Rainer Grell / 09.09.2016 / 06:20 / Foto: RIA novosti / 0 / Seite ausdrucken

Mauereidechsen: Was Stuttgart 21 von Gorbi lernen kann

Was hat Michail Sergejewitsch Gorbatschow (für die nach 1990 geborenen Achse-Leser: Er war von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der – nicht mehr existierenden – Sowjetunion und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident derselben) mit „Stuttgart 21“ zu tun? Auf den ersten Blick natürlich nichts. Wenn man genauer hinschaut, stößt man aber auf eine erstaunliche Verbindung zwischen dem Totengräber der UdSSR (der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz Sowjetunion) und Geburtshelfer der deutschen Wiedervereinigung einerseits und dem umstrittenen Bahnprojekt andererseits.

In seiner Eigenschaft als Pate der deutschen Einheit hat Gorbi, wie ihn viele Deutsche liebevoll nennen, eine Forderung von Ronald Reagan erfüllt. Der damalige US-Präsident verlangte am 12. Juni 1987 in Berlin:  „Mr. Gorbachev, tear down this wall“, was mit dazu beigtragen hat, dass die Berliner Mauer verschwinden konnte. Und genau hier beginnt die Verbindung zu „Stuttgart 21“. Nur zur Sicherheit: Das ist das Großprojekt der Deutschen Bahn (DB), durch das (unter anderem) der Stuttgarter Kopfbahnhof in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof umgewandelt werden soll. Im Gegensatz zum Flughafen Berlin Brandenburg „Willy Brandt“ (kurz BER), dessen Einweihung sich bekanntlich seit Jahren verzögert, kann man dergleichen über Stuttgart 21 nicht sagen, da der Zeitpunkt der Fertigstellung noch in weiter Ferne liegt (die Rede ist von Ende 2021, vielleicht aber auch erst 23).

Aber eines ist jetzt schon klar: Es wird tierische Verzögerungen geben. „Tierische“ ist übrigens wörtlich gemeint. Zuerst war es der Juchtenkäfer, der seinen Lebensraum im Schlossgarten hat, der unmittelbar an den Stuttgarter Hauptbahnhof grenzt. Ohne „S 21“ wäre der seltene Käfer, der – vermutlich wegen seiner zurückgezogenen Lebensweise – auch den Namen „Eremit“ trägt (wissenschaftliche Bezeichnung Osmoderma eremita), höchst wahrscheinlich dem größten Teil der Bevölkerung unbekannt geblieben.

Alle Räder stehen still, wenn der Artenschutz es will

Einst dichtete Georg Herwegh im Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein die wunderbaren Zeilen: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Vermutlich hat er dabei nicht an den Juchtenkäfer gedacht, aber man könnte diese Worte durchaus auch auf ihn anwenden, wobei die zweite Zeile allerdings wie folgt lauten müsste: „wenn der Artenschutz es will“. Und damit ist natürlich auch klar, der Juchtenkäfer, der von Laien leicht mit einem Mistkäfer verwechselt werden könnte (dass man ihn bei der DB allgemein so nennt, ist allerdings ein Gerücht), dieses seltene Insekt allein wäre zu einem solchen Kraftakt nicht in der Lage. „Die Europäische Union hat dem Juchtenkäfer diese Power verliehen, indem sie ihn unter Artenschutz gestellt hat“, wie Rainer Bonhorst in der Augsburger Allgemeinen schrieb .

Wer es genau wissen will, schaut in die Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, kurz FFH-Richtlinie). Dort findet er im Anhang II zwischen Graphoderus bilineatus („Schmalbindiger Breitflügel-Tauchkäfer“, laut Bundesamt für Naturschutz hat dieser in keinem europäischen Land einen volkstümlichen Namen und ist daher zumeist nur entomologisch interessierten Personen bekannt. Der deutsche Name wurde erst jüngst eingeführt) und Rosalia alpina (Alpenbock) die Osmoderma eremita, eben den Eremiten oder Juchtenkäfer.

Ich verstehe durchaus, dass mancher Achse-Leser (welchen Geschlechts auch immer) jetzt allmählich unruhig wird. Denn er will natürlich endlich wissen, was Eidechsen, von denen ja noch gar nicht die Rede war, mit der Weltpolitik zu tun haben. Doch ich muss Sie noch einen Augenblick um Geduld bitten, denn einen derart globalen Zusammenhang kann man nicht mal eben so erläutern. Aber gleich bin ich so weit.

Nachdem der Juchtenkäfer sich, entsprechend seiner arttypischen Lebensweise, aus der öffentlichen Diskussion um „S 21“ zurückgezogen hat, treten jetzt die Eidechsen auf den Plan, genauer gesagt die streng geschützten Mauer- und Zauneidechsen. Es handelt sich um bis zu 6000 Individuen, die in der Bauzone für den unumgänglichen Abstellbahnhof in Stuttgart-Untertürkheim gefährdet seien, wie die Stuttgarter Nachrichten am 3. September 2016 auf Seite 1 unter der Schlagzeile „Eidechsen drängen Stuttgart 21 in die Kriechspur“ meldeten (Weiteres liest man auf Seite 3: „Bahn im Bann der Eidechsen“). Podarcis muralis und Lacerta agilis, so die wissenschaftlichen Namen dieser Kriechtiere, einigen vielleicht besser unter dem Namen Reptilien bekannt, stehen ebenfalls in Anhang II der FFH-Richtlinie und können von der DB eine Ausweichfläche von rund 30 Fußballfeldern beanspruchen.

Die Winterschlaf-Periode wird auf den Bahnhofsbau ausgedehnt

Und jetzt kommen endlich Gorbatschow und die Weltpolitik ins Spiel. Denn Mauereidechsen benötigen, das erkennt auch der Laie, Mauern, um artgerecht leben zu können. Da wäre die Mauer in Berlin mit ihrer Länge von rund 160 Kilometern das ideale Habitat gewesen. Zumal sie eine wichtige Voraussetzung erfüllt hätte: Es dürfen dort noch keine Mauereidechsen leben (dort waren bekanntlich nur Mauerspechte). Und auch keine um Futter konkurrierenden Zauneidechsen, denn die brauchen keine Mauern, sondern Zäune. Aber die Mauer ist weg – dank Gorbatschow. Erkennen Sie jetzt den Zusammenhang? Und Zauneidechsen benötigen, wie gesagt, Zäune, und die sind – in Form des 1400 km langen Grenzzauns zwischen der DDR und der „BRD“, ebenfalls verschwunden.

Zwischendurch platzte noch eine kleine Bombe, ein Bömble wie man im Schwäbischen sagt: Als ob wir uns mit den Flüchtlingen nicht schon genug Probleme aufgeladen hätten, stellte sich jetzt heraus: Ein Teil der Mauereidechsen sind gar keine einheimischen Reptilien, sondern mit Güterzügen aus Italien (ausgerechnet!) nach Stuttgart gelangt. Doch jetzt zeigte sich wieder einmal, was die EU wert ist: „Sowohl einheimische als auch zugewanderte Mauereidechsen unterfallen dem Artenschutz.“

Und dann gibt es noch ein weiteres Problem wegen der Winterschlafperiode. Nein, nicht der beteiligten Behörden, sondern der Mauer- und Zauneidechsen. Vor Ende der Winterschlafperiode der Reptilien im April (2017), so heißt es in dem Bericht der Stuttgarter Nachrichten, kann keine Umsiedlung mehr beginnen. Was das für S 21 bedeutet, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung.

Die Grünen haben sich ja nie mit Stuttgart 21 abfinden können, obwohl „Kretsche“ jetzt als Ministerpräsident von Ba-Wü gute Miene zum bösen Spiel machen muss. Aber erinnern Sie sich: Am 12. September 1985 war Joseph Martin Fischer Umweltminister in Hessen geworden. Was seinerzeit noch niemand erkannt hatte: Das war ein strategisch genialer Schachzug gegen Stuttgart 21, dessen Vorplanungen ja bis in die 70er Jahre zurückreichen. Den führenden Grünen war damals schon klar, dass man tierische Unterstützung gegen solche Mega-Projekte benötigt, wobei es im Gegensatz zur Politik auf die Größe der Tiere nicht ankommt. Es bedarf sicher noch intensiver historischer Forschung, um die genauen Zusammenhänge zu klären. Und einiges wird vielleicht für immer im Dunkeln bleiben. Doch vieles deutet darauf hin, dass die Grünen schon früh auf Gorbatschow und den Mauerfall gesetzt haben, um die Bataillone von Mauer- und Zauneidechsen gegen Stuttgart 21 in Stellung zu bringen und dann zu gegebener Zeit ausrücken zu lassen.

Das klingt Ihnen zu sehr nach Verschwörungstheorie? Zugegeben, an dem Einwand ist was dran. Aber Vorsicht! Wer hätte denn gedacht, dass der West-Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 während des Schah-Besuchs den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hat, inoffizieller Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit war? Was erst 42 Jahre nach der Tat bekannt wurde. Also sind wir mal gespannt, was 2058 über die Verbindung der Reptilien im Kampf gegen „Stuttgart 21“ ans Tageslicht kommt. Ich werde das nicht mehr erleben. Sie vielleicht.

Foto: RIA Novosti CC BY-SA 3.0 via Wikimedia

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