Georg Etscheit / 01.07.2022 / 10:00 / Foto: Pixabay / 61 / Seite ausdrucken

Lüdenscheid: Eine deutsche Stadt im Jahre 2022

Ein Automobilzulieferer im sauerländischen Lüdenscheid hat Schließungen und Verlagerungen sowie einen Stellenabbau „im hohen dreistelligen Bereich“ angekündigt. Die Krise hat längst auch die Provinz erreicht.

Lüdenscheid ist eine Stadt mit rund 73.000 Einwohnern in Nordrhein-Westfalen, genauer gesagt im Sauerland. Das Sauerland und das angrenzende Bergische Land sind gewissermaßen das nordrhein-westfälische Pendant zur Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg. Hier finden sich in fast jedem Kaff irgendwelche Weltmarktführer, sogenannte Hidden Champions. So nennt man Unternehmen, die keiner kennt, die aber in ihrem jeweiligen Segment technologisch und ökonomisch führend sind, deutschlandweit, europaweit, weltweit. 

Lüdenscheid ist bekannt für seine Lampen- und Leuchtenindustrie mit Unternehmen wie ERCO – der Mittelständler hat sich auf Architekturbeleuchtung mit LED-Technologie spezialisiert. Zu sehen gibt es in Lüdenscheid nicht allzu viel. Es gibt eine kleine Altstadt, ein Wasserschloss aus dem 17. Jahrhundert und ein Kulturhaus, erbaut von dem Architekten Rolf Gutbrod, der auch die Stuttgarter Liederhalle entwarf. Das Kulturhaus erinnert frappierend an die berühmte Berliner Philharmonie. Einmal im Jahr feiert die Stadt die traditionelle Steinert-Kirmes. Bei der Eröffnung im Mai dieses Jahres kam es zu einer Schießerei zwischen Ausländern, bei der ein 16 Jahre alter Syrer einen 40-jährigen, offenbar unbeteiligten Sudanesen tötete. 

Die erste Ökologisierungs-Welle mit der Umstellung der Beleuchtungsindustrie auf LEDs scheint die „Stadt des Lichts“ (Eigenwerbung) noch ganz gut überstanden zu haben. Doch jetzt steht zwecks Klimarettung der Abbruch oder zumindest Teilabriss der deutschen Autoindustrie an. Vor wenigen Tagen kündigte der Lüdenscheider Automobilzulieferer, die noch in Familienbesitz befindliche Kostal-Gruppe, an, alle Produktionsstandorte in Deutschland „auslaufen“ zu lassen. Auch ein Teil der Verwaltung soll von Lüdenscheid nach Ungarn verlagert werden. Das bedeutet, wie in der Presse nachzulesen, Stellenabbau „im hohen dreistelligen Bereich“. 

Auto-Industrie geht vor die Hunde, Stadt kauft E-Lastenräder

„Automobilzulieferer wie die Kostal Automobil Elektrik (KAE) stehen seit Jahren unter hohem Preis- und Wettbewerbsdruck“, teilte das gebeutelte Unternehmen mit. „Diese Entwicklung hat sich zuletzt durch die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine verschärft.“ Eine strikte Kostenkontrolle und der Stellenabbau der Jahre 2018/19 sowie mehrere Effizienzprogramme hätten bisher nicht ausgereicht, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Produktionsstandorte nachhaltig zu sichern.

Und weiter: „In unseren deutschen Produktionswerken machen wir große Verluste. Das wissen auch unsere Mitarbeiter. Gemeinsam haben wir in den letzten Jahren alles versucht, um Schließungen und Verlagerungen zu vermeiden. Trotz aller Anstrengungen konnten wir mit den deutschen Produktionskosten kein nachhaltig profitables Geschäft erreichen.“ Die anhaltende Transformation der Automobilbranche und die damit einhergehenden Änderungen in den Antriebstechnologien erforderten erhebliche Zukunftsinvestitionen, die dem Familienunternehmen zusätzlich große finanzielle Lasten auferlegten. Aus Verantwortung der gesamten Kostal-Gruppe gegenüber sei die geplante Schließung der Produktion in Deutschland daher hart, aber folgerichtig.

Brandbriefe wie diese dürften bei weiter steigender Inflation, gestörten Lieferketten und Facharbeitermangel jetzt immer häufiger auf die Tische von Politikern, Betriebsräten und Gewerkschaftsfunktionären flattern. Und es dürfte eher unwahrscheinlich sein, dass die boomende Fahrradindustrie die gravierenden Stellen- und Wohlstandverluste aufzufangen in der Lage ist. Auch wenn die Stadt Lüdenscheid offensiv in die Beschaffung von drei elektrischen Lastenfahrrädern investieren will: Auftragsvolumen rund 9.000 Euro. Das Geld stammt teilweise aus einem Programm des Landes NRW, wonach Kommunen „Kompensationsleistungen für ausgebliebene Investitionen in den Klimaschutz durch die Corona-Pandemie“ beantragen können.

„Brückenrabatt“ mit Gschmäckle

In den Medien war nachzulesen, dass zunächst Unsicherheit darüber bestand, wie man die Räder überhaupt nutzen könne, nennt sich Lüdenscheid doch selbst auch die „Bergstadt“, mit teils krassen Steigungen allemal kein Radlerparadies. Dann die erlösende Mitteilung aus der Verwaltung: In einem „ersten Schritt“, so der zuständige Fachbereichsleiter, sollen die Cargoräder der Verwaltung zur Verfügung stehen, um innerstädtische Fahrten mit dem Auto zu reduzieren. In einem zweiten Schritt könnten die Lastenfahrräder auch an Bürgerinnen und Bürger verliehen werden. „Immer mit der Zielrichtung, den Autoverkehr mehr und mehr herauszubekommen aus der Stadt.“ Und die Automobilzulieferindustrie – sieht Kostal – gleich mit.

Östlich von Lüdenscheid verläuft die Autobahn A 45, die viel befahrene „Sauerlandlinie“. Wegen gravierender Schäden an der Rahmedetalbrücke ist die Schnellstraße zwischen den Anschlussstellen Lüdenscheid Nord und Lüdenscheid seit Dezember 2021 vollständig gesperrt, sodass der gesamte Verkehr durch die Stadt geführt werden muss. Dauerstaus sind die Folge. Jetzt gewährte das Finanzamt Lüdenscheid Eigentümern von Immobilien entlang der Umleitungsstrecke einen Nachlass auf die Grundsteuer, „Brückenrabatt“ genannt, was wiederum zu Steuermindereinnahmen für den Lüdenscheider Kämmerer führen und den Investitionsrahmen für weitere Lastenfahrräder begrenzen könnte.

Mindestens fünf Jahre werden Abriss und Neubau der Brücke dauern. Im Dezember soll das marode Bauwerk gesprengt werden, wie in diesem Februar schon die Talbrücke Rinsdorf, mit 70 Metern Höhe die höchste jemals in Deutschland gesprengte Autobahnbrücke.

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. 

Ich danke Thomas Schürmann aus Ottobrunn, gebürtiger Sauerländer, für die Hinweise, die zur Niederschrift dieses Beitrags geführt haben.

Foto: Pixabay

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D. Haarmann / 01.07.2022

Habe mir als geborener Sauerländer mal die Leserbriefe zu diesem Thema im Sauerlandblättchen come-on durchgelesen. Völliges Unverständnis darüber nach Ungarn auszulagern zum bösen Orban. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe zahlt man in Ungarn ~10 cent/KWH für Strom. Tja, geliefert wie bestellt !

Christian Frey / 01.07.2022

“MORGENTHAU STATT MEGASTAU!” neulich auf den Straßen der Hauptstadt gelesen.

Thomas Raffelsieper / 01.07.2022

An Herrn Tobias Schlüter bezgl. der Wahergebnisse.. Ihnen ist wohl noch nicht aufgefallen, daß in sog. Wahlokalen massenhaft Wahlzettel mit abgeschnittener rechter oberer Ecke ausgegeben werden. Die werden garnicht ausgezählt.. und das noch ohne gültiges Wahlgesetz seid 1956, aber der dumm DEUTSCH Staatenlose will das scheinbar so..  Die meißten Deutschen haben das noch immer nicht begriffen, daß sie Staatenlose sind und die haben eben in der Heimat nix zu wollen.

E. Berger / 01.07.2022

Zitat: “„Diese Entwicklung (bei Kostal) hat sich zuletzt durch [...] den Krieg in der Ukraine verschärft.“  Dies ist unrichtig.  Genauso wie die Behauptung meines EVU, der Strompreis habe wegen des Krieges erhöht werden müssen. Es sind die unsinnigen Sanktionen gegen Russland, mit denen wir uns ins eigene Knie schiessen (und ggf. die ebenso unsinnige Energiewende).

Block Andreas / 01.07.2022

Wahlergebnis 2021 Stadt Lüdenscheid Erstimmen : CDU 28,9 %, SPD 33,39 %, Grüne 10,04 %, FPD 11,10 %........ Wahlergebnis Zweitstimmen kaum Veränderung…d.h. 83, 43 Prozent der Wahlschafe haben sich für die Blockparteien entschieden und wollen Zustände wie in Nordkorea ( auch wirtschaftlich)... die Lüdenscheider wollen keine Autoindustrie….die wollen Lastenfahrräder….. ja dann…..

Stephan Bujnoch / 01.07.2022

Klar, mit drei e-Lastenrädern bekommt man den Autoverkehr immer mehr aus der Stadt raus. Von was träumen diese städtischen Traumtänzer eigentlich nachts?

Heiko Stadler / 01.07.2022

Meiner Meinung nach war es die richtige Entscheidung des Zulieferers, seine Firma nach Ungarn zu verlagern. Diese Strategie sollte fortgesetzt werden. Ungarn und die anderen Visegradstaaten sollten im Gegenzug Kriminelle, psychisch Gestörte und sonstige Problemfälle über die sperrangelweit geöffnete Grenze in das beste Deutschland, das es je gab, schicken. Besonders in Berlin werden sich diese Problemfälle pudelwohl fühlen, denn sie sind dort unter Ihresgleichen. Gleichzeitig werden die Visegradstaaten eine große Belastung los. Das wäre eine echte Win-Win-Situation.

Alexander Peter / 01.07.2022

Leider ist diese Politik “alternativlos”, wie dem interessierten Bürger von allen meinungsbildenden Medien versichert wird. Aber wo alte Industriearbeitsplätze verschwinden, entstehen sicher auch neue - und die neue Landesregierung Nordrhein-Westfalens wird sich auf ihrem Weg in die Klimaneutralität kaum abhalten lassen von solchen kleinlichen Bedenken. Wer bislang LEDs montiert hat, kann sicher auch Speichen an Lastenfahrrädern ersetzen. Falls nicht, winkt das bedingungslose Grundeinkommen. Dass dieses Land nach den verheerenden Corona-Jahren mit dieser Regierung nicht mit “Wumms” aus der Krise kommen würde, war leider abzusehen. Das es aber so schnell gehen würde auf dem “Weg nach Unten” überrascht dann doch.

Martin Schmitt / 01.07.2022

Ich bin eigentlich kein Prophet oder Wahrsager - aber trotzdem sage ich Voraus - bei den nächsten Wahlen wird auch dort mit deutlicher Mehrheit die Einheitspartei (CDUSPDFDPLINKEGRÜNE) gewählt, auch von denen die jetzt ihren Job und vielleicht auch die Existenz verlieren - nur niemals nicht die bösen Rechtspopulisten wählen, gell?

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