Von Daniela Seidel.
Das Leben ist kompliziert und manchmal herrlich unberechenbar. Wer glaubt, er könne alles beeinflussen und sich durch Tadellosigkeit gegen alle Wechselfälle absichern, unterliegt einer Kontroll-Illusion.
Wir Deutschen dürfen und sollen ja auf nicht allzu viel stolz sein. Einige wenige Eigenschaften, das muss man fairerweise einräumen, sind aber als erstrebenswerter Quell der Identifikation schon noch erlaubt. Verantwortungsbewusstsein beispielsweise, und eng damit verbunden die Vernunft. Die gerade hinter uns liegende, immer noch bestehende und wieder am Horizont dräuende, oxymoronische Dauerpandemie und deren kollektive Bekämpfung verlangte bedingungslos danach. Zunächst durch Appelle, wenig später durch Vorschriften, die von nicht unerheblichem Einfallsreichtum zeugten.
Ja, es war alles ganz furchtbar. Es hätte aber auch noch viel, viel schlimmer kommen können. Zunächst einmal war die Verhinderung der Katastrophe biblischen Ausmaßes unserer fürsorglichen und entschlossen handelnden Bundesregierung, allen voran der selbstlosen Mutter Angela (hier in Acryl auf Leinwand) zu verdanken. Wie unfein angesichts dessen, dass ein gewisser Professor Homburg sich frühzeitig erfrechte darzulegen, schon der erste Lockdown sei völlig unnötig gewesen, da die zu diesem Zeitpunkt noch als lebensentscheidend gehandelte Superzahl R bereits vorher rückläufig war. Nun lag nichts näher, als dem guten Mann die sofortige Erhebung in den Olymp der freilaufenden Covidioten angedeihen zu lassen; rein rechnerisch ließen sich seine Ausführungen dummerweise trotzdem nicht widerlegen.
Just trat der Universalgelehrte und allseits beliebte Erklärbär für Everything, Ranga Yogeshwar, auf den Plan und wusste dieses Kuriosum mainstreamtauglich und erwachsenenpädagogisch korrekt einzuordnen. Und wir lernten: Es lag an unser aller vorauseilender Vernunft!
Und diese ist im Alltagsverständnis mit Verstand und natürlich mit Intelligenz assoziiert. So war die woke Bubble schier außer sich vor Begeisterung, als Genschnipseltest-Rekordwerte ausgerechnet in den sogenannten AfD-Hochburgen auftraten. Welch wundervolle, nahezu elegante Beweiskette: Moralisch gesehen höchst fragwürdige und offensichtlich IQ-geminderte, verantwortungslose, rechtsdenkende und -wählende Maskenverweigerer, Distanzdissidenten und Lüftungsversager hatten jetzt endlich den Salat. Die Quittung ihrer Dämlichkeit. Die gerechte Strafe. Das Konzept „Krankheit als Schuld“ feierte übrigens spätestens hier auf allen nur denkbaren Ebenen seine Renaissance. Ärgerlich nur, dass wenig später das umso linkslastigere Bremen den Inzidenzgipfel erklomm. Ad-hoc-Erklärungen ließen aber nicht lange auf sich warten. Schließlich hatten die Bremer beispielsweise mit niederländischen Touristen zu kämpfen, die daheim tolldreist oben ohne herumrannten und den Killererreger einschleppten.
Umstellung auf kompletten ideologischen Linksverkehr
Wie kam es nun aber zu dem Phänomen, dass in den USA die Staaten Texas und Florida, die bereits ab Frühjahr 2021 begannen, sämtliche Maßnahmen aufzuheben, nahezu identische Verläufe wie Kalifornien und New York aufwiesen? Bei letztgenannten galten bis kürzlich ja noch ähnliche Regeln wie in Bayern. Waren überall alle gleichzeitig vernünftig geworden? Hielten sich in Texas und Florida besonders Gewissenhafte zum Ausgleich doppelt und dreifach an die abgeschafften Pflichten?
Ähnliche Fragen wirft Kambodscha auf. Impertinent aus der Reihe tanzend, wurden dort zur Virus-Bezwingung lediglich magische Vogelscheuchen aufgestellt, und damit hatte es sich im Großen und Ganzen. Aber siehe da – trotz lediglich lächerlich anmutendem Hokuspokus hat das Land, Stand heute, 3.056 C-Tote zu beklagen, was nachgerade als Zero-Covid-Strategie durchgehen dürfte. Denn auch wenn Deutschland fünfmal so viele Einwohner hat, verstarben hierzulande bislang mit oder an rund 44,5-mal so viele Menschen. Was war nur geschehen? Sind dortige Gesundheitsämter zehnmal mehr auf Zack? Sind die Kambodschaner von Natur aus noch vernünftiger als die kühlen Schweden und nehmen zwecks Kompensation staatlichen Versagens die AHA-L Regeln unaufgefordert mit eiserner Disziplin ernst?
Und weiter gedacht: Waren unsere, an atemberaubender Rationalität kaum noch zu überbietenden Interventionen wie Abstandshölzer, zur doppelten Sicherheit mit Frischhaltefolie beklebte, bargeldabschaffende Zahlterminals, offizielle Parkbank-Buchlese-Verbote und ungeschriebene Apfelverzehrmindestgeschwindigkeiten einfach der Vernunft noch nicht genug?
Noch viel spannender als die ohnehin schon interessante Frage, ob überhaupt ein Zusammenhang zwischen Fallzahlen, Infektionsgeschehen und Vernunft besteht, ist die, was uns hier eigentlich beigebracht werden soll? Was macht kluges, soziales, anständiges Verhalten aus? Was ist überhaupt Vernunft, wer definiert sie und warum wird diese ständig so betont? Die womöglich vor langem politisch beschlossene, definitiv aber medial eifrig befeuerte Umstellung auf kompletten ideologischen Linksverkehr inklusive Wertegleichschaltung könnte hier ursächlich sein.
Aber das ist natürlich genauso eine Verschwörungstheorie wie die Überlegung, dass mittels dieser geplanten oder einfach nur gelegen kommenden Pandemie Wahrnehmung, Urteil und Verhalten beeinflusst und in die einzig vernünftige Richtung gesteuert werden sollte. Ein Schelm, wer dabei gar an die schleichende Etablierung eines Social-Credit-Systems nach chinesischem Vorbild denkt. Verrückt, wer glaubt, der Versuchsballon in Italien sei damit irgendwie verwandt oder verschwägert. Ist ja schließlich nur ein Angebot, alles freiwillig und die Plätze vermutlich knapp und so begehrt, dass ein regelrechter Impf... sorry, Testneid aufkommt.
Persönliche Freiheit zum Preis des digitalen Halsbandes verjubelt
Fraglos gibt es Lebensstile, die risikoträchtiger als andere sind. Weniger abenteuerlustige Gattungsangehörige, die sich zuhause einschließen und die Lüftungsschlitze im Bad noch mit Krepp-Band abdichten, dürften sich mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht bei einem waghalsigen Rodeo-Ritt den Hals brechen oder nach einem Rochenstich ihren letzten Odem aushauchen und vorher noch eine Intensivstation verstopfen. Corona-positiv können sie trotzdem werden, was wiederum die Lauterbachsche Theorie des Kamineffekts auf dem stillen Örtchen stützt.
Aber Scherz beiseite, allein die Idee eines Bonussystems für verordnetes Wohl- und Vermeidungsverhalten – sei es jetzt in Klima-, Konsum-, Gesundheits- oder politischen/weltanschaulichen Aspekten – hat etwas zutiefst Verstörendes. Zudem kommt auch noch die Humorpolizei. Wer Sprüche klopft, die irgendjemandes Befindlichkeiten tangieren und mehr oder weniger hauchzart an der Grenze des Grotesken kratzen (was ja, Hand aufs Herz, erst das zum Brüllen Komische ist) findet sich bei Twitter bereits heute schon mal flott im 7-Tage-Stubenarrest wieder, um seine Unbotmäßigkeit zu überdenken. Lachen war schon den Brüdern in Umberto Ecos „Der Name der Rose“ verboten. War ja schließlich auch ansteckend.
Fakt ist, das Leben ist kompliziert und manchmal herrlich unberechenbar. Wer glaubt, er könne alles beeinflussen und sich durch Tadellosigkeit gegen alle Wechselfälle absichern, unterliegt einer Kontroll-Illusion. Fakt ist aber auch, dass die Sehnsucht danach, dessen ungeachtet, groß zu sein scheint und persönliche Freiheit zum Preis des digitalen Halsbandes und faktischen individuellen Kontrollverlustes gerade erschreckend kritiklos an Dritte verjubelt wird, welche subjektive Gefahrenminimierung versprechen und davon erheblich profitieren.
Und selbst wenn die uns als solche verkaufte Vernunft das einzig Vernünftige sein sollte: no risk at all bedeutet auch no fun at all. Und in letzter Konsequenz no life at all. Und das kann sich doch eigentlich niemand ernsthaft wünschen.
Daniela Seidel, Jahrgang 1974, studierte Psychologie und ist heute Wahl-Braunschweigerin und Unternehmerin.