Dass die Welt noch einmal „am deutschen Wesen genesen“ würde, davor hat sie bislang das gütige Schicksal bewahrt. Wann immer sich die Teutonen weltpolitisch mausig machen wollten, hat ihnen die Geschichte einen Strich durch die Rechnung gemacht. Am meisten aber dürfen sich die Deutschen selbst darüber glücklich schätzen.
Denn wie wäre es ihnen ergangen, hätten ihre nicht eben begnadeten Politiker, die verklemmten Hochstapler, den außenpolitischen Erfolg gehabt, nach dem sie dürsteten? Wie hätte er ihre Hybris befeuert, wie wären sie mit dem eigenen Volk verfahren? Was hätten sie ihm zugemutet in dem Wahn, die beste aller möglichen Welten zu schaffen? Gottlob ist es so weit nie gekommen.
Dass die Gefahr aber für alle Zeit gebannt sei, ist gleichwohl eine Hoffnung, die trügen könnte. Immerhin werden die Deutschen nun schon bald fünfzehn Jahre von Angela Merkel regiert, wie unmündige Kinder zurechtgewiesen, angehalten, dies oder das über sich ergehen zu lassen – eine Massenzuwanderung, die den inneren Frieden kostete, eine Energiewende, die alle Rücklagen auffrisst, die privaten wie die öffentlichen, und am Ende noch einen Entzug der bürgerlichen Freiheitsrechte, dessen Ausmaß in keinem Verhältnis zum Anlass steht.
Eine Kehrtwende um 180 Grad
Gut, das alles mag die Welt rundherum nicht weiter kümmern. Warum lasst ihr euch diese diktatorischen Eingriffe in einer Demokratie gefallen, könnten die Ausländer fragen. Nun aber zog selbst der stolze Franzose Emmanuel Macron nach einer Videokonferenz mit unserer Großen Vorsitzenden den Schwanz ein, indem er von heute auf morgen eine außenpolitische Kehrtwende um 180 Grad hingelegte.
Hatte sich der französische Präsident noch Anfang des Monats kraftvoll hinter den russischen Regimekritiker Alexei Navalny gestellt und gefordert, wegen dessen Verhaftung und der brutalen Niederknüppelung landesweiter Proteste das deutsch-russische Projekt Nord Stream 2 zu begraben. Kaum eine Woche später tanzte er elegant gewendet nach der Pfeife seiner deutschen Regierungskollegin. Macron bei Fuß.
Merkel ihrerseits hatte von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass die Pipeline fertig gebaut werden würde, Menschenrechtsverletzungen hin oder her. Mag doch halb Russland gegen seinen gewählten Zaren auf die Straße gehen, die stählerne Nabelschnur, die Europa mit dem russischen Großreich politisch verbinden soll, will sich Merkel nicht abschneiden lassen. Und Macron entblödete sich nicht, auf den Kurs der Deutschen einzuschwenken, in Sack und Asche zu gehen, als er erklärte: "Anfangs habe ich dieses Projekt infrage gestellt. Jetzt haben wir uns entschieden. Ich bin jetzt vollständig mit ihr (A. M.) solidarisch.“
Die globale Kumpanei der Mächtigen
Wie soll man sich diese Erniedrigung erklären? Welcher Teufel hat den Franzosen geritten? Wir wissen nicht, wie und mit welchen Worten oder Versprechen die betagte Frau den jüngeren Mann auf ihre Seite gezogen hat. Eher schon dürften es die gründlich veränderten politischen Zustände unserer Tage, die globale Kumpanei der Mächtigen sein, die ihn verführte, auf Moral, Ethik und „europäische Werte“ zu pfeifen.
Wie mit dem Absaufen des Kommunismus die Konfrontation zwischen links und rechts obsolet wurde, so erübrigte sich die weltpolitische Abgrenzung der Nationen im Zuge der Globalisierung. Zugleich hat sich eine grenzübergreifende Kaste von Berufspolitikern formiert, einzig verbunden durch die Lust an der Machtausübung.
Rund um die Welt sitzen sie alle in einem Boot, aufeinander angewiesen, wenn sie am Ruder bleiben wollen. Diesen Trumpf dürfte Merkel ausgespielt und weiter daran erinnert haben, dass eine Krähe der anderen nicht die Augen aushackt. Sind sie doch alle in der nämlichen Situation, gezwungen, sich die bisweilen aufmüpfigen Bürger vom Hals zu halten – das Volk, „den großen Lümmel“, von dem schon Heinrich Heine wusste, dass ihm die Herrschaft nie so ganz über den Weg trauen kann. Putin hat Navalny und dessen Sympathisanten am Hals, Macron die Gelbwesten, Merkel die Querdenker.
Der Sonnenkönig und der Zar
Näher als ihren Völker, die sie kaum kennen, sind sich die Mächtigen untereinander, sozusagen von Berufs wegen. Öfter als die Bürger draußen auf der Straße treffen sie einander. Bereits vor Jahren empfing Macron Putin mit allem Pomp, in Versailles und auf seiner Ferienresidenz am Mittelmeer. Der Sonnenkönig und der Zar.
Und als der Altbundeskanzler Gerhard Schröder neulich von der FDP-Politikerin Ria Schröder (FDP) gefragt wurde, weshalb er „mit einem Despoten wie Wladimir Putin befreundet“ sei, antwortete er im vertrauten Basta-Ton, man möge doch bitte beim Thema bleiben. „Das lautet: Führungspersönlichkeiten in der Politik.“
Nur allzu gern hält der neue Weltadel Hof, an der deutschen Ostsee, im bayrischen Elmau, in Camp David oder in Saudi-Arabien. Einer versteht den anderen, weil sie alle dasselbe Ziel verfolgen, die gleichen Probleme haben. Keiner will da den Nächsten im Stich lassen, weil er im Fall der Fälle selbst nicht im Stich gelassen werden möchte. Also sprach Macron in Sachen Nord Stream 2 unterwürfig zu Merkel: „Ich bin jetzt vollständig mit ihr solidarisch.“ Deutsche und Franzosen waren dabei nebenher eingeschlossen, schweben die Regierungen doch ohnehin in dem Glauben, sie allein seien das wahre, das eigentliche Volk, nicht dessen Diener.
„Ich“, soll die Kanzlerin laut FAZ einmal gesagt haben, „ich bin nicht Angela, ich bin Deutschland“, was im Umkehrschluss heißt: Deutschland hat so zu sein, wie sie ist. Wäre das der Fall, dann bedeutete dies: Die Gefahr einer Genesung der Welt am deutschen Wesen ist nach wie vor virulent. Und Macron hat eben demonstriert, wie schnell dabei andere Nationen noch immer unter die Räder der deutschen Hegemonie geraten können.