Eine Schlagzeile von neulich: „Rupert Scholz wirft Bundesregierung andauernden Verfassungsbruch vor". Soweit ist die Erosion der Merkel-Macht mittlerweile schon gediehen, dass ein Staatsrechtler und ehemaliger Bundesminister der CDU in einer rechten, merkelfeindlichen Wochenzeitung wie der "Junge Freiheit" die eigene Kanzlerin kritisiert und dabei nicht umhin kommt, gar die AfD zu loben. Weil die AfD die einzige Partei sei, die, wie Rechtsprofessor Scholz meint, eine verfehlte und überdies rechtswidrige Grenzöffnungspolitik anprangert.
Die AfD darf sich bedanken: bei Rupert Scholz, aber auch bei der Kanzlerin, die durch ihre Flüchtlingspolitik erst die Missstände geschaffen hat und noch immer schafft, an denen sich die Rechtsaußen-Partei gerne schadlos hält. Das erinnert an den klugen Satz des Philosophen Ernst Bloch: "Manche haben nicht das Recht, rechtzuhaben" (vgl. Nachschrift 1962 zu "Erbschaft dieser Zeit", Suhrkamp-Verlag, S. 26). Die Maxime galt für Bloch noch in den 1960er Jahren, als mancher rechts-konservative Würdenträger mit Nazivergangenheit im Westen des geteilten Landes die Zwangszustände in der abgeriegelten DDR anprangerte, denen der utopische Kommunist Bloch ("Das Prinzip Hoffnung") gerade ins Tübinger Exil entwichen war.
Was leider heute nur selten verstanden wird: Der links-grüne Kampf gegen die AfD und andere Rechte bleibt, gerade in der Flüchtlings- und Integrationspolitik, oft weitgehend trotzig-symbolisch im "Jetzt erst recht!" stecken. Verwechslungsangst und Angst vor politischem Identitätsverlust sitzen bei den meisten Linken jeder Färbung tief. Und so werden unliebsame Tatsachen und Medienberichte, sofern sie die wahl-mitentscheidenden Themen Migration, Integration und Islam betreffen, entweder geleugnet, erst gar nicht zur Kenntnis genommen oder ihre bloße Ansprache im Alltagsdiskurs terminologisch als "rechts" gebrandmarkt.
"Wie wirken sich Umfang und Tempo der Einwanderung auf die sozialen Interaktionen sowohl zwischen Einheimischen und Einwanderern als auch unter den Einheimischen selbst aus? Welche ökonomischen Folgen hat die Einwanderung auf die unterschiedlichen Berufs- und Altersgruppen unter den Einheimischen? Wie ändern sich die Auswirkungen im Laufe der Zeit? Ein gering besiedeltes Land wie Australien wird zu einer anderen Einschätzung kommen als ein dicht besiedeltes wie die Niederlande", schreibt der international wohl bekannteste Migrationsforscher und Ökonom Paul Collier in seinem Standardwerk "Exodus – Warum wir Einwanderung neu regeln müssen" (Siedler, 2014). Ob Niederlande oder BRD, das bleibt sich hier gleich.
Einfache Fragen, mit denen man sich nur ungerne beschäftigt
Collier, dem ehemaligen Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank und lt. Wikipedia "führenden Experten für afrikanische Wirtschaft und die Ökonomien der Entwicklungsländer", wird man kaum Sympathien für Rechtspopulisten nachsagen können. Der britische Ökonom stellt uns und den politisch Verantwortlichen einfache Fragen, mit denen man sich bis heute gerade auch in Deutschland nur ungerne beschäftigt. Und kommt dabei zu einer einfachen Schlussfolgerung.
Erst wenn die eigentlichen Ursachen angegangen werden, sprich: die Erkenntnis wächst und in zielgenaue Politik überführt wird, dass Zuwanderung, zumal aus kulturfremden Gebieten, in ein Land nicht unreguliert und auch nicht unbegrenzt erfolgen sollte, weil sie zwangsläufig und vorhersehbar innergesellschaftliche Spannungen, Disparitäten und auf beiden Seiten, bei Einwanderern und Einheimischen, falsche Erwartungen allein schon aufgrund von materiellen und organisatorischen Ressourcenknappheiten hervorrufen wird – erst dann wird der Spuk der rechtspopulistischen Nutznießer der selbstgeschaffenen Überschätzungsfolgen eingedämmt werden können.
Leider waren (und sind) viele Linke und Grüne und mit ihnen die Regierenden im Land nicht imstande, diese eher simple Wirkungsdialektik zu verstehen. Festzustellen bleibt, dass sie alle versäumten, sie vorausschauend einzukalkulieren, bevor 2015 der Entschluss reifte, die Grenzen – und die Herzen – für die Massenzuwanderung weit zu öffnen. Zum Verständnis dieses Versäumnisses und zum daraus folgenden Schuldeingeständnis wird man freilich erst gelangen, wenn es gelingt, diesen Fehler und die eigene ignorante, bestenfalls blauäugige und vom bloßen Wünschen geleitete Politik als mitursächlich für den Aufstieg der Rechten anzuerkennen. Das wird allerdings kaum passieren – denn es würde, das ahnt die Linke, vordergründig nur einen weiteren (und nur allzu peinlichen) Triumph der Rechten bedeuten.
Die Schuld der Linken ist insofern gleich eine doppelte – eine infolge ihrer begriffslosen Mitwirkung an den Zuständen, die seit einiger Zeit im Land problematisiert werden (etwa die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft vieler Migranten, sich den hier obwaltenden arbeitsweltlichen und allgemein umgangsregulierenden Normenbedingungen rasch anzupassen). Und sie ist eine, die sich dann offenbart, wenn das eigene Versagen schließlich notgedrungen anerkannt wird, dies damit aber zugleich wie eine nachträgliche Bestätigung für den politischen Gegner wirkt.
In der Falle
Aus dieser Falle ist mittlerweile kaum noch zu entkommen, es sei denn um den Preis eines hohen Glaubwürdigkeitsverlustes. Nur: Genau dies hätte eine vorausschauend-kluge Politik von Anfang an erkennen und ins Kalkül ziehen müssen!
Derlei nicht getan zu haben und letztlich damit mitschuldig gewesen zu sein am Aufstieg der Nazis, hat 1936 Ernst Bloch schon in seiner Analyse ihres Aufstiegs in „Erbschaft dieser Zeit“ den damaligen Linken vorgehalten: dass die Linke durch eine falsche Politik, nicht zuletzt durch das völlige Ignorieren der in Bewusstseins-Ungleichzeitigkeiten verhafteten Massen und durch die Missachtung ihrer Alltagsbedürfnisse und -bedrängnisse den betrügerischen Nazis Felder offengelassen haben, die diese dann allzu leicht besetzen konnten.
Blochs Kritik zielt in seinem im Zürcher Exil geschriebenen Buch auf das schematische, schlecht-rationale der kommunistischen Agitation, die einen konstruierten Träger "reinen" proletarischen Klassenbewusstseins ansprach, den es außerhalb der engsten Parteikader aber nicht gab – zur Freude der Nazis: "Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber von Sachen."
Die Nazis hatten, so weist Bloch nach, emotional die stärkeren "Argumente", mit denen sie gerade auch die irrationalen Regungen, die Alltagserfahrungen, Phantasien und Wünsche verschrobener Art aufzugreifen oder zu "besetzen" in der Lage waren, wie sie bei den ungleichzeitig verelendeten Schichten vorfindlich sind – "ungleichzeitig" deswegen, weil "mit vielen Resten älteren ökonomischen Seins und Bewusstseins" behaftet.
Nur deshalb konnten die Nazis "so ungestört betrügen, weil eine allzu abstrakte (nämlich zurückgebliebene Linke) die Massenphantasie unterernährt hat. Weil sie die Welt der Phantasie fast preisgegeben hat, ohne Ansehung ihrer höchst verschiedenen Personen, Methoden und Gegenstände" ("Erbschaft dieser Zeit", Suhrkamp 1985, S. 149).
Sich anverwandeln, ohne sich einzulassen
Bloch benennt die Vorstellungskomplexe ungleichzeitigen Bewusstseins, die von den Linken hätten aufgenommen werden müssen und auch mit Erfolg besetzt werden können: Heimat – Folklore – Familie – Nation... Ja, selbst Volksgemeinschaft und die religiösen Sehnsüchte und Symbolkräfte zählt der damalige Kommunist Bloch noch dazu:
„Aufgabe ist, die zur Abneigung und Verwandlung fähigen Elemente auch des ungleichzeitigen Widerspruchs herauszulösen, nämlich die dem Kapitalismus feindlichen, in ihm heimatlosen, und sie zur Funktion in anderem Zusammenhang umzumontieren." Nüchtern stellt der Philosoph fest: "Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber von Sachen."
Die Linke muss sich also, so die Lehre, quasi die Hände schmutzig machen, sich auf die rhetorische Tonhöhe der Rechten einstellen, ohne dabei jedoch ihre Lieder zu singen. Eine ähnliche Vorgehensweise, wie sie für die Sozialarbeit in Randmilieus gilt: sich anverwandeln, ohne sich einzulassen, um von innen heraus die Daseinsbedingungen des zu Bannenden und zu Verändernden zu verstehen.
Heute macht die Linke wieder die gleichen Fehler wie damals. Sie versteht nicht, zu fragen, wo die Rechten rechthaben, obwohl gerade die Rechten dazu "kein Recht haben". Die Linke arbeitet diesen Unterschied nicht heraus. Sie versteht nicht den tieferen Sinn der Aussage des früheren französischen sozialistischen Premiers Laurent Fabius, mit der dieser den damaligen Chef des Front National, Jean-Marie Le Pen, in einem Präsidentschaftswahlkampf in den 1990er Jahren attackierte:
"Monsieur Le Pen stellt die richtigen Fragen, aber er gibt die falschen Antworten!"
Die Linke ist inzwischen so wirklichkeitsblind und den realen Fragen der Massen bei der Gestaltung von Einwanderung und Integration enthoben, dass sie nicht von sich aus und erst nach Widerständen zu erkennen vermochte, welche verheerenden Wirkungen etwa die Kölner Silvesternachtereignisse im Unterbewusstsein der Menschen ausgelöst haben und immer noch haben. Oder was andere, ähnliche und ebenso erschreckende kriminelle Taten von Flüchtlingen für den aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeuten.
Schon eine einfache Ansage, dass ein Land und seine Menschen, welche Geflüchteten aus eigenen bereitgestellten Mitteln kostenlos neue humanitäre Lebenschancen anbietet, von diesen im Gegenzug ein "anständiges", ganz gewiss aber kein kriminelles Verhalten erwarten darf; eine solche Ansage, die jeder im Privatleben sogleich machen würde, etwa, wenn ich Fremden Zutritt zu meinem Gartenfest gestatte und diese dann zum Dank das Tafelsilber mitnehmen oder die Hausherrin vergewaltigen – eine solche Ansage gilt hierzulande schon als "rechts" und damit als verachtenswert.
Dann darf sich aber auch kein "Linker" wundern, dass die Menschen, derart von links her brüskiert, sich irgendwann denen zuwenden, die ihnen gerne zuhören, wenn auch mit, wie Bloch sagen würde, "betrügerischer" Absicht. Diese Menschen "abstrakt auszukreisen und den interessierten Verstandesfeinden zum Betrug zu überlassen", wie Bloch in der erwähnten Schrift schreibt, war und ist der Grundfehler der Linken, die nur allzu gerne – und sicher auch mit guten Gründen – zu Demos gegen Rechts aufruft, aber oft ihrerseits "nicht das Recht hat, rechtzuhaben" – weil sie dabei niemals darüber reflektiert, welchen eigenen, wiewohl nicht alleinigen schuldhaften Anteil sie an der Heraufkunft der Rechten hat.
Die Linke sieht sich oft bloß mechanisch als Reflex-Wiedergängerin der Rechten. Sie merkt dabei nicht, dass sie dabei ahnungslos an der Komplexität der Wirklichkeit vorbeizielt, ja sie verrät, während die Rechten sie ihrerseits für ihre Zwecke ausbeuten. Was die Linke wiederum dazu legitimiert, ihren „Kampf gegen Rechts“ noch weiter zu intensivieren... in einer sich immer schneller drehenden Spirale immer gleicher, aber zunehmend lauter werdender Ersatzhandlungen. Auf der Strecke bleiben dabei am Ende die Menschen mit konkreten Ängsten, Hoffnungen, Enttäuschungen, Verzweiflungen. Egal welcher Herkunft.
Ein unheilvoller, unverstandener Teufelskreis, der schon einmal in die Katastrophe geführt hat.
Siehe auch: Paul Nellen: Wer wirklich Schutz und Hilfe sucht, begeht keine Straftaten