Ein Uno-Gremium ermahnte Deutschland, Meinungsäußerungen wie die von Sarrazin künftig zu unterdrücken. Interessant ist, wer bei den Vereinten Nationen über andere Staaten urteilt
Nehmen wir einmal an, der Abou-Chaker-Clan würde in Kleinmachnow bei Berlin über Bushidos bürgerliche Nachbarn zu Gericht sitzen. „Was ist mit deiner Buxbaumhecke, Alter,“ würde dann beispielsweise Arafat Abou Chaker einen Anwohner anraunzen: „Total schiefe Schnittkante.“ Ein anderen müsste sich dafür rechtfertigen, Weißglasflaschen in einen Grünglascontainer verfrachtet zu haben. Und außerdem stand der VW nicht ganz korrekt in der Parkmarkierung. Die Kleinmachnower würden sich vor den Clanchefs verbeugen, ihre Verfehlungen zerknirscht eingestehen und innerhalb einer Frist Vorschläge unterbreiten, wie sie die Missstände abzustellen gedenken.
Wenn sich diese Szenen tatsächlich in Kleinmachnower Maßstäben abspielen würden, wäre das eine interessante Vorlage für Masochisten. Findet ein solches Tribunal dagegen auf internationaler Ebene statt, nennt es sich UNO – und die politische Klasse reagiert mit schwerer Betroffenheit.
Bis vor kurzem glaubten die meisten Bundesbürger, wenn ein Expertenkomitee des UN-Hochkommissars für Menschenrechte einen UNO-Mitgliedstaat rügt, dann könnte es sich nur um ein humanitäres Katastrophengebiet handeln, bestenfalls um eine lupenreine Autokratie. Im April 2013 mussten sich die Bundesbürger eines besseren belehren lassen. Das „Komitee zur Eliminierung der Rassendiskriminierung“ (CERD) sprach Deutschland eine geharnischte Rüge aus, weil der Staat darin „versagt“ habe, “effektive Ermittlungen“ gegen Thilo Sarrazin einzuleiten. Das UN-Komitee gab der Bundesregierung eine Frist von 90 Tagen zur Stellungnahme. Bis dahin soll Merkels Regierung mitteilen, wie sie gedenkt, den Maßgaben des Komitees „Wirkung zu verleihen“.
Am Anfang des Verfahrens gegen Deutschland stand das in jeder Hinsicht folgenreiche Interview des damaligen Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin mit der Zeitschrift „Lettre International“ im Herbst 2009: darin meinte Sarrazin unter anderem, eine große Zahl von Arabern und Türken in Berlin hätten „keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel“; er sagte: „ich muss niemand akzeptieren, der vom Staat lebt und ebendiesen Staat ablehnt“. Der Türkische Bund Berlin-Brandenburg (TBB) zeigte den ehemaligen Finanzsenator daraufhin wegen Volksverhetzung an, und als die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen mit dem Hinweis einstellte, die Äußerungen seien von der Meinungsfreiheit gedeckt, brachte der TBB den Fall 2010 vor das UN-Gremium. Die Lobbyorganisation begründete die Notwenigkeit unter anderem mit der Aussage, „Studien zufolge“ sei die „Islamophobie während der Sarrazin-Debatte“ in Deutschland auf 55 Prozent gestiegen. Auf die Frage, um welche Studien es sich handle, antwortete eine Sprecherin des TBB: „Das kann ich momentan nicht sagen.“
Die CERD-Mitglieder urteilten – Grundgesetz hin, Meinungsfreiheit her – dass die Bundesrepublik Thilo Sarrazin hätte vor Gericht bringen müssen. Nach seiner Eigendefinition handelt es sich bei dem CERD um ein UN-Gremium von „unabhängigen Experten“. Ein Blick auf deren Biografie erklärt vielleicht, warum sie die freie Meinungsäußerung eher als marginalen Wert betrachten, ganz im Gegensatz zur Verfolgung von Unruhestiftern. Dem Gremium sitzt der russische Politikwissenschaftler Alexei S. Avtonomov vor, der 1984 zu Zeiten des KPdSU-Generalsekretärs Konstantin Tschernenko seinen Doktorgrad erwarb. Sein algerischer Stellvertreter Nourreddine Amir, Jahrgang 1940, diente seit den Sechziger Jahren loyal den wechselnden autokratischen Regimes seines Landes als Karrierediplomat. Über das chinesische Komiteemitglied Yong’an Huang lässt sich nur wenig in Erfahrung bringen: die früheste von CERD angegebene berufliche Station des Ex-Diplomaten, Jahrgang 1945, datiert von 1992. Der Rumäne Ion Diaconu, geboren 1938, vertrat in den achtziger Jahren das Reich des spätstalinistischen Diktators Nicolae Ceausescu bei der UNO in New York. Weitere CERD-Mitglieder stammen jeweils aus dem Staatsapparat von Togo (regiert von einem Wahlbetrüger seit 2005), aus Burkina Faso (beherrscht von einem Putschisten seit 1987) und Nigeria, in dessen Norden die Scharia gilt, Auspeitschung und Todesurteile gegen Minderjährige inklusive. Vertreter klassisch westlicher Staaten stellen nur eine Minderheit in diesem putzigen UN-Gremium.
Möglicherweise relativiert sich die Sorge der Deutschen über das Urteil des CERD auch, wenn sie erfahren, in welcher Reihe rassistischer Staaten sie sich befinden. Von der CERD-Gründung 1984 bis 2012 richtete sich fast die Hälfte aller Beschwerden (21) gegen Dänemark, das vor allem von muslimischen Einwanderern immer wieder verklagt wird, der Rest entfällt auf solche Problemländer wie Australien (acht Fälle) Schweden (drei Fälle), die Niederlande (zweimal) und andere Demokratien. Eine Beschwerde richtete sich 2009 gegen Russland – das CERD schmetterte sie als unzulässig ab.
Die etwas einseitige Ausrichtung erklärt sich vielleicht nicht nur mit der Zusammensetzung des Gremiums, sondern auch dadurch, dass Tibeter in China oder verfolgte Christen in Nigeria es sich im Interesse von Leben und Gesundheit reiflich überlegen, ob sie sich partout bei der UNO beklagen müssen.
Schließlich herrscht nicht überall ein so beschwerdefreundliches Klima wie in Dänemark.