Manchmal ist es ja aufschlussreich, die Welt mit den Augen der Anderen zu sehen. Immerhin verhindert es Schmalspur- oder gar Scheuklappendenken. Die Einengung des gesellschaftlich zulässigen Meinungsspektrums und damit des politischen Diskurses wird oft als „typisch deutsch“ angesehen, als Ausfluss des tatsächlich speziell in Deutschland sehr verbreiteten Selbsthasses. Bekanntlich kommt dieses Phänomen aber aus den USA sowie dem Vereinigten Königreich.
Es beruhte zunächst auf dem anerkennenswerten Versuch, den zivilisierten Umgang innerhalb einer sehr heterogenen und fragmentierten Gesellschaft, der ein stabiler gemeinsamer Nenner fehlt, zu gewährleisten. Je mehr dieser Nenner fehlt, der als gemeinschaftliche Einsicht in die Notwendigkeit Freiheit darstellt, desto furioser und zwanghafter wird die Debatte. Uns auf dem Kontinent erreichte sie verspätet, bisher noch mit verminderter, wenngleich schon erheblicher Heftigkeit.
Dabei erfolgt die Unterdrückung eines breiten Diskurses kulturell bedingt mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Ist bei uns die sogenannte „Nazi-Keule“ taugliche Allzweckwaffe, ist die Einordnung als rechts oder nationalistisch in anderen westlichen Staaten nicht dominant. In den USA sind vor allem Rasse und Geschlecht Maßstab für gut oder böse, demgegenüber in Großbritannien, wo die Klassengesellschaft bis heute noch eine erhebliche Rolle spielt, die „Mittelschicht“ zudem anders definiert wird als bei uns, hat die Klasse eine größere Bedeutung.
Im Januar dieses Jahres löste der britische Schauspieler Laurence Fox, auch hier vielen bekannt als Sergeant James Hathaway aus der in Oxford spielenden Inspector-Lewis-Krimiserie, ein mittleres Erdbeben aus. Im Rahmen der auf BBC One ausgestrahlten Debattenrunde „Question Time“ vertrat er die Ansicht, Meghan Markle sei kein Opfer von Rassismus. Den Einwand eines Zuschauers, Fox könne das nicht beurteilen, weil er ein weißer Mann aus der Mittelschicht sei, bezeichnete er seinerseits als Rassismus. Die Wogen schlugen hoch, letztendlich gründete Fox im September eine neue Partei namens Reclaim:
„Over many years it has become clear that our politicians have lost touch with the people they represent and govern. Moreover, our public institutions now work to an agenda beyond their main purpose ...“
We are all privileged to be the custodians of our shared heritage. We can reclaim a respectful nation where all are included and none are ashamed to have somewhere to call home. …”
(„Über viele Jahre ist es deutlich geworden, dass unsere Politiker den Kontakt mit den Menschen verloren haben, die sie repräsentieren und regieren. Außerdem arbeiten die öffentlichen Institutionen nun an einer Agenda außerhalb ihres Hauptzwecks ... Wir sind alle privilegiert, die Hüter eines gemeinsamen Erbes zu sein. Wir können eine respektvolle Nation zurückfordern, die alle einschließt und wo niemand sich dafür schämen muss, eine Heimat zu haben.“)
„Und was sind Ihre unbewussten Vorurteile?“
Diese Entwicklung wirft ein Schlaglicht auf das zunehmende Auseinanderdriften unserer westlichen Gesellschaften, wobei gerade die gemäßigten und vermittelnden Stimmen derjenigen, die weder Anywheres noch Somewheres, sondern eher „Betweeners“ sind, zunehmend untergehen.
Aus Interesse fragte ich im britischen Freundeskreis, wie diese Entwicklung denn beurteilt würde. Überrascht hat mich die Reaktion eines typisch liberalen Intellektuellen. Nachdem er zuerst – natürlich – über das Wetter schrieb, kam der erste Giftpfeil:
„Farbe zu bekennen ist ein wunderbares Gegengift zu den gesellschaftlichen Belehrungen, die zunehmend die Programmen und Überschriften der BBC zu beherrschen scheinen.“ („Getting out is a great antidote to the social-attitudinising which seems to be increasingly prevalent in programmes and news headlines on the BBC.”)
Bezüglich des Erfolgs der Parteigründung ist er skeptisch, schrieb dann jedoch:
„Ich erinnere mich an die Sendung „Question time“, bei der (Laurence Fox) von einem Zuhörer angegriffen wurde, er sei ein weißer Mann der Mittelschicht. Diese Art von Ad-hominem-Angriffen sind zunehmend vorherrschend, um zu versuchen, anderen einen gültigen Standpunkt zu verweigern. Das Problem ist, dass eine ähnlich konstruierte Entgegnung nicht als Widerlegung dieses Verhaltens erkannt wird, sondern als Beweis für das inhärent Böse des Sprechers verwendet wird. Noch schlimmer ist die Behauptung, dass alle weißen Menschen unbewusste Rassisten sind. Die Tatsache, dass es für diese Unterstellung keinen Beweis gibt, kümmert den Befürworter nicht. Ebenso wenig wie die Gegenfrage, 'Und was sind Ihre unbewussten Vorurteile?', ihnen die Absurdität ihres Standpunktes enthüllen würde. Weil wir es nicht mit einem rationalen Diskurs zu tun haben, sondern mit Versuchen, die freie Rede zu verbieten und die Vorrangstellung beziehungsweise Überlegenheit der selbsternannten Tugendhaften zu behaupten.
Man kann jemand, der sich entschlossen hat, irrational zu sein, seine eigene Irrationalität nicht beweisen. Die Absurdität ist, dass Gegner anhand von Stereotypen wie Geschlecht, Klasse oder „Rasse“ – oder alles drei – beurteilt werden von Leuten, die behaupten, sie seien Gegner des Beurteilens nach Stereotypen. Es ist, als würde man versuchen, mit jemanden zu diskutieren, der sagt, „Es ist alles subjektiv“, indem man sagt, „Diese Behauptung ist aber auch subjektiv.“ DAS ist zu subtil für sie. Will wirklich irgendjemand eine ernsthafte Auseinandersetzung, um DIE Wahrheit zu erlangen, wenn sie glauben, sie seien im heiligen Besitz DER WAHRHEIT? Niemand erwartet die Spanische Inquisition (um Monthy Python zu zitieren) ... Sie sind die neuen Selbstgerechten. Die Erwählten.“
(„I remember the Question Time TV programme on which he was attacked by a member of the audience for being ‘a white middle-class man’. These sorts of ad hominem attacks are increasingly prevalent as attempts to deny others a valid point of view. The problem is that a riposte similarly constructed is not recognised as a rebuttal of the position but taken as evidence of the speaker’s inherent evil. Even worse is the claim that all white people are unconsciously racist. The fact that there is no proof in such an assertion does not concern its proponent. Nor would a counter-question such as: 'And what are your unconscious biases?’ reveal to them the absurdity of their position. Because we are not dealing with rational discourse, but simply attempts to close down speech and assert the primacy/superiority of the self-appointed virtuous.
You cannot demonstrate irrationality to someone who chooses to be irrational. The absurdity is that opponents are stereotyped by gender, class or ‘race’ – or all three – by people who claim to oppose stereotyping. It’s like trying to argue with someone who says: ‘It’s all subjective’ by saying: ‘Well, in that case, so is THAT claim.' THAT is too subtle for them. Does anyone want a genuine argument to reach at The Truth when they think they are in holy possession of THE TRUTH? Nobody expects the Spanish Inquisition (to quote Monty Python) ... They are the new Self-Righteous. The Chosen.”)
Moralische Überhöhung übertüncht intellektuelle Armseligkeit
Diese Analyse ist meiner Ansicht nach sehr treffend. Die Erwählten, im vermeintlichen Besitz der einzig wahren Wahrheit, bemänteln ihr Sektierertum als Wissen. Dies macht die Auseinandersetzung mit ihnen unmöglich, denn ein rationaler Disput setzt den Zweifel, die zumindest theoretische Möglichkeit des Irrtums, zwingend voraus. Folge ihres Erwählten-Status ist ihre Selbstgerechtigkeit, die Überzeugung absoluter moralischen Überlegenheit.
Deutlich wird aber auch, dass mittlerweile „die Erwählten“ den Bogen überspannt haben. Liberale Intellektuelle, also von lebensnahen Problemen eher entfernte Bewohner des Elfenbeinturms, sind genau die Schicht, die sich in der Moderne stets als Erwählte sahen. Sie fühlten sich schon lange nicht nur im ebenso umfassenden wie alleinigen Besitz der Wahrheit, sondern auch omnipotent. Daher werden linken Ideologien vor allem von Intellektuellen, selten jedoch von echten Arbeitern vertreten. Wenn nun aber selbst Mitglieder der eigenen Schicht bemerken, dass das Selbstbild und die Eigenwahrnehmung bestenfalls illusorisch sind, die moralische Überhöhung die intellektuelle Armseligkeit lediglich übertünchen soll, dann ist dies der Anfang vom Ende.
Der religiöse Charakter derzeitiger Weltanschauungen wird dabei immer offensichtlicher. Das wundert wenig, denn wer im Ungewissen navigieren will, gleichgültig ob in Raum oder Zeit, benötigt einen Kompass. Nur durch die Festlegung eines Ortes als Norden ergibt sich Süden, daraus folgend auch Osten und Westen. Diese ordnende Funktion der Religion als Koordinatensystem der Werte wird oft übersehen. In seiner Stellungnahme zur Pädophilie schrieb der Papst em. Benedikt XVI.:
„Versuchen wir, diesen wesentlichen Inhalt der Offenbarung Gottes nun etwas weiter auszufalten. Dann können wir sagen: Das erste grundlegende Geschenk, das uns der Glaube darbietet, besteht in der Gewißheit, daß Gott existiert. Eine Welt ohne Gott kann nur eine Welt ohne Sinn sein. Denn woher kommt dann alles, was ist? Jedenfalls hat es keinen geistigen Grund. Es ist irgendwie einfach da und hat dann weder irgendein Ziel noch irgendeinen Sinn. Es gibt dann keine Maßstäbe des Guten oder des Bösen. Dann kann sich nur durchsetzen, was stärker ist als das andere. Die Macht ist dann das einzige Prinzip. Wahrheit zählt nicht, es gibt sie eigentlich nicht. Nur wenn die Dinge einen geistigen Grund haben, gewollt und gedacht sind – nur wenn es einen Schöpfergott gibt, der gut ist und das Gute will – kann auch das Leben des Menschen Sinn haben.“
Eine Gesellschaft, in der Gott abwesend ist – eine Gesellschaft, die ihn nicht kennt und als inexistent behandelt, ist eine Gesellschaft, die ihr Maß verliert. In unserer Gegenwart wurde das Stichwort vom Tod Gottes erfunden. Wenn Gott in einer Gesellschaft stirbt, wird sie frei, wurde uns versichert. In Wahrheit bedeutet das Sterben Gottes in einer Gesellschaft auch das Ende ihrer Freiheit, weil der Sinn stirbt, der Orientierung gibt. Und weil das Maß verschwindet, das uns die Richtung weist, indem es uns gut und böse zu unterscheiden lehrt.
Die westliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der Gott in der Öffentlichkeit abwesend ist und für sie nichts mehr zu sagen hat. Und deswegen ist es eine Gesellschaft, in der das Maß des Menschlichen immer mehr verloren geht. An einzelnen Punkten wird dann mitunter jählings spürbar, dass geradezu selbstverständlich geworden ist, was böse ist und den Menschen zerstört. So ist es mit der Pädophilie. Vor kurzem noch als durchaus rechtens theoretisiert, hat sie sich immer weiter ausgebreitet ...“
Lachen statt Humorlosigkeit
Zwar bin ich nicht katholisch, als Jurist ist mir jedoch das Böckenförde-Diktum geläufig, welches besagt, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Die Erkenntnis, was gut und was böse, was richtig und demgegenüber falsch ist, muss vorhanden sein. In Gesetzesform wird es lediglich gegossen. Es ist das, was Nord und Süd beim Kompass sind. Aus gutem Grund ist daher das Recht mit der Religion verwandt, nicht nur im Islam. Auch Rabbiner sind prinzipiell Rechtsgelehrte, erst im Christentum wurde die Seelsorge wesentliche Aufgabe der Geistlichen.
So mag es ein geschickter Schachzug gewesen sein, die Religion als Opium für das Volk zu verunglimpfen, aber es ist eines der ersten Beispiele dafür, dass diese Form der Auseinandersetzung immer dann gewählt wird, wenn ein Argument fehlt und man selbst um jeden Preis Anteile am Markt der Macht erlangen möchte. Ein in sich konsistentes und überzeugendes, sinnstiftendes Koordinatensystem ist jedenfalls zur Lenkung von komplexen Gesellschaften unabdingbar, ob wir das nun mögen oder nicht. Vielleicht ist es die nächste Stufe der zivilisatorischen Entwicklung westlicher Gesellschaften, sich damit offen und unbefangen zu befassen. Dieses Thema mehr oder minder dubiosen Heilsbringern zu überlassen, kann nicht die Lösung sein.
Unter psychologischen Gesichtspunkten scheinen mir übrigens Religionen, die auf dem Grundsatz „Ich habe dir geboten, dass du getrost und freudig seist“ (Josua 1; 9) aufbauen, zielführend. Dieser Satz aus dem sechsten Buch des Tanach und damit des Alten Testaments, also der jüdisch-christlichen Tradition, erlaubt nicht nur das Lachen und die Fröhlichkeit, sondern fordert sie geradezu. Welch grandioser Gegensatz zur herrschenden Humorlosigkeit!