Politik und Wissenschaft sind recht eng verwoben. Dabei gilt: Je enger die Wissenschaft an den politischen Sektor oder dessen Vorfeldorganisationen heranrückt, desto stärker wird die Gefahr, dass ihre Erkenntnisse in deren Mahlstrom verzerrt werden, manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Und das trifft nicht etwa nur auf weiche Wissenschaften zu, sondern auch auf harte, wie Physik und Chemie. Energiewende, Klimawandel und die aktuelle Diskussion zu Dieselfahrverboten belegen das sehr deutlich. Vergleichsweise neu und in den letzten Jahren stark zunehmend ist die Tendenz, bereits im politischen Vorfeld, aber eindeutig noch im Hoheitsgebiet der Wissenschaft, deren Qualitätsstandards durch Moral und politische Haltung zu ersetzen, allerdings ohne die wissenschaftliche Tarnung aufzugeben.
Ein typisches Beispiel dafür ist eine im Kielwasser des UN-Migrationspakts erschienene, frei zugängliche Publikation in Lancet, einer der ältesten und renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften weltweit. Unter Federführung einer Kommission des University College London hat ein vielköpfiges internationales Autorenkollektiv – eine Art medizinische Internationale der universalen Humanisten für eine barrierefreie Migration – einen äußerst umfangreichen Text samt einem Literaturverzeichnis mit 309 Publikationen vorgelegt.
Ziel war es, einen sogenannten „Goldstandard“ zu „Migration und Gesundheit“ vorzulegen, also nicht weniger als einen allgemeingültigen und maßgebenden Standard zu diesem Thema. Herausgekommen ist allerdings ein vorrangig von Haltung und Moral getragenes ideologisches Pamphlet, bestehend aus globalistischen Größenphantasien, viel heißer Luft, nicht belegten Behauptungen, Relativierungen, Aussparungen und einer nur in Form von Spurenelementen zu entdeckenden wissenschaftlichen Substanz. Es versteht sich von selbst, dass Belange der Einheimischen in den sog. „HICs“ (high income countries) – also westliche Länder mit hohem Einkommen – keinerlei Berücksichtigung finden.
Deutlich wird diese ideologielastige, wissenschaftsfeindliche Grundhaltung auch in dem (hinter der Bezahlschranke verborgenen) WELT-Interview zu dem Lancet-Artikel mit dem einzigen deutschen Mitautor, Dr. Michael Knipper, seines Zeichens wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Uni Gießen, wo der Kollege eine Nische gefunden hat als so eine Art Facharzt für Migration und Menschenrechte.
Viele neue und gut dotierte Stellen
Vorrangigstes Ziel der Lancet-Autoren ist es, mit dem Rückenwind durch den UN-Migrationspakt ihre damit eng verbundene medizinpolitische Agenda – als unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten vermeintlich so alternativlos wie zwingend erforderlich – interessierten Kreisen in Wissenschaft, Medien und Politik zugänglich zu machen. Der Text ist aber auch eine Art Handreichung für Agitatoren, die Migrationsskeptiker oder -realisten zum wahren Glauben bekehren möchten. Kaum jemand wird natürlich den gesamten – immerhin 49 Seiten umfassenden – Text lesen, sondern man wird sich vorrangig auf die Lektüre von Zusammenfassung und hervorgehobenen Kernaussagen beschränken. Die Hauptanliegen der Autoren sind, kurz zusammengefasst, folgende:
Die einzelnen Staaten – gemeint sind damit die HICs – sollen mit Hilfe von Medizin-Experten ihren Fokus stärker auf die gesundheitlichen Belange von Migranten richten und darüber hinaus sicherstellen, dass die Migranten an allen Entscheidungen über ihre gesundheitliche Versorgung beteiligt sind – was immer das genau heißen mag. Kontrolliert werden soll diese Fokussierung auf die gesundheitlichen Belange der Migranten durch einen neu zu implementierenden, speziellen UN-Gesandten in Verbindung mit ebenfalls noch zu schaffenden nationalen Beobachtungs- und Kontrollsystemen. Also viele neue und gut dotierte Stellen, auf denen man es vielleicht sogar mal auf die Titelseite der Süddeutschen schafft: „UN-Gesandter geißelt …“
Auch das nächste Ziel, nämlich Rassismus und Vorurteilen mit einer Null-Toleranz-Politik zu begegnen, könnte etliche Aktivisten in Lohn und Brot bringen. Denn die im Gesundheitssektor Beschäftigten sollen diesbezüglich durch entsprechende Verordnungen und Trainingsmaßnahmen „gestärkt“ werden. Überhaupt ist der energische und beharrliche Kampf gegen Populisten, Nationalisten und, natürlich, fake news den Autoren ein ganz besonderes Herzensanliegen.
Nicht zuletzt haben die Regierungen in den HICs sicherzustellen, dass alle Migranten-Gruppen universalen, gerechten und uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Leistungen des Gesundheitssystems in ihrem Gastland erlangen – unabhängig von Alter, Geschlecht und auch ihrem rechtlichen Status. Sozusagen: legal, illegal, scheißegal. Dazu passend wird in dem Artikel der Begriff Migrant sehr weit gefasst und reicht von angeworbenen Arbeitsmigranten über Asylbewerber und Flüchtlinge bis hin zu den Illegalen. In Bezug auf Deutschland hält Kollege Knipper es bereits für diskriminierend, dass Asylbewerbern zunächst nur akutmedizinische Leistungen gewährt werden, weitergehende Leistungen hingegen nur auf speziellen Antrag. Er übersieht dabei, dass in mindestens sieben Bundesländern das faktisch bereits nicht mehr gilt und weitere Bundesländer an einer ähnlichen Regelung arbeiten, vor allem wohl, weil der bürokratische Aufwand unangemessen hoch ist.
Selbstverständlich angemessen gender- und kultursensibel
Doch die Agenda der Autoren ist nicht nur auf die Situation in den HICs, sondern global ausgerichtet. So sieht man sich zusammen mit der UN – natürlich mit entsprechender Unterstützung von politischen Entscheidungsträgern und Geldgebern – in der Pflicht, bis 2030 eine medizinische Versorgung auf allen Migrationsrouten zu etablieren, selbstverständlich angemessen gender- und kultursensibel. Das Ziel ist eben eine nicht nur möglichst barrierefreie Migration, sondern dazu auch eine medizinisch begleitete. Um ein solches System zu etablieren, will man auf so bewährte Institutionen wie zum Beispiel die Afrikanische Union setzen, wo das Geld der Steuerzahler aus den HICs sicherlich prima aufgehoben ist.
Die psychische Situation von Migranten zu düster zu zeichnen, könnte ja vielleicht Ablehnung bei den Einheimischen provozieren. Besser also, man hält sich da ein bisschen zurück. Folglich äußert sich Dr. Knipper im WELT-Interview zum Thema traumatisierte Migranten auch erstaunlich nüchtern:
„Ja, auch in Deutschland kommen traumatisierte Menschen an. Aber auch wenn ein Mensch den Krieg und eine Flucht erlebt hat, heißt das nicht, dass er danach unweigerlich ein Leben lang psychisch schwer gestört ist.“
Gegen diese Sichtweise ist fachlich nichts einzuwenden. Aber ein bisschen genauer hätte es schon sein können. Schließlich ist der Kollege Co-Autor einer 2017 veröffentlichten deutschen Studie, in der es um die Häufigkeit von traumatisch bedingten psychischen Störungen bei einer Stichprobe von 242 „Flüchtlingen“ geht. Auf der Grundlage eines per Interview durchgeführten Fragebogen-Screenings wurden beachtliche 73 Prozent als psychisch auffällig beziehungsweise traumatisiert eingestuft. Obwohl die alle noch genauer diagnostisch abzuklären wären – wer soll das eigentlich leisten? – und dementsprechend völlig unklar ist, wie viele von ihnen tatsächlich ernsthaft psychisch gestört sind, wird das Screening-Ergebnis offenbar bereits als valides Ticket für die Annahme des Status eines Flüchtlings mit besonderem Schutzbedarf gewertet und der Fragebogen für den routinemäßigen Einsatz innerhalb der EU empfohlen.
Der Kampf gegen „Migrationsmythen“
Es gebe, so die Lancet-Autoren, sowohl bei medizinischen Laien als auch Experten leider bestimmte Vorbehalte gegen Migration. Bei diesen abweichenden Auffassungen handele es sich aber ausschließlich um „Mythen“ oder „unzutreffende Stereotype“. So klingt sie, die zeitgemäße Variante von: Die Partei, die Partei, die hat immer recht. Der Versuch, diese vermeintlich unzutreffenden Vorbehalte zu entlarven, bestimmt ganz überwiegend den im engeren Sinne medizinischen Teil der Abhandlung. Aus Platzgründen muss ich mich auch hier auf das Wesentliche beschränken.
Zunächst wird rhetorisch gefragt, ob die HICs befürchten müssten, von den Migranten überrannt zu werden? Nein, natürlich nicht, lautet die allerdings extrem dünne Antwort. Während in der Einleitung noch von einer Milliarde Migranten weltweit im Jahr 2018 die Rede ist, hält man sich in diesem Kapitel jetzt mit absoluten Zahlen strikt zurück. Stattdessen wird ausschließlich mit prozentualen oder sehr groben Häufigkeitsangaben operiert. So heißt es, dass sich doch nur eine Minderheit der Migranten in die HICs aufmachen. Die meisten würden doch innerhalb ihres Heimatlandes oder in Nachbarländer migrieren. Und in den HICs sei die Zahl der angekommenen Migranten von 1990 bis 2017 schließlich nur von 7,6 Prozent auf 13,4 Prozent angestiegen.
OK, akzeptiert. Aber worauf beziehen sich diese Prozentangaben? Doch wohl auf die Ausgangsgröße von einer Milliarde – eine andere Zahl wird im gesamten Text jedenfalls nicht genannt. Jährlich 13,4 Prozewnt davon ist aber doch wohl schon eine Größenordnung, die Befürchtungen, überrannt werden zu können, ohne weiteres rechtfertigt. Daran ändern auch die zum Abschluss des Kapitels aufgeführten und wohl beruhigend gemeinten zwei Botschaften nichts: In den genannten Prozentangaben seien ja auch die Studenten aus armen Ländern enthalten, die nach dem Studium wieder in ihre Heimat zurückkehren. Und außerdem hätte es im Rahmen der europäischen Kolonialisierung von Amerika und Australien vergleichsweise viel größere Einwanderungswellen gegeben.
Anstatt solche in diesem Zusammenhang unsinnigen, bemüht-relativierenden historischen Vergleiche anzubringen, hätten die Autoren sich vielmehr beschäftigen sollen mit den Folgen ihrer als (zusätzliche) Pull-Faktoren wirkenden Vorhaben. Darüber hinaus unterlassen sie auch jede Thematisierung des in vielen Regionen ungebrochenen Bevölkerungswachstums samt dem daraus folgenden, weiter zunehmenden Migrationsdruck.
Verursachen Migranten etwa Kosten?
Nun geht es um die Fragen, ob die Migranten vielleicht eine Belastung für das jeweilige Gesundheitssystem oder ein ökonomisches Risiko darstellen könnten. Die absehbaren Antworten: Jeweils ein klares nein. Die Gesundheitssysteme seien doch vielmehr auf ihre zahleichen migrantischen Arbeitskräfte angewiesen – was allerdings eine gänzlich andere Baustelle ist als die Folgen einer uneingeschränkten Inanspruchnahme eines Systems, in das nie eingezahlt wurde. Ansonsten hätten ökonomische Analysen gezeigt, dass in wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern Migranten regelhaft und nennenswert zum Wirtschaftswachstum ihres Gastlandes beitragen.
Es soll hier nicht bestritten werden, dass das auf bestimmte (historische) Migranten-Populationen oder etwa von Australien angeworbene Einwanderer zutrifft. Aber es ist zu bestreiten, dass durch die aktuelle Migration in die EU im Allgemeinen und nach Deutschland im Besonderen ein dadurch induziertes Wirtschaftswachstum tatsächlich nachhaltig ist. Ein ähnlicher Effekt hätte in Deutschland auch erzielt werden können durch großzügige Anmietung und den Neubau von Hotels seitens des Staates, in Verbindung mit der Vergabe von kostenlosen Feriengutscheinen mit freiem Transport, Vollpension, Kinderbeaufsichtigung plus Gratis-Unterhaltungsprogramm für jeden Harzt-IV-Bezieher zwischen 20 und 40 Jahren.
Klar, dass sich die Lancet-Autoren um eine genaue Antwort zu der entscheidenden Frage drücken, was es ökonomisch wohl bedeutet, wenn die Migranten überwiegend aus sehr kulturfernen, meist muslimischen Ländern stammen, meist nur über geringe oder gar keine schulische oder berufliche Bildung verfügen und auch nach zehn Jahren höchstwahrscheinlich noch eine deutlich niedrigere Beschäftigungsquote, vorzugsweise im Niedriglohnsektor, aufweisen werden, aber vom ersten Tag an zahlreiche Sozial- und Infrastrukturleistungen in Anspruch nehmen.
Ein weiterer Mythos darf natürlich nicht fehlen: Sind Migranten tatsächlich fruchtbarer als Einheimische? Hier lautet die etwas verschwurbelte Antwort: Eigentlich nein, höchstens ein bisschen, aber eher nicht. Zur Widerlegung dieses Mythos wird nur eine einzige, in fünf EU-Ländern und der Schweiz durchgeführte Studie herangezogen. Das ist schon sehr ungewöhnlich, allemal für einen Goldstandard.
Zusätzlich setzt man ganz offensichtlich darauf, dass sich niemand die Mühe macht, diese sich mit sehr speziellen Aspekten der Fruchtbarkeit beschäftigende Studie auch tatsächlich zu lesen. Unterzieht man sich dieser Mühe, findet man die Behauptungen des Lancet-Autorenkollektivs nicht nur nicht belegt, sondern ganz, ganz überwiegend das pure Gegenteil. Unglaublich! Das treffliche Schlusswort zu diesem „Mythos“ sei dem Kollegen Knipper gewährt: „Es ist absurd, Migration mit der Gefahr der Überfremdung in Zusammenhang zu bringen.“ (WELT-Interview) Das nennt man denn wohl „Vorwärtsverteidigung“.
Ansteckende Krankheiten?
Wenn zu guter Letzt gefragt wird, ob es ein Risiko gebe, dass Migranten die einheimische Bevölkerung mit bestimmten Krankheiten anstecken könnten, kommen die Autoren zunächst nicht ganz umhin, zuzugestehen, dass Migranten aus bestimmten Ländern häufiger unter schwerwiegenden ansteckenden Krankheiten leiden, vor allem Tuberkulose (TBC). Aber Dr. Knipper versucht selbst das irgendwie noch zu relativieren. Auf die WELT-Frage: „Dann bringen Flüchtlinge also doch Krankheiten hierher?“ antwortet er:
„So eindeutig kann man es nicht sagen! Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Erreger an einen Deutschen weitergeben liegt praktisch bei Null. Denn man muss schon acht Stunden lang mit einem an offener TBC leidenden Patienten in einem Raum zusammen sein, um sich anzustecken.“
Einmal abgesehen davon, dass der Kollege einen mehrstündigen gemeinsamen Aufenthalt von einem Deutschen mit einem Migranten in einem Raum für offenbar ausgeschlossen hält, relativiert er hier das Infektionsrisiko eindeutig zu stark. Auch wenn es sich bei der TBC in der Tat um keine hoch infektiöse Erkrankung handelt, ist das mit den acht Stunden schlicht Blödsinn.
Umfassende Informationen zur Verbreitung der Tuberkulose in Deutschland bieten die jährlichen Berichte des Robert-Koch-Instituts: So war Deutschland auf einem guten Weg, die TBC nahezu auszurotten, denn die Neuerkrankungsrate hatte über mehrere Jahre, bis 2012, stetig und deutlich abgenommen. Seitdem ist sie wieder – teils drastisch – angestiegen, mit einem Maximum in 2016. Mittlerweile ist die TBC ganz überwiegend eine Erkrankung von nicht in Deutschland geborenen Personen, die 18,5 mal häufiger betroffen sind als die in Deutschland Geborenen.
Wäre es nicht ehrlicher und auch wesentlich sozialverträglicher, stünde die (medizinische) Internationale des universalen Humanismus schlicht und einfach nur zu ihren moralischen Überzeugungen und verzichtete darauf, ihre Haltung auch mit vermeintlich rationalen Argumenten zu unterfüttern? Man kann doch auch ohne pseudowissenschaftliche Begründungen schlicht dafür eintreten, dass man sich allen Bedrängten dieser Erde verpflichtet fühlt – wir müssen doch helfen! –, und sich freuen, wenn die zu uns kommen, damit sie es hier besser haben und wir ein bisschen bunter. So könnte man doch wirklich einmal Haltung zeigen. Aber nein, stattdessen wird gar der Versuch unternommen, einen wissenschaftlichen Goldstandard vorzulegen. Das allerdings ist Alchemisten noch nie gelungen.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.