Als die Beatles und die Rolling Stones die Rock'n'Roll-Bühne betraten, stahlen sie die Show, die bisher die Amerikaner sicher in ihren Händen wähnten. Als Boris Johnson den Eid als Premierminister schwor, stahl er Donald Trump die Show, die der Amerikaner bisher fest in seinen Händen wähnte. Ob populäre Musik, ob politisches Entertainment, die Briten sind, wenn sie sich richtig reinknien, nicht zu schlagen. The show goes on and on and on. Teils als light entertainment, teils als tief schürfender Grundsatzstreit.
Wieder einmal bestätigen sie die Worte Winston Churchills, der die Demokratie die schlechteste Regierungsform, außer allen anderen nannte. Also wohl die beste. Im House of Commons ist jedenfalls die lebendigste Demokratie Europas zu erleben, auch wenn es bei den Lords, die ebenfalls mitmischen dürfen, deutlich ruhiger zugeht.
Einer der schönsten Höhepunkte politischer Unterhaltungskunst war erreicht, als ein gewisser Jo Johnson sein Ministeramt niederlegte und die Regierung seines älteren Bruders Boris verließ. Das kleinere, schlankere Brüderlein düpiert den großen, kräftigeren Bruder: Eine führende Familie, die nicht nur in England, sondern auch in Brüssel sozialisiert wurde, erscheint nun noch offensichtlicher als bisher durch den Brexit zerrüttet.
Der Brexit, den eine knappe Mehrheit der Briten (52 Prozent gegen 48 Prozent) vor gut drei Jahren in einem Referendum beschloss und den die Politiker seither nicht auf die Reihe bringen, ist der Motor solcher Höhepunkte der politischen Unterhaltungsindustrie Englands.
Game of Thrones in London
Ein anderer Höhepunkt war, als der konservative Abgeordnete Phillip Lee mitten während einer Rede seines Premierministers von seinem angestammten Platz aufstand, auf die andere, oppositionelle Seite des Parlaments hinüberwechselte und bei den Liberaldemokraten Platz nahm. Ein starkes Bild des Protests, auch wenn danach die Rebellion von 21 Tory-Abgeordneten gegen Boris Johnson politisch schwerer wiegt. Immerhin, der Einzelrebell bewirkte, dass der Premierminister seine knappe Mehrheit von exakt einer Person verlor und seither eine Minderheitsregierung anführt.
Die Rebellion der weiteren 21 bewirkte, dass das Unterhaus dem Regierungschef mit deutlicher Mehrheit untersagen konnte, es zum 31. Oktober auf einen Brexit ohne Abkommen mit Brüssel ankommen zu lassen. Wenn er in zwei Wochen kein Abkommen zustande bringt, soll er gezwungen sein, in Brüssel nochmal eine Verlängerung des längst überfälligen Austrittsdatums zu beantragen.
Die Rache des Chefs folgte auf den Fuß: Die Rebellen, darunter viele altgediente Konservative der milderen Sorte, wurden aus der Fraktion hinausbefördert. Die Rächer sprachen von „Säuberung“, und wenn man diesen stalinistischen Begriff übernehmen will, dann war dies die größte „Säuberung“, die die konservative Partei je erlebt hat. Und das auf Anweisung eines Premiers, der erst gut einen Monat im Amt ist. Game of Thrones nicht in Westeros, sondern in London als britische Reality Show.
Der Brexit wirkt wie ein Katalysator, der lange verdeckte Spannungen knallhart an die Oberfläche treibt. Bei den Torys haben die Hardliner um Boris Johnson die Oberhand errungen, obwohl die Mehrheit oder zumindest eine starke Minderheit den harten Johnson-Kurs nicht gutheißt. Allerdings wagen die meisten nicht zu rebellieren und ziehen die innere Emigration vor.
„Schau'n wir mal, dann seh'n wir schon“
Im Mittelpunkt steht jedoch der aktuelle Streit mit der Opposition. Den Startschuss gab Johnson, als er auf die trickreiche Idee kam, das Parlament für fünf Wochen nach Hause zu schicken, offiziell um seine – von der Queen vorzulesende – Regierungserklärung vorzubereiten, in Wahrheit aber, um seinen harten Brexit ohne lästige Kontrolle durch das Parlament durchzuziehen.
Damit provozierte er einen Machtkampf zwischen Parlament und Regierung von historischer Bedeutung. In früheren Machtkämpfen dieser Art ist die nicht schriftlich fixierte englische Verfassung entstanden, eine der ältesten demokratischen Verfassungen der Welt. Sie funktioniert nach dem Prinzip, dass auch ungeschriebene, aber durch Tradition geheiligte Regeln beachtet werden. Dies wird durch den neuen Kampfgeist zwischen Unterhaus und Downing Street nun infrage gestellt. Selbst auf die Frage, ob Boris Johnson, einer gesetzlichen Anweisung des Unterhauses Folge leisten wird, konterte der Premier trocken mit dem englischen Äquivalent des bayerischen „Schau'n wir mal, dann seh'n wir schon“. In der aktuellen Debatte entsteht womöglich ein neues Kapitel dieser ungeschriebenen Verfassung zum uralten Thema: Was sind die Rechte der Regierung, was die Rechte des Parlaments?
Boris Johnson und sein Leader of the House Jacob Rees-Mogg fordern eine außenpolitisch freie Hand und billigen dem Parlament nur das Recht zu, die Arbeit der Regierung zu debattieren und im Zweifel abzulehnen, nicht aber zu blockieren. Das Parlament wiederum hat sich aus Protest dagegen, dass es in einer entscheidenden politische Phase in die Ferien geschickt werden soll, eiligst dazu entschlossen, der Regierung noch vor den Zwangsferien vorab außenpolitische Handschellen anzulegen.
Um diese Frage wurde im Unterhaus eine mitreißende (und inzwischen im Oberhaus maßvolle) Diskussion geführt, teils sehr grundsätzlich, teils trickreich-taktisch, teils grundehrlich, teils frivol. Optisch zeigte sich die im Unterhaus immer wieder hineinspielende Frivolität am deutlichsten, als sich der sonst so feine Jacob Rees-Mogg nach langer Rede auf der grünen Regierungsbank fast zwei Meter weit ausstreckte, als wolle er sich schlafen legen. Es war eine Geste, die eines nicht ganz erwachsen gewordenen public school boys durchaus würdig war, aber auf der Gegenseite mit der – wohl beabsichtigten – Empörung aufgenommen wurde.
Mit einer Bahnkarte zweiter Klasse heim ins Schwabenland
Das Parlament hat sich dank der Tory-Rebellen vorerst durchgesetzt, und Boris Johnson, der blonde Fuchs, nutzt seine nicht mehr vorhandene Mehrheit jetzt, um baldige Neuwahlen zu fordern. Die darf er aber nicht mehr, wie es früher in England Sitte war, selber ausrufen. Er braucht eine Zwei-Drittel-Mehrheit, die er nicht annähernd hat, oder er ist auf ein Misstrauensvotum der Opposition angewiesen. Die verweigert dies bisher. Johnson sagt, weil sie Angst hat, die Wahl mit dem Linksaußen Jeremy Corbyn an der Spitze der Labour-Partei zu verlieren. Die Labour-Leute und die anderen Oppositionellen sagen, sie wollen erst das Verbot eines harten Brexit in trockenen Tüchern haben, damit Johnson die Zeit bis zu Neuwahlen nicht einfach nutzt, doch noch seinen Ausstieg aus der EU ohne Abkommen hinzudeichseln.
So oder so wird es zu baldigen Neuwahlen kommen. Kann Labour gewinnen? Der sehr linke Corbyn ist eher eine Belastung als eine Wahl-Lokomotive. Außerdem wackelt Labour zwischen Brexit und Nicht-Brexit, weil unter den Labour-Wählern beide Lager stark sind. Können Johnsons Konservative gewinnen? Die Chancen stehen nicht schlecht, aber die lautstarke „Brexit“-Partei des Nigel Farage als rechte Konkurrenz kann ihm die Suppe versalzen.
Hinzu kommt die bittere Erfahrung, die Johnsons Vorgängerin Theresa May gemacht hat, als sie hoffnungsfroh neu wählen ließ, darüber ihre Mehrheit verlor und nur dank einer nordirischen Kleinpartei weitermachen konnte. Vergebens, wie sie erfahren musste; dies wiederum, weil die Boris-Johnson-Gruppe ihr in ihren Verhandlungen mit der EU die Gefolgschaft verweigerte. Eine Erfahrung, die nun auch Johnson als ihr Nachfolger mit umgekehrten Vorzeichen macht, während Theresa May stumm (innerlich schmunzelnd?) in der zweiten Reihe des Hauses seine Leiden verfolgt.
Auch dieser Ringelpietz gehört in das große Thema der erstklassigen politischen Unterhaltungskunst englischer Machart. Aber nicht nur in der Qualität des Entertainments setzt sich die Insel vom Kontinent ab. Auf dem Kontinent haben die traditionellen Parteien große Überlebensprobleme, weil sie links und rechts von neuen Formationen und Gesichtern angegriffen werden. In London sorgen die großen Parteien nun selber für die Zuspitzung, die ihre kontinentalen Freunde plagt. Die Labour-Führung war schon ewig lange nicht mehr so links wie heute. Und die konservative Führung fährt inzwischen einen ideologisch so harten Kurs, dass selbst Margaret Thatcher staunen würde. Der Ausschluss der Rebellen – unter ihnen sieben ehemalige Kabinettsmitglieder und ein Enkel von Winston Churchill – wiegt etwa so schwer, als hätte Angela Merkel den CDU-Übervater Wolfgang Schäuble nicht an die Spitze des Bundestags komplimentiert, sondern mit einer Bahnkarte zweiter Klasse heim ins Schwabenland befördert.
Zwischen diesen beiden Großen mit dem links und rechts verschärften Profil hoffen jetzt die Kleinen in der Mitte, allen voran die Liberaldemokraten, auf frische Lebenskraft. Doch die entscheidende Frage ist: Wohin treibt es die tief frustrierten britischen Wähler, denen seit drei Jahren ein lustig anzuschauender, aber letztlich nervtötender Brexit-Tanz vorgeführt wird? In Englands uralter Demokratie hat sich eine Denkzettel-Stimmung aufgebaut wie schon lange nicht mehr. Wird sich Boris Johnson als umjubelter Paul McCartney der Konservativen entpuppen? Wird Jeremy Corbyn den Mick Jagger machen? Oder wird eine bisher unterschätzte Punk-Gruppe den Beifall des stinksauren Publikums ergattern? Wie auch immer: So laut wie heute war die politische Musik in England schon lange nicht mehr.
Und hier der dazu passende Beatles-Song:
Hello, Goodby
You say, "Yes", I say, "No"
You say, "Stop" but I say, "Go, go, go"
Oh no
You say, "Goodbye", and I say, "Hello, hello, hello"
I don't know why you say, "Goodbye", I say, "Hello, hello, hello"
I don't know why you say, "Goodbye", I say, "Hello"
I say, "High", you say, "Low"
You say, "Why?" And I say, "I don't know"
Oh no
You say, "Goodbye", and I say, "Hello, hello, hello" (hello, goodbye, hello, goodbye)
I don't know why you say, "Goodbye" (hello, goodbye)
I say, "Hello, hello, hello" (Hello, goodbye, hello, goodbye, hello, goodbye)
I don't know why you say, "Goodbye", I say, "Hello" (hello, goodbye)
Why, why, why, why, why, why, do you say, "Goodbye, goodbye, bye, bye"
Oh no
You say, "Goodbye", and I say, "Hello, hello, hello"
I don't know why you say, "Goodbye", I say, "Hello, hello, hello"
I don't know why you say, "Goodbye", I say, "Hello"
You say, "Yes", I say, "No" (I say, "Yes", but I may mean, "No")
You say, "Stop", I say, "Go, go, go", (I can stay still it's time to go)
Oh, oh no
You say, "Goodbye", and I say, "Hello, hello, hello"
I don't know why you say, "Goodbye", I say, "Hello, hello, hello"
I don't know why you say, "Goodbye", I say, "Hello, hello, hello"
I don't know why you say, "Goodbye", I say, "Hello-wow, oh hello"
Hela, heba, helloa hela, heba, helloa hela, heba, helloa
Hela, heba, helloa (hela) hela, heba, helloa hela, heba, helloa
Hela, heba, helloa
Hela, heba, helloa
Hela, heba