Peter Grimm / 25.05.2020 / 10:36 / Foto: DiG / TRIALON / 51 / Seite ausdrucken

Macht Ramelow jetzt den Kemmerich?

Es ist ja nicht das erste Mal in diesem Jahr, dass führende Vertreter aus Politik und Medien fordern, eine im Freistaat Thüringen gefällte Entscheidung rückgängig zu machen. Ging es im Februar noch darum, den auch mit AfD-Stimmen gewählten Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) schnell wieder aus dem Amt zu drängen, um in einer informellen Alle-gegen-die-AfD-Koalition den linken Bodo Ramelow ins Amt zu bringen, so macht jetzt ausgerechnet dieser Ramelow Ärger. Der Thüringer Ministerpräsident hat sich erdreistet, darüber nachzudenken, ab 6. Juni die Corona-Allgemeinverfügung seines Freistaats aufzuheben und Maßnahmen nach Infektionsschutzgesetz, dort wo sie nötig sind, ganz den lokalen und regionalen Behörden zu überlassen. Dann würden Beschränkungen höchstens dort gelten, wo sie sich mit dem Infektionsgeschehen auch begründen lassen. Die flächendeckende Aushebelung von Grundrechten wäre zu Ende.

Man hätte es sich nicht besser ausdenken können. Ausgerechnet ein Ministerpräsident aus den Reihen der umbenannten SED, der erst nach zweifelhaften Interventionen der Bundeskanzlerin und ihrer Gefolgschaft in landespolitische Vorgänge wieder ins Amt gekommen ist, gibt als erster den Bürgern seines Bundeslandes ihre Rechte zurück. Was für ein Drehbuch.

Ramelows bayerischer Amtskollege Markus Söder versucht, sein Profil seit Beginn der Corona-Krise als Notstands-Kommissar zu schärfen. Der NRW-Amtskollege Armin Laschet tritt zwar mit rheinischer Unverbindlichkeit gern mal eine "Lockerungsdiskussionsorgie" los, begnügt sich dann aber mit kleinen Zugeständnissen, an deren Ausführung sich auch noch kleinliche Bürokraten austoben dürfen. Und Ramelow macht nun als Anti-Söder einen klaren Schnitt?

Wieder blickt – wie einst im Februar – die Republik auf Erfurt und fragt sich, wie lange der dortige Regierungschef das durchhält. Immerhin hat sich die Kanzlerin wohl noch nicht dazu geäußert, noch nicht gefordert, dass dieser Schritt rückgängig gemacht werden müsse, noch bevor er vollzogen wurde. Aber viele andere haben Ramelows Entscheidung schon scharf kritisiert und dem Kurs der Bundeskanzlerin widerspricht er erkennbar.

"Wir brauchen staatliche Regeln"

Klar positionierte sich schon die SPD-Bundestagsfraktion. "Ich halte die Strategie des Landes Thüringen für gefährlich", ließ SPD-Fraktionsvize Bärbel Bas verlauten. Auch aus München kam Protest. „Die bayerische Staatsregierung ist entsetzt, dass elementare Schutzmaßnahmen nun aufgegeben werden sollen“, hatte Florian Herrmann (CSU), Leiter der Bayerischen Staatskanzlei, empört erklärt. Was Thüringen plane, sei ein hochgefährliches Experiment für alle Menschen im Lande - das Bundesland werde zu einem „Gefahrenherd für wieder steigende Infektionszahlen im ganzen Lande“.

Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) forderte: "Wir brauchen auch weiterhin staatlich vorgegebene Regeln, damit die Vorsichtsgebote eingehalten werden, um dadurch regionale Lockdowns sowie erhöhte Todesraten zu vermeiden". Lorenz Caffier (CDU), Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern ließ sich auch vernehmen: „Ich halte eine komplette schnelle Lockerung für verfrüht“, wird er in der Bild am Sonntag zitiert. Und auch in Thüringen selbst gab es Wortmeldungen gegen Ramelows Plan. „Das hat überall große Irritationen ausgelöst“, formuliert es Matthias Hey, Vorsitzender der Landtagsfraktion vom Koalitionspartner SPD, zurückhaltend. Thomas Nitzsche (FDP), Oberbürgermeister von Jena, habe Ramelows Vorgehen mit einem „Gang aufs Minenfeld“ verglichen: „Wo‘s kracht, da gibt‘s halt lokal einen zweiten Lockdown. Soll das wirklich unsere Strategie sein in Thüringen?“, habe er gefragt. Eine Frage, die man klar mit „Ja“ beantworten könnte, denn warum sollte es auch überall dort einen „Lockdown“ geben, wo es nicht „kracht“?

Etwas Rückendeckung bekam Ramelow für seinen Ausstiegsplan aus dem allgemeinen Ausnahmezustand aus den eigenen Reihen sowie aus FDP und AfD.  Manch einer, wie FDP-Chef Christian Lindner, war sich seiner Sache wohl nicht ganz sicher. Wie merkur.de berichtet, habe dieser zuerst getwittert „Der MP Ramelow liegt richtig!“, den Tweet später aber wieder gelöscht, um dann auf Nachfrage zu erklären, dass er die Lage in Thüringen nicht kommentieren, sondern die Diskussion „erstmal unseren Fachpolitikern überlassen“ wolle.

Ob nun wieder einmal etwas rückgängig gemacht wird, was Thüringer Politiker für ihren Freistaat selbst entscheiden wollten, ist noch offen. Nur sollten sich alle, die Ramelows Vorstoß empörend finden, vielleicht daran erinnern, dass es nicht alternativlos war, einen bundesweiten Ausnahmezustand über den Umweg des Infektionsschutzgesetzes zu verhängen. Dazu brauchte die Kanzlerin nun einmal die Bundesländer, die diesen Zustand für ihr Land eben auch wieder aufheben können. Wer die ganze Bundesrepublik im Ausnahmezustand halten will, der muss einen bundesweiten Notstand ausrufen, auf eigene Verantwortung und nach allen dafür geltenden Regeln. Dass ein Ministerpräsident aus dieser – höflich gesagt – überdehnten koordinierten Anwendung des Infektionsschutzgesetzes auszusteigen gedenkt, ist ein gutes Zeichen.

Foto: DiG / TRIALON CC BY 3.0 via Wikimedia Commons

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Thomas Holzer, Österreich / 25.05.2020

“Fachpolitiker”, gibt es die überhaupt, oder ist das nicht vielmehr ein Widerspruch in sich!

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