Markus Somm
Das ist die Geschichte einer Frau, die es gewohnt war, den Marxismus-Leninismus als das zu nehmen, was er war: eine Glaubensrichtung, die nichts mit der Realität zu tun hatte, aber sehr viel mit der herrschenden Meinung der herrschenden Kreise. Eigentlich hätte es die Frau wohl besser gewusst: Ausgebildet als Physikerin, diplomiert und promoviert, ehrgeizig und präzis, nüchtern, wenn nicht staubtrocken, war sie sich bewusst, was Empirie und die Gesetze der Natur dem Menschen zumuten: Er kann sie nicht ändern. Doch in der DDR, wo die Frau aufwuchs, herrschten nicht die Natur gesetze, sondern Erich Honecker.
Umso verblüffender ist, dass die gleiche Frau: Angela Merkel, inzwischen Bundeskanzlerin des mächtigsten Staates Europas, ihrem Land, es heisst Deutschland, eine Energiewende verschrieb, die wenig mit empirischen Grundlagen, aber sehr viel mit Macht und Zeitgeist zu tun hat. Nicht unähnlich dem Marxismus-Leninismus teilt diese neue grüne Glaubensrichtung die Welt der Energie in böse und gut: die bösen fossilen Brennstoffe stehen für die Versündigung von uns Menschen an der Mutter Natur, die Erneuerbaren, Sonne und Wind, strahlen als die Guten – während die Kernkraft das Feuer des Teufels ist, das wir nun – auch in der Schweiz – mit dem Beelzebub auszutreiben im Begriff sind. Wir hoffen auf die Erlösung. Stattdessen verbrennen wir im Fegefeuer.
Denn die Ergebnisse dieser sogenannten Energiewende, welche Angela Merkel (CDU), die einstige Physikerin aus der DDR, eingeleitet hat, sind nicht ermutigend. Zu besichtigen ist ein Debakel gut gemeinter Politik, die das Gegenteil dessen bewirkt hat, was sie anstrebt. In Deutschland sind in den vergangenen zwei Jahren die CO2-Emissionen wieder gestiegen:
von 929 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2011 auf 951 Millionen Tonnen im 2013, wie die Regierung unlängst bekannt gab. Ziel wäre es eigentlich gewesen, diesen Ausstoss zu senken, um in gut sechs Jahren auf 750 Millionen Tonnen zu ge langen. Dies entspräche einer Verminderung von 40 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 (1,25 Milliarden Tonnen). Ehrgeizig und idealistisch, bis es wehtut, haben die deutschen Politiker sich mehr vorgenommen als alle übrigen in Europa, geschweige denn der Rest der Welt:
Mit 40 Prozent wollte die Bundesrepublik ihren Ausstoss um doppelt so viel reduzieren wie jedes andere Land in der EU.
Besorgt, mit zerfurchten Gesichtern und eher mässiger Laune traten am Mittwoch dieser Woche Barbara Hendricks (SPD), die deutsche Umweltministerin, und Sigmar Gabriel (SPD), ihr Kollege im Wirtschaftsministerium, vor die Presse und kündigten neue Massnahmen an, damit die Energiewende trotz dieser irritierenden Zahlen noch gelingen können soll, muss, will. Zu gelingen wurde dieser Revolution befohlen, weil Merkel und ihr schwarz-rotes Kabinett sehr viel politisches Kapital in den Umbau der deutschen Energieversorgung investiert haben – das sie nicht verlieren wollen, noch können.
Dass es immer unwahrscheinlicher erscheint, dass diese ambitionierten Ziele je erreicht
werden, – trotz der weltweit grosszügigsten Förderung und Subventionierung von Wind- und Solarkraftwerken in Deutschland, liegt an der Empirie. Sonne und Wind sind nicht marktfähig, weil zu teuer, deshalb müssen sie mit Subventionen gestützt werden. Sonne und Wind sind aber auch aus naturgesetzlichen Gründen nicht in der Lage, den Strombedarf regelmässig zu decken. Einmal bläst der Wind, dann hat Deutschland fast zu viel Strom, was die Preise zerstört, dann herrscht Flaute, wer sorgt dann für Strom? Die gleichen Nachteile bietet die Sonne, die in Deutschland, einem Land im oft von Wolken überzogenen Nordwesteuropa, weniger zuverlässig scheint als anderswo.
Weil wir Menschen (und die Industrie) aber fast immer des Stromes bedürfen, müssen andere Kraftwerke einspringen, wenn Sonne und Wind versagen: Am besten wären wohl Kernkraftwerke, diese Champions der berechenbaren Band energie, am besten geeignet, um kontinuierlichen Strom zu liefern. Doch was des Teufels ist neuerdings in Deutschland und anderen deutsch sprachigen Ländern, muss überwunden werden, gefragt sind Verrichtungen des Exorzismus. Am kommenden Montag wird auch in der Schweiz der Nationalrat über den Atomausstieg verhandeln. Neben den Deutschen sind wir weltweit die Einzigen, die diese Pilgerschaft ins Nichts auf uns nehmen dürften.
Zwar hat Deutschland mit seiner beispiellosen Förderungspolitik von Sonne und Wind diese mächtig ausgebaut: Heute liefern Kraftwerke,
die auf diese Energieform setzen, 25 Prozent des Strombedarfs. Gleichzeitig ist aber, was ihren CO2 anbelangt, die schmutzigste Energieform noch mächtiger gewachsen: 45 Prozent des Stroms wird in Deutschland mittlerweile von Kohlekraftwerken produziert, und alle Experten rechnen damit, dass künftig noch mehr Kohle verbrannt werden wird. Es ist ein Rückschritt sondergleichen.
Das hat mit den perversen Effekten dieses Staatseingriffs in den Energiemarkt zu tun: Dank gigantischen Subventionen werden Strompro duzenten dazu verleitet, den Markt mit Strom aus Sonne- und Windkraftwerken dermassen zu überfluten, dass die Preise für den Strom aus
allen anderen, konventionellen Kraftwerken
in die Tiefe gestürzt sind. Selbst unsere Pumpspeicherkraftwerke in den Alpen, geniale Werke schweizerischer Ingenieurskunst, stehen bald vor dem Ruin, wenn diese irrwitzige deutsche Politik weiter betrieben wird. Auf einem realen Markt wären sie nach wie vor sehr konkurrenzfähig, nun werden sie aber
ausgeschaltet durch subventionierten Strom aus Sonne und Wind. Dass wir Schweizer diese Pumpspeicherkraftwerke noch zusätzlich belasten, indem wir ihnen Wasserzinsen abverlangen,
passt zur allgemeinen geistigen Verwirrung in der Energiepolitik.
Würden wir die Wasserzinsen einfach streichen: Die Pumpspeicherkraftwerke wären in der Lage, den einzig wirklich billigen Strom zu produzieren, der konkurrenzfähig wäre in ganz Europa, zumal es der einzige Strom ist, den man auf Knopfdruck liefern kann. Denn die Stauseen ermöglichen,
was der Stand der Technik sonst nicht erlaubt:
Die Speicherung von elektrischer Energie. Der Egoismus der Kantone in den Bergen, die von den Wasserzinsen prächtig leben, hintertreibt, dass wir wenigstens unsere Pumpspeicherkraftwerke vor den Folgen der deutschen Energiewende retten können.
Alles ist unberechenbar geworden, alles hat etwas Gespenstisches. Was einmal falsch war, wird immer falscher: Weil Sonne und Wind unzuver lässig sind, muss praktisch neben jedes Solar- oder Windkraftwerk ein normales Kraftwerk gestellt werden. Weil aber die Preise für diesen Strom so schlecht sind, setzen die deutschen Stromunternehmen auf Kohlekraftwerke, da diese vergleichsweise billig zu erstellen sind. Sie bergen nicht die inzwischen untragbaren finanziellen Risiken eines Wasserkraftwerks oder gar eines Atomkraftwerks. Wenn die Firmen nicht mehr langfristig mit sicheren Vorgaben planen können, weil die Politiker den Moden der Zeit hinterherlaufen, sind die nötigen immensen Investitionen nicht mehr zu verantworten.
König Kohle, nicht Sonne, Wind oder Sterne: Das ist die Zukunft der Stromproduktion in Deutschland, einem Land, das seit Jahrzehnten den Kohleabbau aus politischen Gründen ohnehin subventioniert hat. Man kann deshalb davon ausgehen, dass diese groteske Renaissance der Kohle auf Jahre unumkehrbar bleiben wird. Das ist der Grund, warum Deutschland wieder mehr CO2 ausstösst – und solange König Kohle herrscht, werden die entsprechenden Zahlen immer finsterer aussehen.
Angela Merkel, die Frau, die angetreten war, die Kernkraft zu besiegen (das ist ihr in Deutschland gelungen) und das Kohlendioxid aus unserem Leben zu verbannen (danach sieht es nicht aus): Sie ist gescheitert in jeder Beziehung. Noch nie war die Energieversorgung so gefährdet in ihrer Heimat, einem Land, das früher berühmt war für seine Elektroindustrie (Siemens, AEG, BBC Mannheim) und seine Ingenieure, die zusammen eines der besten und zuverlässigsten Stromnetze der Welt bauten und exportierten.
Noch nie war der Strom in Deutschland für den Konsumenten so teuer wie jetzt – weil all die Subventionen für die Erneuerbaren vom Konsumenten via Strompreis bezahlt werden. Noch nie musste die deutsche Industrie fürchten, ihre Konkurrenzfähigkeit einzubüssen, weil es ihr an Versorgungssicherheit mangelte und die weltweit fast höchsten Energiepreise sie bedrücken. Noch nie seit Jahrzehnten hat sich Deutschland im Übrigen dermassen isoliert. Niemand folgt. Weder Frankreich noch Italien noch England, geschweige denn die übrige Welt.
Als der amerikanische Präsident Barack Obama vor Kurzem China besuchte, hat er mit seinem chinesischen Kollegen Xi Jinping ein Abkommen geschlossen, dessen Tragweite in Europa nicht ausreichend bemerkt wurde. Mit Blick auf die kommenden Klimakonferenzen versprach China, die Kohlekraft zu reduzieren, um seine CO2-Emissionen zu senken und stattdessen Gaskraftwerke zu bauen (und Atomkraftwerke, aber das gehörte vermutlich nicht zum Deal). Gaskraftwerke stossen sehr viel weniger CO2 aus als Kohlekraftwerke – nämlich vier Mal weniger (1600 g/CO2 pro kWh bei Kohle gegenüber 400 g/CO2 kWh bei Gas). Im Gegenzug statten die Amerikaner China mit der neusten Technologie für Gaskraftwerke und dem Know-how für die Förderung von Schiefergas aus – mit Sicherheit zu sehr vorteilhaften Konditionen für beide Seiten.
Niemand ist für die Klimapolitik gewichtiger, nichts ist mehr von Belang als das Verhalten der beiden grössten CO2-Produzenten der Welt, China und USA, weswegen offensichtlich ist, dass der Weg in eine CO2-ärmere Welt nicht über die (wankelmütigen, teuren, nicht überlebensfähigen) Erneuerbaren führt, sondern einstweilen über Gaskraftwerke. Deutschland steht im Abseits. Dies wird sich an der Klimakonferenz im 2015 in Paris zeigen. Der Glaube an die Erneuerbaren hat Deutschland in die Wüste gelockt. Angela Merkel, Physikerin, war Moses. Doch das gelobte Land: Es bleibt nicht nur ihr verwehrt, sondern uns allen. Vielleicht mag es für Angela Merkel ein Trost sein, dass Doris Leuthard, Christdemokratin wie sie selbst, dafür sorgt, dass sie wenigstens die kleine Schweiz als einziges Land in die Wüste begleitet, um dort zu verdorren.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung