Roger Letsch / 03.04.2018 / 11:00 / Foto: Ildar Sagdejev / 21 / Seite ausdrucken

Grundgesetz jetzt mit Nichtanwendungs-Erlass

Wenn die Gesprächsbereitschaft endet, setzt die Weisungsbefugnis ein – besonders dann, wenn die Widersprüche oder gar die Ungesetzlichkeit staatlichen Handelns offensichtlich werden. Da gibt es immer wieder ein „warum“ zu viel.

Die aufgeweckten unter den Kindern kennen und beherrschen eine Methode, ihre Eltern und Großeltern in den Wahnsinn zu treiben. Mit der wiederholten Frage „Warum?“ kann man die nämlich dazu bringen, einen Gegenstand oder eine Regel in immer kleinere Bestandteile zu zerlegen und Argumente bis zu ihrem Kern zu entkleiden. Meist enden diese Q&A-Ketten abrupt, nachdem die Kinder ihre Eltern in Widersprüche verwickeln konnten und deren Antworten nicht mehr konsistent sind. Eltern merken das und reagieren mit dem argumentativen Befreiungsschlag „Weil das so ist“, ergänzt manchmal noch um den autoritären Hinweis: „Weil ich es dir sage!“.

Nun wissen wir, dass diese kindlichen Fragen nur selten auf einen echten Erkenntnisgewinn zielen, sondern der Spaß für das Kind darin besteht, Mutter oder Vater auf Kommando Aussagen zu entlocken und ins Schwitzen zu bringen. Manche Kinder nehmen die „finale Antwort“ einfach hin – andere nicht. Das Spiel wird nämlich per Machtwort beendet, hinter dem kein Erkenntnisgewinn mehr möglich ist. Wozu dieses Beispiel, fragen Sie sich? Dieses Bild kommt mir immer dann in den Sinn, wenn ich von so manchen Rechtsstreitigkeiten zwischen Bürger und Staat lese, die vor Verwaltungsgerichten und Finanzgerichten ausgetragen werden. Sowohl Machtverhältnisse als auch der Geltungsanspruch sind dort ähnlich ungünstig verteilt, ähnlich wie bei „Warum“-Frageketten zwischen den Generationen. Wenn die Gesprächsbereitschaft endet, setzt die Weisungsbefugnis ein – besonders dann, wenn die Widersprüche oder gar die Ungesetzlichkeit staatlichen Handelns offensichtlich werden. Da gibt es immer wieder ein „warum“ zu viel.

In letzter Zeit, also seit etwas mehr als zehn Jahren, also etwa seit Amtsantritt unserer ewigen Kanzlerin, hört und liest man immer wieder von Bürgern – manche von ihnen nannte und nennt man despektierlich „Wutbürger“ – die sich in Artikeln, auf Demos und Parteitagen auf das Grundgesetz berufen. Das hat mehrere Gründe. Erstens sind dessen 146 Artikel mit ihren nur wenigen Abzweigungen und Verschachtelungen überwiegend mustergültig klar. Zumindest, sofern sie nicht durch nachträgliche Bauarbeiten verklausuliert wurden. Auch Laien – unter den Bürgern stellen die ja bekanntlich die Mehrheit – sind in der Lage, ihre darin niedergeschriebenen Rechte zu erkennen, und diese Tatsache war sicher von den Schöpfern des Textes beabsichtigt worden. Schon aus diesem Grund haben die Verfasser hohe Hürden für Änderungen errichtet.

Recht zu haben kann gefährlich sein

Zweitens regelt das Grundgesetz die Beziehungen zwischen dem einzelnen Bürger und dem Staat mit all seinen Entitäten. Es zieht Grenzen, die der Staat nicht überschreiten darf, wenn auch einige wichtige Definitionen fehlen oder sehr schwammig formuliert sind.

Zum dritten gibt es mit dem Bundesverfassungsgericht eine national finale Gerichtsinstanz, welche die deutsche Rechtspraxis immer in Bezug zu diesem kleinen und schlanken Gesetzbüchlein setzt. Die Tatsache, dass die Zahl der Anrufungen dieses Gerichts in den letzten Jahren zumindest gefühlt stark gestiegen ist, lässt vermuten, dass einige Bereiche des politischen Alltags sich mehr und mehr an eben diesen Grundrechten vergreifen.

Das Empfinden von Unsicherheit sorgt bei vielen Bürgern dafür, ihre Nasen nach langer Zeit einmal wieder in das Grundgesetz zu stecken, um festzustellen, ob das, was ihnen da in vielerlei Hinsicht zugemutet wird, noch den Intentionen unserer Verfassung entspricht. Und finden sich offensichtliche Rechtsbrüche, gilt häufig das Wort Voltaires, welcher feststellte, dass es gefährlich sei, recht zu haben, wenn der Staat unrecht hat.

Über Geld werden Sie im Grundgesetz kaum eine Aussage finden. Mit Ausnahme der Tatsache, dass der Bund dafür zuständig sei, sich um die Währung zu kümmern, was er dann im Bundesbankgesetz ja auch tut. Dort wird in der Ausgabe von 1957 in §14 (1) festgelegt, dass Banknoten das einzige, unbeschränkte gesetzliche Zahlungsmittel seien. Gewiss, es gibt auch andere Zahlungsmittel, aber die sind eben nicht unbeschränkt und einzig.

Im Zuge der Einführung des Euro gab die Bundesbank diese Definition eine Ebene nach oben ab und jetzt ist es die EZB, die jedoch genau derselben Auffassung ist: „Die von der Europäischen Zentralbank und den nationalen Zentralbanken ausgegebenen Banknoten sind die einzigen Banknoten, die in der Union als gesetzliches Zahlungsmittel gelten.“ Heißt es in Artikel 128 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

Bargeld als Waffe gegen Willkür

Nun ist Bargeld eine höchst umstrittene Sache. Es gibt deshalb in letzter Zeit verstärkte Bemühungen, es ganz abzuschaffen. Die Frage, warum man das tun sollte, wird auf ganz unterschiedliche Weise beantwortet. Es sei nur zu unserem Besten, sagen die einen. Man könne die Steuerehrlichkeit dadurch „verbessern“ und die Kriminalität bekämpfen. Das sind jedoch schwache Argumente, denn die Steuerehrlichkeit hängt in erster Linie davon ab, ob die Steuern in ihrer Höhe als gerechtfertigt empfunden werden, und die größten Raubzüge finden heute ohnehin online statt. Auch wird es gern so dargestellt, als sei das Bargeld als solches eine Belastung und mit einem Stück Plastik wäre die Welt ein Stückchen einfacher.

Doch ich will hier nicht näher auf die Tatsache eingehen, wie stark man sich durch den Verzicht auf Bargeld abhängig macht vom Wohlwollen des Staates, der dann die Möglichkeit hätte, mit einem Federstrich und ohne Gegenwehr jede Enteignung eines Bürgers vornehmen zu lassen, die ihm gerade als zweckmäßig oder geboten erscheint.  

Ich möchte auf einen Fall verweisen, in dem das Bargeld sich als Waffe gegen eben diese Willkür erweisen würde, weshalb seine Benutzung unter fadenscheinigen Begründungen von staatlicher Seite schlicht untersagt wird.

Die GEZ ist eine der unbeliebtesten Einrichtungen in diesem Land. Immer mehr Bürger sind der Meinung, dass sie die Gebühren, die ja keine Steuern sind, aber sich wie Steuern anfühlen und ebenso durchgesetzt werden, nicht bezahlen müssen, weil sie die Angebote von ARD und ZDF nicht nutzten. Da kennt der Staat jedoch kein Pardon, die Zahlungen werden notfalls durch Pfändungen oder Beugehaft erzwungen. Bei dem einen oder anderen „GEZ-Kunden“ setzte daraufhin der zivile Ungehorsam ein und sie bestanden darauf, die 17,50 Euro Monat für Monat in Bargeld auf den Tisch des Landesfunkhauses zu zählen. Kein Zweifel, vor den Kassen der Sender wären lange Schlangen an der Tagesordnung und all die Klebers, Gauses und Maischbergers müssten neben ihren Sendepflichten auch gelegentlich Fünfcentstücke zu Röllchen bündeln. Das möchte man verhindern, weshalb zum Beispiel der Hessische Rundfunk in seinen Rundfunkstaatsvertrag in § 10 hineinschreibt, dass nur Überweisungen und Lastschrift erlaubt seien, keinesfalls jedoch Bargeld! Soweit kommt’s noch!

Finales „Basta“ im Berufungsurteil

Doch da bekanntlich Bundesrecht Landesrecht bricht (Artikel 31 GG ist mit drei Worten der kürzeste und klarste von allen) und sowohl Bundesrecht als auch EU-Recht das Primat des Bargeldes erklären, kann hier irgendwas nicht stimmen. Das dachten sich auch Norbert Häring, Wirtschaftsjournalist beim Handelsblatt und sein Anwalt Carlos A. Gebauer* und klagten vor einem hessischen Verwaltungsgericht gegen die ihrer Meinung nach unzulässige Einschränkung im Zahlungsverkehr. Ich erspare ihnen hier die meisten Antworten, die Häring und Gebauer auf ihre „Warum“-Fragen erhalten haben und verweise auf den Blog von Norbert Häring.

Interessant sind jedoch einige Formulierungen im bisher finalen „Basta“ im Berufungsurteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 13.2.2018. Das Gericht stellte beispielsweise fest, dass Banknoten zwar allgemeines Zahlungsmittel seien, aber eben nur bei Barzahlung. Diese Feststellung ist ebenso wahr wie überflüssig. Dass zum Beispiel nur Katzen einen Katzenschwanz haben, ist eine sowohl korrekte aber auch unstrittige Feststellung, weil andere Tiere ja prinzipiell keine Katzenschwänze haben. Wenn Gerichte Weisheiten von solch entwaffnender Schlichtheit verbreiten, ist eindeutig etwas faul! Weiter heißt es in der Urteilsbegründung:

„So wie im Privatrechtsverkehr vertraglich eine andere Abrede getroffen werden kann (..), kann im öffentlich-rechtlichen – durch das Über-/Unterordnungsverhältnis geprägten –Bereich die Rechtsbeziehung zwischen (…) öffentlich-rechtlichen Institutionen und rechtsunterworfenen Bürgern eine Rechtsvorschrift ebenfalls anderes regeln und eine von der Barzahlung abweichende Zahlungsweise ausdrücklich vorschreiben, ohne dass hierdurch der Anwendungsbereich des §14 Abs. 1 Satz 2 BBankG tangiert wird.“

Ich weiß ja nicht, wie meine Leser diesen Satz auffassen, aber ich greife mir unwillkürlich wie nach einer Ohrfeige an die Wange und flüstere leise „autsch“. Das Über- beziehungsweise Unterordnungsverhältnis ist damit geklärt, der Staat hat ein Machtwort gesprochen, das Gericht bestätigt dessen Autorität. Das Kind sollte jetzt mit diesem ewigen „warum“ aufhören. Vielleicht haben die Richter bemerkt, dass ihr Argument mit dem Bargeld als einzigem Bargeld nicht mehr der Wahrheitsfindung diente und die Kläger zum Lachen brachte. Nun also noch schnell ein „Basta“ hinterhergeschoben und falls dies die Diskussion nicht final beendet, kommt gleich noch ein weiteres hinterher:

Die Definition des Zahlungsmittels Bargeld durch die Bundesbankgesetze, so die hessischen Richter, könne gar nicht so gemeint sein, wie es der Kläger versteht!

Die Freiheit, das Grundgesetz umzubiegen

Der Punkt, den das Gericht hier gesetzt hat, klingt nach und wiegt tonnenschwer! Es handelt sich um nichts weniger als um die dem Staat zugebilligte Freiheit, verfassungsmäßige Grundrechte per Interpretation so umzudrehen und zu verbiegen, dass sich deren Bedeutung ins Gegenteil verkehrt. Die im Grundgesetz versammelten Artikel stellen größtenteils sogenannte Abwehrrechte dar, das bedeutet, sie sorgen dafür, dass der Staat dem Bürger nicht zu nahekommt. Bisher war das so. Jetzt ist es offensichtlich anders.

Die Bedeutung des Bargeldes im Bundesbankgesetz ist da sicher nur der Anfang einer generellen Neuinterpretation! Wer sagt eigentlich, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes im ersten Artikel, der von der Würde des Menschen spricht, nicht jene ausgeschlossen haben, die wir für unwürdig erklären? Die Würde des Menschen mag ja unantastbar sein – aber wer sagt denn, dass jeder Mensch eine Würde hat? Weil das nicht im Grundgesetz steht, kann man das doch nach Belieben festlegen. Jedem, der zum Beispiel in der „Erklärung 2018“ seine Sorge vor unkontrollierter Massenmigration zum Ausdruck bringt, könnte man pauschal die Würde entziehen – dann fällt es moralisch auch viel leichter, Freund von Feind zu unterscheiden.

Nach der Urteilsbegründung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes gilt nicht mehr, was in Bundesgesetzen geschrieben steht, sondern das, was nach Auffassung des Gerichtes damit gemeint war! Das Grundgesetz, in das der Protest wild entschlossen seine Füße stemmt und ausruft „bis hier her und nicht weiter“, wird per Definition zum unzuverlässigen Treibsand. Der Inhalt des Grundgesetzes gilt in diesem Land bereits nicht mehr als “common sense”, es gibt Menschen, die sich darauf berufen dürfen, und Menschen, denen dieses Recht abgesprochen wird.

Nun kann man natürlich argumentieren, dass es sich hier um eine Petitesse handele – die Zahlungsverpflichtung als solche steht ja gar nicht zur Disposition und der Staat versucht sich nur dagegen zur Wehr zu setzen, um von seinen renitenten Bürgern nicht übermäßig in Anspruch genommen zu werden. Aber dann könnte er ja einen mit Verwaltungsaufwand begründeten Aufschlag für Barzahlung ansetzen, was er nicht tut. Er bügelt ab und setzt Bundesrecht außer Kraft. Das dies kein Einzelfall ist, möchte ich an einem ganz anderen Beispiel zeigen, bei dem es in der Regel noch um weit mehr geht als monatlich 17,50 Euro.

Die verräterischen „Nichtanwendungserlasse“

Ein weiteres Beispiel dafür, wie der Staat durch ein unbegründetes „Basta“ eine Diskussion zu beenden pflegt – und zwar schon seit vielen Jahren – sind die sogenannten „Nichtanwendungserlasse“ des jeweiligen Bundesfinanzministers. Wenn Sie mal sehen wollen, wie ihrem Steuerberater oder Steueranwalt die Zornesröte ins Gesicht steigt, nennen Sie einfach dieses Schlagwort und beobachten die Reaktion. Worum es dabei geht? Ich konstruiere mal folgenden fiktiven Fall, um die Praxis deutlich zu machen:

Stellen Sie sich vor, sie sind Bäcker und kaufen seit Jahren ihr Mehl bei einer Mühle ein, die Ihnen dafür 19 Prozent Umsatzsteuer in Rechnung stellt. Ihr Steuerberater findet heraus, dass es im Dschungel der Umsatzsteuergesetze einen Punkt gibt, demzufolge das Mehl nur mit 7 Prozent versteuert werden müsste und auf ihre Bäckerei träfe dieser Fall zu. Sie und der Müller setzten sich zusammen und vermuten nun, dass die Steuerregelung hier fehlerhaft ist, was Ihnen und dem Müller eine gewaltige Rückzahlung zu viel gezahlter Umsatzsteuer einbrächte, sollte dies gerichtlich festgestellt werden. Sie klagen also vor dem Finanzgericht, verlieren dort jedoch. Die Finanzgerichtsbarkeit ist in Deutschland denkbar flach und bereits die nächste Instanz, der Bundesfinanzhof, ist die höchste. Sie legen also Berufung ein und der BFH gibt Ihnen in der Berufungsverhandlung tatsächlich Recht! Sowas passiert immer wieder. Ein Sieg auf ganzer Linie, sie bekommen Geld zurück! Das feiern Sie dann mit einem großen Artikel in der „Bäckerblume“, weil alle Bäcker und alle Mühlen die frohe Botschaft hören sollen.

Doch leider leider…der Finanzminister hat das BFH-Urteil mit einem „Nichtanwendungserlass“ versehen. Das bedeutet, dass es nur für Ihren Einzelfall gilt, selbst wenn es eine unzulässige Rechtspraxis anprangert und die Gesetzgebung geändert werden müsste. Jeder Bäcker, der die „Bäckerblume“ liest und nun ebenfalls erkennt, dass er zu viel Steuern zahlt, muss denselben Klageweg wie Sie gehen, um sein gutes Recht zu erlangen, obwohl dieses Recht bereits existiert. Der Finanzminister ist aber der Meinung, dass die zu viel gezahlten Steuern bei ihm besser aufgehoben sind, als bei ihren Bäckerkollegen in der Backstube.

Ich habe lange überlegt, ob mir ein besseres Wort als „Willkür“ zu dieser Praxis einfällt – leider nein. Auf bfh-urteile.de heißt es generell zum Thema Nichtanwendungserlass:

„Es gibt BFH-Urteile, die mit einem sogenannten Nichtanwendungserlass belegt werden, d.h. die Finanzverwaltung darf das BFH-Urteil nicht über den Einzelfall hinaus anwenden. Nichtanwendungserlasse werden im als BMF-Schreiben im Bundessteuerblatt I (BStBl I) veröffentlicht. Nichtanwendungserlasse sind verfassungsrechtlich nicht unproblematisch. Der Fiskus beseitigt eine nicht genehme Steuerrechtsprechung durch eine Gesetzesänderung. Den Steuerpflichtigen bleibt – solange die Gesetzesänderung nicht greift – nur die Klage bzw. Revision, um ihr gutes Recht zu erhalten.“

Finanzminister Schäuble, unsere ehemalige „schwarze Null“, hielt es nicht für nötig, diese Praxis zu beenden. Mal schauen, was unser neuer Finanzminister Scholz zu dieser Frage zu sagen hat, meine Mail sollte ihn erreicht haben. Der Staat hat gut gewirtschaftet, kalauerte die heutige Landwirtschaftsministerin Klöckner noch im letzten Jahr. Nun, betrachtet man die aktuelle Rechtspraxis in Bezug auf Grundrechte und Steuergerechtigkeit, wird leider schnell klar, auf wessen Kosten.

Bereits das Denken kann strafbar sein

Als Vera Lengsfeld 1988 einen Artikel der DDR-Verfassung auf ein Plakat schrieb und sogar die Quelle des Textes nannte, ging sie davon aus, dass man sie dafür sicher nicht verhaften würde. Die Textstelle aus Artikel 27 lautete „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern.“ Verhaftet hat man sie dennoch. Als Begründung diente jedoch nicht der Inhalt ihres Plakates, sondern der „Zusammenrottungsparagraph“. Sicher, Vera Lengsfeld sei allein verhaftet worden, meinte die Stasi – aber sie hätte an Zusammenrottung „gedacht“! Das genügte bereits.

So wie in der DDR Vermutungen über die Gedanken der Menschen in handfeste geheimpolizeiliche Maßnahmen und Freiheitsberaubungen mündeten, stellen unsere Gerichte heute Vermutungen über die Gedanken der Väter und Mütter unseres Grundgesetzes an und begründen mit diesen Schlussfolgerungen ihre Urteile. Alles in mir sträubt sich dagegen, die DDR-Justiz mit der der Bundesrepublik zu vergleichen und im Großen und Ganzen verbietet sich dieser Vergleich auch. Noch. Und dennoch kommt es in letzter Zeit immer häufiger zu Entscheidungen der Gerichte, deren Rechtsauffassung eher der Position des Staates zuneigt, ganz gleich, wie schwach diese sind, als die Bürger wirksam vor dem Zugriff dieses Staates zu schützen. Ich sage nur noch „NetzDG“. Die Rolle des wohlwollenden Beschützers, in der sich alle staatlichen Institutionen gern sehen, füllen sie nämlich denkbar schlecht aus. Das Versagen ist mit Händen zu greifen und allgemein bekannt.

Die offensichtlichen Rechtsbrüche im Zuge der Völkerwanderung 2015/16, nicht nur gegen Landesrecht, sondern auch gegen EU-Vereinbarungen seien hier nur erwähnt. Ebenso die trickreich eingeführte Haftung innerhalb des Euroraumes, was die Euro-Verträge eigentlich prinzipiell ausschließen. Zur Vertuschung bekommen diese Maßnahmen dann Bezeichnungen wie „Fazilität“, „Instrument“ oder „Hebel“, weil man die Begriffe „Kredit“ und „Haftung“ lieber meidet. Ebenso folgenlos bleiben die sukzessive Verschrottung der Bundeswehr, wofür die oberste Verschrotterin, Ministerin von der Leyen, auch noch mit einer weiteren Amtszeit belohnt wurde.

Die Rufe des Grundgesetzes, sich doch bitte innerhalb der von ihm gesteckten Grenzen zu bewegen, schenkt die Politik kaum noch Beachtung. So wird die Aufforderung des Verfassungsgerichtes, das Wahlverfahren zur Bundestagswahl zu reformieren, seit Jahren ignoriert. Ergebnis ist ein Bundestag, dessen Größe von Legislatur zu Legislatur weiter anschwillt – das genaue Gegenteil war die Aufgabe, die das Verfassungsgericht stellte. Vergeblich, wie sich bislang erwies.

Dem Bürger wird durch diese sich einschleichende Rechtspraxis ausgerechnet der Teil der Gesetze aus der Hand geschlagen, den er verstehen kann: Das Grundgesetz. Denn die Diskussion und jedes „warum“ kann der „übergeordnete“ Staat jederzeit durch ein gerichtliches „Basta“ beenden. Einfach weil er es kann. Oder um es mit den Worten Carlos A. Gebauers zu sagen: „Das klingt ja fast so, als würden wir uns Regeln geben und wenn uns diese Regeln dann nicht gefallen, diese für unbeachtlich erklären. Das sind ja Zustände wie in der EU.“ – Ich bin gespannt, wie die nächste Instanz, das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, in der Causa „Bargeld“ entscheidet und welche Antwort unser neuer Finanzminister auf meine Frage zur Praxis der Nichtanwendungserlasse geben wird.

UPDATE

Mittwoch, 4.4.2018, 13 Uhr: Soeben erreicht mich die Antwort aus dem Finanzministerium auf meine Frage, ob sich an der Rechtspraxis der Nichtanwendungserlasse etwas ändern werde. Ich zitiere den Wortlaut:

"Ihre Anfrage können wir wie folgt beantworten: Es werden derzeit keine Überlegungen angestellt, die rechtmäßige und verfassungskonforme Praxis der sogenannten Nichtanwendungserlasse zu ändern.

Mit besten Grüßen, Ihr Presseteam"

Verfassungskonform und rechtmäßig also, erklärt das Presseteam des Ministers. Sicherlich deshalb, weil man das gar nicht anders sehen könne. Danke für diese abschließende Antwort, auch wenn ich mir schon wieder mit einem "Autsch" an die Wange greifen muss.

Hier berichtet Carlos A. Gebauer selbst über den Prozessverlauf und ordnet die Urteile anlässlich des Roland-Baader-Treffens 2018 ein. 

Dieser Beitrag erscheint auch auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.

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Leserpost

netiquette:

Ulrich Jäger / 03.04.2018

Werter Herr Letsch, ein Vergleich zwischen DDR- und bundesdeutschem Recht hinkt insofern, dass hier die DDR in ihrer Endphase und Deutschland in seiner aktuellen Situation verglichen werden. Für unsere aktuelle Führung ist das vormalige politische System Wunschziel und alle Handlungen genau auf dessen Erreichung ausgerichtet.  Seien es das “NetzDG” oder die “Nichtanwendungserlasse”, alles läuft ähnlich wie in der DDR darauf hinaus, die Verfassung einschließlich ihrer Ewigkeitsklausel unter Gesetzes- besser noch Anordnungsvorbehalt zu stellen. Als Beispiel könnte der § 106 der DDR-Verfassung dienen: ” Das Grundgesetz kann nur vom Deutschen Bundestag durch Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt.” Oder wie es ein lupenreiner Demokrat hinterm Bospurus so treffend formulierte: “Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind.” Unsere Sonnenkanzlerin hat diesen Spruch bereits alternativlos verinnerlicht.

Stephan Reichelt / 03.04.2018

ähnliches passiert in letzter Zeit auf politischer Ebene doch auch immer öfter, dass zentrale Begriffe umgedeutet oder mit einem neuen Inhalt belegt werden. Für die linken Gewalttäter der Antifa sind Polizisten und “rechte” Demonstranten beispielsweise keine Menschen sondern Sachen, die entsprechend keine Menschenrechte haben. Von linken Politikern wird mittlerweile gerne davon gesprochen, dass man nur mit “Demokraten” reden dürfe. Mit “Demokratie” meinen sie aber nicht westliche Demokratien mit ihren klassichen Politikspektrum von links bis rechts, sondern linke “Demokratien”, wie viele sie in Ostdeutschland mit der “Deutschen Demokratischen Republik” noch in übelster Erinnerung haben. Oder die Umdeutung von linkem Hass und und linker Hetze zu “Haltung”, wobei linke Gewalt nach SPD-Kanzlerkandidat Schulz gar nicht erst existiert: “Links und Gewaltanwendung schließt sich gegenseitig aus”, so hat er nach dem linken G20-Terror tatsächlich verkündet! Nach linker Definition von “Gewalt” wohl schon, denn die Gewalt des linken Revolutionärs gegen Andersdenkende ist aus deren Sicht eigentlich keine richtige Gewalt. Wer das alles hinnimmt und sich der allmächtigen Propaganda des linken Mainstreams hingibt, darf sich nicht beschweren, daß wir über kurz oder lang in einer linken Diktatur landen. Die gestellten Weichen dahin sind für jeden immer deutlicher sichtbar. Solange das aber noch nicht der Fall ist, sehe ich jeden in der Pflicht, sein durch die Verfassung verbrieftes Grundrecht auf freie Meinungsäusserung insbesondere auf friedlichen Demonstrationen auszuüben. Die auch hier immer wieder gern gäusserte Ausrede, es würden ja dort auch Leute mitdemonstrieren, deren Meinung man nicht teile oder die zu “rechts” seien und man deshalb dort nicht mit demonstrieren wolle, kann nicht gelten. Mit der Begründung würde es überhaupt keine Demonstrationen mehr geben, ein Blick auf “linke” Demonstrationen sollte jedem klar machen, dass auch dort immer Linksextremisten mitmarschieren.

Werner Kirmer / 03.04.2018

Genau meine eigenen Erfahrungen. Wir leben in einer Verwaltungsdiktatur.

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