Quentin Quencher / 10.09.2022 / 16:00 / Foto: Achgut.com / 12 / Seite ausdrucken

Mäandernde Gedanken

Mir ist bewusst, dass meine Art zu denken, im Prinzip, bei den heutigen „Woken“ ist. Das Gefühl wird zur Wahrheit, belastbare und stabile Herleitungen, wie sie analytische Forscher konstruieren, gibt es keine.

Gespräche, Unterhaltungen, Diskussionen, immer wenn sie vorbei sind, kommen mir Gedanken, die doch eigentlich hätten gesagt werden müssen. Doch während der Gespräche hatte ich sie nicht, erst in der Reflexion wurden sie mir bewusst. Dann aber waren die Unterhaltungen vorbei.

Vor allem in Streitgesprächen ist das auffällig, oft habe ich die Schlagfertigkeit meiner Gegner bewundert, die so schnell eine Antwort auf von mir Gesagtes parat hatten. Wie machen die das nur, fragte ich mich, bin ich so ein langsamer Denker? Ist möglicherweise mein Wissen völlig unzureichend für solche Gespräche? Eigentlich ist doch meine Auffassungsgabe gar nicht so schlecht, zumindest brauche ich, um etwas zu lernen oder zu erlernen, in der Regel nicht mehr Zeit als beispielsweise die Mehrzahl meiner Klassenkameraden, jedenfalls früher. Dabei habe ich eigentlich nie viel Zeit darauf verwendet Dinge zu lernen, die man eben lernen soll. Meine Noten waren dennoch immer etwas besser als der Klassendurchschnitt, das genügte mir.

Spontan fällt mir einer ein, der eine deutlich schnellere Auffassungsgabe hatte als ich, das war auf der Meisterschule. Nein, der war nicht Klassenbester, eigenartigerweise habe ich als Indikator für eine gute Auffassungsgabe oder fürs Denken meiner Kommilitonen, niemals irgendwelche Schulnoten verwendet, im Gegenteil, die mit den besonders guten Noten, schienen mir immer eher mäßige Denker zu sein. Sie können wahrscheinlich besser ausblenden, was nicht unbedingt zum gewünschten Ziel führt. Ergebnisorientiert, fällt mir dazu ein.

Nicht Auswendiglernen, sondern begreifen

Dort, auf der Meisterschule, hatten wir einen Lehrer, einen Handwerksmeister, der wegen gesundheitlicher Probleme seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte und Berufsschullehrer wurde, und nun eben auch hier unterrichtete. Der war also ein Mann aus der Praxis und ein sehr direkter Typ. Als er einmal einen Vortrag über irgendwelche chemischen Prozesse hielt, schrieben wir Schüler uns zumindest die Stichworte und Begriffe mit, nur mein Banknachbar nicht, der saß kerzengerade auf seinem Platz, war offensichtlich hoch konzentriert und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

„Interessiert Sie das nicht, oder ist es Ihnen bereits bekannt, was ich hier erzähle?“, fragte der Lehrer meinen Banknachbarn. „Nein, nein“, antworte der so Angesprochene, „ich muss nur erst einmal begreifen, um was es hier genau geht, bevor ich mir irgendwelche Notizen mache, von denen ich dann nicht weiß, wie ich sie verwenden oder einordnen kann“. Der Lehrer lächelte, bevor er ein zustimmendes Nicken zeigte. Von da an wurde er sein Lieblingsschüler, oft sah ich die beiden noch miteinander diskutieren, abseits des Unterrichtes, hier war einer, der nicht Auswendiglernen wollte, sondern begreifen.

Von diesem Lehrer muss ich aber noch etwas berichten, obwohl es eigentlich gar nicht mit dem Thema dieses Artikels hier zu tun hat, in dem es, ganz grob gesagt, um Gespräche gehen soll. Manchmal passiert das, wir wollen etwas beschreiben, aber schweifen ab. Oft geschieht das gar nicht mit Absicht, wie wenn durch Einfügungen von Nebenerzählungen dem Thema eine bestimmte Richtung gegeben wird. Ein Pferd bekommt vom Reiter einen kaum zu sehenden Befehl, schon läuft es in die gewünschte Richtung. Nebensätze haben diese Wirkung in Erzählungen ebenso. Vielleicht wird diese kleine kommende Einfügung über den Lehrer die gleiche Wirkung haben, doch das ist nicht meine Absicht, ich bezwecke damit rein gar nichts, sondern will nur von seinem Tod berichten.

Ausblendungen und Weglassungen

Er, der Lehrer, ist bei dem Unglück auf der Flugschau in Ramstein 1988 ums Leben gekommen, zusammen mit seiner Frau. Wir kennen alle die Bilder, wie ein Flieger in die dort versammelten Menschen hinein abstürzte und auch ihn tötete. Er war von Flugzeugen fasziniert, sein Hobby waren Modellflugzeuge, und er vertrieb auch, so wurde jedenfalls erzählt, eine eigene entwickelte Benzinmischung speziell für diese Fluggeräte.

Immer wenn ich an ihn denke, beispielsweise jetzt, dann drängt sich sein Ende in den Vordergrund. Was mich natürlich fragen lässt, warum das so ist, warum ich seinen Tod als große Ungerechtigkeit empfinde. Es gibt ja noch mehr mir bekannte Menschen, die durch Unfälle oder Krankheiten vorzeitig aus dem Leben gerissen wurden, aber in diesen Fällen verfluche ich das Schicksal nicht, sondern nehme es einfach hin.

Ich verjage diese Gedanken wieder, denn sie haben nichts mit dem zu tun, worüber ich hier schreiben möchte. Aber wie das so ist mit verjagten Gedanken, irgendwo verstecken sie sich dann und kommen doch wieder zum Vorschein. Manchmal passend, oft nicht. Seit ich davon abgekommen bin, Phänomene analysieren zu wollen, passiert mir das immer öfter. Analysen funktionieren durch Ausblendungen und Weglassungen, alles, was nicht dazu passt, weil es keinen Platz in einer belastbaren Gedankenkette einnehmen kann, wird aussortiert. In der Betrachtung geschieht das Gegenteil, Aspekt wird zu Aspekt gefügt, bis sich ein Bild entwickelt. Mir liegt das mehr, füge Dinge zusammen, obwohl die einzelnen Elemente oft einem Bauchgefühl entstammen, also keine klaren Herleitungen sind.

Der eine sammelt Beweise, der andere Eindrücke

Mir ist bewusst, wie nahe meine Art zu denken, im Prinzip, bei den heutigen „Woken“ ist. Das Gefühl wird zur Wahrheit, belastbare und stabile Herleitungen, wie sie analytische Forscher konstruieren, gibt es keine. Grandiose Fehlinterpretationen sind, bei dieser Art zu denken, ebenso drin wie wahre Erkenntnisse. Eine Fernsehserie fällt mir ein: „Darwins neue Welt“. Charles Darwin flippte darin regelrecht aus, als er bemerkte, dass ein Präparatesammler im malaiischem Dschungel, Alfred Russel Wallace, durch seine Beobachtungen die beinahe gleichen Gedanken zur natürlichen Auslese und der Entstehung der Arten entwickelte wie er selbst. Der Ausspruch: „Dieser Mann hat sich die Natur angesehen wie ich und er ist auf die gleichen Gedanken gekommen wie ich“, wird Darwin dort in den Mund gelegt.

Vergleiche hinken oft, vielleicht auch dieser, dennoch entspricht es meiner Überzeugung, dass eben die gleichen Erkenntnisse durch verschiedene Techniken entstehen können. Darwin konzentrierte sich in jahrelanger Kleinarbeit auf die Rankenfußkrebse, um an ihnen die Mechanismen seiner Theorie zu beweisen und darzustellen, Wallace ging in den Dschungel, und in der Fülle und Vielfalt der Eindrücke dort reifte seine Theorie. Der eine sammelt Beweise, der andere Eindrücke. Der eine entwickelt Herleitungen, der andere Gedankenbilder.

Wie aber lässt sich ein Gedankenbild schnell beschreiben, abgesehen davon, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis es sich entwickelt? Es lebt ja nicht von einer Herleitung, sondern von der Kombination verschiedener Komponenten. Auswendiggelerntes nützt dem Betrachter nicht viel, dem Argumentierer schon, damit lassen sich wunderbar beispielsweise programmierte Fragen beantworten. So führen sie auch Gespräche, wird mir bewusst. Die schnellen Antworten können nur aus einem Baukasten kommen, Vorgefertigtes wird zu Hand genommen, Argumente, die sich in anderen Diskussionen bewährt haben.

So langsam habe ich eine Erklärung dafür, warum Streitgespräche mit mir als Teilnehmer, somit so gut wie alle politischen Diskussionen, für mich so unbefriedigend verlaufen. Nie kann ich von meinen Gedankenbildern erzählen, dafür ist nicht genug Zeit, und außerdem müsste bei den Streitgegnern auch sowas wie Empathie vorhanden sein, ohne die Gedankenbilder sowieso nie verstanden werden können. Ich bin kein Argumentierer, eher ein Erzähler.

Dieser Text ist ebenfalls auf Quentin Quenchers Blog Glitzerwasser erschienen.

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Thomas Szabó / 10.09.2022

Manchmal hielt ich während des Schulunterrichtes die Augen geschlossen. Der Lehrer fragte mich, ob ich schlafe. Nein! Da mich der Vortrag des Lehrers besonders interessierte, eliminierte ich alle optischen Reize und konzentrierte mich nur auf seine Worte. Um Missverständnisse zu meiden, setzte ich mich mit geschlossenen Augen ganz aufrecht hin. Bei guten Vorträgen mache ich immer die Augen zu. Ich hatte zumeist sterbenslangweilige Lehrer und so kritzelte ich vor mich hin und dabei entstanden ähnlich uninspirierte & öde Kritzeleien, wie die des untalentierten, aber lieber Jungen Jean-Michel Basquiat.

S. Andersson / 10.09.2022

Wie mein einer Sohn vor Jahren zu mir sagte: Papa!!! Du musst das verstehen!  Ein verschlungenes Gespräch mit einem Erzähler ist wegen den oft nicht ganz einfach zu verstehenden Windungen immer etwas schwierig… für die meisten. Die können einfach nicht folgen und Wissen in der Regel zu wenig… die glauben eher. Eine der schwersten Aufgaben dürfte es immer noch sein, einen eindeutigen Satz zu formulieren. Unter dem Aspekt macht es mir immer öfter viel Spass diese nicht so schnell denkenden Menschen zu verwirren…. erklären nützt in dem Punkt nix… man muss es selber gemacht haben

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