheit von unseren Regierenden nicht geteilt. Der Kanzler hatte jüngst noch ein nettes Treffen mit dem Pekinger Machthaber Xi Jinping. Die Volksrepublik ist ein zu wichtiger Handelspartner, als dass sich unsere Regierung hier wirklich engagieren will. Die Wirtschaft schränkt sich ja schon ein, um es dem Putin zu zeigen, da kann sich das Land nicht auch noch mit dem Xi anlegen, oder?
Und was dessen Corona-Politik angeht, so ist die Bundesregierung, in der der heutige Kanzler noch Vize-Kanzler war, wie auch andere westliche Regierungen dem von China vorgelegten Kurs der Lockdowns, Ausgangssperren und Kontaktverbote ja lange Zeit gefolgt. Und Xis Null-Covid-Träume, die dieser dekretieren kann, mochte manch deutscher Politiker auch, aber sie ließen sich nicht durchsetzen. Dazu waren in der Bundesrepublik trotz Ausnahmezustand und stark eingeschränkter Grundrechte immer noch zu viel Rechtsstaat und Demokratie übriggeblieben.
Furcht, dass die nächsten Bilder die von Schüssen und Blutlachen sein werden
Der chinesische Machthaber hingegen schien durchregieren zu können. Schien? Gern würde ich jetzt schreiben, dass er es nur bis zu dem Punkt konnte, an dem die Protestwelle losbrach. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass er ihr nachgeben wird? Sollte er seiner Sicherheitskräfte und seines Militärs noch sicher sein, dann wird er auch diesen Protest zerschlagen. Inwiefern ihn welche Konstellationen zu einem teilweisen Einlenken zwingen könnten, ist eine Frage, in der ich wieder auf einem Feld spekulieren würde, auf dem ich mich nicht hinreichend auskenne.
Ich sehe nun aus der Ferne die Bewegtbilder vom Protest in China. Ein Teil von mir freut sich, dass sich die Welle ausbreitet, immer mehr Demonstranten mutig werden und sie vielleicht auch einige Erfolge verbuchen können. Ein anderer Teil von mir sieht sie in der Furcht, dass die nächsten Bilder die von Schüssen und Blutlachen auf der Straße sein werden.
Dieses Gefühl ist im Osten sicher nicht ungewöhnlich. Ich bin damit groß geworden. Im August 1980, mit 15 Jahren, saß ich mit meinen Eltern mit genau dem gleichen Gefühl vor den Fernsehnachrichten aus Polen. Dort wurde gestreikt, wurden für einen kommunistischen Staat umstürzlerische Forderungen erhoben und meine Eltern fürchteten, bald die Bilder der rollenden Panzer zu sehen, wie sie sie aus dem Juni 1953 im heimatlichen Ost-Berlin oder 1968 aus Prag kannten. Es war schier unglaublich, dass die Streiks in Polen dann in das Danziger Abkommen zwischen einer kommunistischen Regierung und einer damit offiziell anerkannten unabhängigen Gewerkschaft, also der Opposition, mündeten. Die Machthaber gaben nach und mussten Grenzen ihrer Macht anerkennen. Dass dann im Dezember 1981 die Panzer doch noch rollten und das Kriegsrecht verhängt wurde, konnte das Gesehene, also dass Unmögliches möglich werden kann, nicht mehr verdrängen.
Am 4. Juni 1989 rollten in Peking die Panzer
In Polen konnten die Kommunisten trotz Kriegsrecht ihre Macht nicht mehr halten. Die Sowjetunion mochte sich bekanntlich nicht mehr mit aller Macht in den Satellitenstaaten engagieren, und so kam es bei den östlichen Nachbarn nach Verhandlungen zwischen Opposition und Regierung am Runden Tisch zu den ersten immerhin teilweise freien Parlamentswahlen. Erster Wahltag war genau jener 4. Juni 1989, an dem in Peking die Panzer rollten und die Demokratiebewegung mit militärischen und geheimpolizeilichen Mitteln zerschlagen wurde.
Die kommunistischen Diktaturen in Ost- und Mitteleuropa gibt es nicht mehr. In China herrschen die Kommunisten immer noch und sie beherrschen ein Land, das sich zu einer Weltmacht entwickelt hat. Eine Macht, die keine westlichen Sanktionen fürchten muss und ungemein stabil erschien. Vielleicht ist sie es nicht. Egal, was die Experten dazu sagen: Diejenigen, die sie in chinesischen Städten als Demonstranten mit ihren Forderungen nach Freiheit infrage stellen, verdienen Unterstützung.
Nur vor der Frage, was getan werden könnte, steht man dann natürlich etwas hilflos da. An wirklich praktischer Hilfe sicher kaum etwas, zumindest fällt mir nichts ein. Aber es sollte einen wenigstens daran gemahnen, sich die Freiheit, für die Andere streiten müssen und die man hierzulande einmal hatte, nicht widerspruchslos einschränken zu lassen. Wir sind doch hier im Zeichensetzer-Land. Da kann man doch zum Zeichensetzen in Bussen und Bahnen dem chinesischen Demonstrations-Slogan „Wir wollen keine Masken, wir wollen Freiheit" folgen. Das hilft den chinesischen Demonstranten nicht direkt, das ist richtig. Aber es hilft gegen die Gewöhnung an vormundschaftliche Gängelung und die damit einhergehenden Freiheitsverluste.
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