Orit Arfa, Gastautorin / 23.02.2021 / 12:00 / 60 / Seite ausdrucken

Lockdown in Deutschland und Israel: Am Ende sind wir alle Schafe

Als ich kurz vor Weihnachten Berlin in Richtung Israel verließ, hatte ich das Gefühl, dass sich meine Beziehung zu Deutschland bereits verändert hatte. Genau drei Tage vorher hatte der neue, nie enden wollende Lockdown begonnen. Zum letzten Mal spazierte ich durch die kühle Stadt und trauerte dem einstigen Berliner Trubel hinterher. Es wäre doch viel schöner gewesen, wenn ich jetzt auf einem der hübschen Weihnachtsmärkte hätte umherschlendern können, einen Glühwein in der Hand und im Bewusstsein, dass Deutschland ein Land ist, dem Freude eigentlich etwas bedeutet.

Ich war enttäuscht darüber, dass die deutsche Regierung, die bis dato vernünftiger als die israelische mit ihrem Hang zum Lockdown erschienen war, schließlich einknickte und sich am Ende doch für einen harten Lockdown wie in Israel entschied. Wenigstens war der Flughafen noch offen und es gab keine Maskenpflicht im Freien. Trotzdem war ich ernüchtert, festzustellen, dass ich fälschlicherweise angenommen hatte, dass die Deutschen, nach allem, was sie durchgemacht hatten, den enormen Wert individueller Rechte gelernt und verinnerlicht hätten.

Stattdessen wartete die deutsche Regierung nur auf die gesetzliche Erlaubnis, Grundrechte zu entziehen. Im November 2020 hatte der Bundestag zugestimmt, der Regierung weitreichendere Befugnisse bei der Beschneidung der Bürgerrechte während einer Pandemie zu übertragen. Kurze Zeit später wurde Deutschland genauso verrückt, unvorhersehbar und willkürlich beim Verhängen von Lockdowns wie Israel, mit der Folge, dass die Deutschen seither in extremer Ungewissheit leben und vom Gutdünken der Bürokraten abhängen.

Virus gibt einen Einblick in den nationalen Gemütszustand

In Deutschland wundert man sich vielleicht darüber, warum Israel zum Lockdown-Weltmeister wurde. Eigentlich sollte doch ein Land, das daran gewöhnt ist, globalistischen Trends zu trotzen, den Kampf gegen Lockdowns anführen, oder? Am Ende nahm sich Deutschland ein Beispiel an der Netanyahu-Regierung – allerdings aus den falschen Gründen. Politiker nannten Israels Beschluss, den Flughafen zu schließen, eine nachahmenswerte Anti-Corona-Maßnahme. Wer weiß, wann ich jemals zurück nach Berlin komme. (Nicht, dass ich mich beklage. Aber das Winter-Wunderland hätte mich schon interessiert. Wenigstens für einen Tag.)

Es ist traurig, aber nachdem ich zwölf Jahre in Israel gelebt habe, bin ich nicht überrascht darüber, dass das Land schließlich diesen undemokratischen Kurs eingeschlagen hat. Denn Israel wurde nicht auf der Basis individueller Rechte gegründet, mal abgesehen von den Persönlichkeitsrechten, die die Ausübung des Judentums betreffen. Die Unantastbarkeit der Grundrechte war nicht gerade das, was die meisten Juden aus dem Holocaust gelernt hatten. Stattdessen stand das Zusammenhalten als Stamm im Vordergrund, vorzugsweise im eigenen Land und noch dazu fähig, sich selbst zu verteidigen.

Heutzutage bedeutet das eben, sich zusammen gegen das Coronavirus zu verteidigen, selbst auf Kosten der Ausübung des jüdischen Glaubens, einschließlich des Begehens von jüdischen Feiertagen wie zum Beispiel Pessach, dem Fest der Freiheit.

Meine Holocaust-Vergleiche mögen oberflächlich erscheinen, dennoch bin ich der Meinung, dass das Virus uns einen Einblick in den nationalen Gemütszustand sowohl von Israel als auch von Deutschland verschafft hat und uns zeigt, warum diese beiden immer noch viel gemeinsam haben.

Auch Juden neigen zum Gehorsam

„Die Deutschen sind so gehorsam“, schrieb mir neulich ein Freund und beschwerte sich über die „schafige“ Lockdown-Einhaltung der Deutschen. Ich antwortete, dass die Israelis genauso gehorsam seien. Während einige beim dritten Lockdown ein bisschen rebellischer sind (die meisten entfernen sich weiter als die vorgegebenen 1.000 Meter von ihrem Wohnort), tragen die meisten nach wie vor im Freien Masken, obwohl bereits fast ein Drittel der Bevölkerung geimpft ist.

Kaum ein Israeli protestierte, als der nationale „Geheimdienst“ begann, Telefone zu überwachen, um den Aufenthaltsort von Infizierten verfolgen zu können. Eine gute Freundin erhielt einen ruppigen Text vom Gesundheitsministerium mit der Mitteilung, dass sie laut Nachforschungen in die Nähe eines Infizierten geraten sei und sich deshalb für eineinhalb Wochen in Quarantäne begeben müsse. Offenbar hatte sich ein Bankberater mit Corona infiziert, also hatte die Bank kurzerhand alle Namen der an diesem Tag betreuten Kunden rausgegeben. Da es sich meine Freundin jedoch nicht leisten konnte, zu Hause zu bleiben, klagte sie sich aus dieser mechanischen Beschneidung ihres Rechtes auf ein eigenes Leben heraus.

Während Juden den Deutschen gerne ihren Gehorsam vorwerfen, tragen auch Juden diese Bereitschaft in sich – nicht zwangsläufig, um Verbrechen zu begehen, aber um Opfer solcher zu werden. 

An Gebote und Verbote gewöhnt

Man denke zum Beispiel an die Juden von Thessaloniki. Von dem in Deutschland ausgebildeten Rabbi Zvi Koretz ist bekannt, dass er die griechischen Juden in der Hauptsynagoge versammelte und ihnen sagte, sie sollten mit der Besatzungsmacht der Nazis kooperieren, die sie lediglich nach Polen umsiedeln würden. Teile der Versammelten, die den Gemeindemitgliedern sagten, sie sollten nicht auf ihn hören, wurden Berichten zufolge von der Menge ausgepfiffen. Nur fünf Prozent der 50.000 Juden Thessalonikis überlebten.

Hinzu kommt, dass das orthodoxe Judentum eine Religion mit vielen Pflichten und Verboten ist, sodass das Einhalten von Regeln für das jüdische Volk fast schon natürlich ist. Obwohl die Mehrheit der Israelis säkular ist, ist die Idee von Einschränkungen in unsere Tradition eingebaut. Ironischerweise sind es die ultra-orthodoxen Juden, die gegen die Tyrannei der Abriegelung aufbegehrten – sie öffneten ihre Schulen, hielten Beerdigungen gegen die Anordnungen der Regierung ab und bekämpften die Polizei, die kam, um sie zu stoppen. Ich würde ihren zivilen Ungehorsam bewundern, wenn sie damit nicht alle anderen belasten würden, die den Lockdown aufrechterhalten, um die Infektionsrate niedrig zu halten. Die Ultra-Orthodoxen haben die höchste Pro-Kopf-Infektionsrate.

Juden interpretieren es vielleicht als Selbsthass, wenn ich sage, dass wir auch die Verantwortung dafür übernehmen müssen, dass wir so erbärmliche, leichte Opfer der Nazis geworden sind, anstatt nur auf Deutschland zu schimpfen – heute und damals. Wie konnten wir es zulassen, dass man so sehr auf uns herumtrampelt? Was hätten wir anders machen können? Viele Juden glauben, dass wir zu verblendet waren, um einen solchen Massenmord kommen zu sehen. Aber es gab eine Minderheit, die eine mörderische Zukunft voraussah, wie Theodor Herzl und seine zionistischen Anhänger, die von der Mehrheit des europäischen Judentums abgelehnt wurden. Wie das furchtbare Sprichwort sagt: „Schafe auf die Schlachtbank.“

Corona-Lockdowns und -Einschränkungen sind natürlich keine Schlachtbank. Aber sie haben uns die Denkweise offenbart, von der Deutsche und Juden vielleicht schon immer ergriffen waren: Individuen müssen grundlegende Bürgerrechte für das Wohl des Stammes und der Nation opfern. Das Gemeinwohl ist heiliger als das individuelle Wohl. Dieses Prinzip leitet auch Israels landesweites Impfprojekt, zum Wohl oder Übel.

Und so haben Deutsche und Juden nicht die richtigen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen und stattdessen unserer primitiveren, grundlegenden Natur nachgegeben, jenen Führern zu folgen, zu vertrauen und zu glauben, die ohne zu Zögern unseren Geist zum Wohle der „nationalen Gesundheit“ zermalmen würden.

 

Orit Arfa ist eine amerikanisch-jüdische Autorin und Journalistin und lebt in Berlin. Sie schreibt regelmäßig für die Jerusalem Post, das Jewish Journal of Los Angeles und den Jewish News Service. Mehr von Orit Arfa finden Sie auf ihrer Website.

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Hans-Peter Dollhopf / 23.02.2021

Frau Arfa, wenn es 83 Millionen Bewohner wären und nicht nur neun. Wenn die sechs Millionen nicht fehlen würden! Die menschliche Rasse stand Hunderttausende von Jahren immer am Rand der Auslöschung. Wir waren immer so wenige gewesen. Ein Staat, der für die Rückholung der verstümmelten Überreste eines Gefallenen Dutzende Terroristen freilässt, hat eine eigene Vorstellung im Umgang mit dem Leben seiner Bürger. Während der Zeit der Pax Americana war für US-Bürger im Ausland der Satz “Ich bin Amerikaner” wie ein garantiertes Versprechen auf Unverletzlichkeit. Die Garantie dahinter war eine freie Republik als Supermacht. Das letzte Nachglühen dieses Selbstbewusstseins konnte man erkennen, als 2011 in Kairo die israelische Botschaft gestürmt wurde und das verbarrikadierte Personal nur noch durch eine Stahltür vor dem Mob getrennt war, während der Militärrat nichts dagegen unternehm. Bis Obama kurz anrief: Tod und Hölle! Der freie Westen hat die Urgewalt des Opptimismus verloren, das Vertrauen in den sich verstetigenden eigenen technologischen Fortschritt. Mit seiner Verachtung für das CoV-2-Theater war Donald Trump eindeutig als der Letzte seiner Art zu erkennen und weltbester Politiker von 2020. Wir sind wie die Schafe im finsteren Tal. Aber da ist kein guter Hirte mehr. Da sind nur noch blökende Leithammel.

Chaim Brûler / 23.02.2021

Lockdown over - alles gut? So einfach sollte das nicht gehen. Man hat Millionen von Menschen für Milliarden von Dollar mit komplexen Erbgutinformationen geimpft und deren Freiheit mit dramatischen Folgen eingeschränkt. Soll das jetzt so weiter gehen?

Gabriele Klein / 23.02.2021

@Dr. Moeller: Manche sollen sich gerade beim Lockdown, d.h. zu Hause anstecken laut gewisser Studien von denen ich am Rande hörte. Durchaus plausibel.  In einem vollbesetzten Mietshaus kann ich mir das sehr gut vorstellen. Z.B. wenn beim Kochen der Bratenduft aus dem unteren Fenster in das darüber liegende, um die Mittagszeit zeitgleich sich öffnende Fenster einzieht.  Anders ausgedrückt: Man kann die gleiche Luft auch einatmen OHNE dass man sich besucht. In Schulen genau das gleiche.  Eine versetzte Lüftung wäre mir da nicht bekannt. Pünktlich zum Pausenton fliegen die Fenster auf….. Aber über all diese Dinge nachzudenken ist zu viel Arbeit. Lockdown ist einfacher, auch wenn er nichts bringt und ohnehin nicht jedem angestellten Personenkreis vergönnt ist . Bei Arbeiten die die Regierenden brauchen, verschwindet der Lockdown Bedarf plötzlich wie von selbst. Was die Altenheime anlangt, wäre die Ansteckungsquote von egal was wahrscheinlich beträchtlich niedriger wenn man Hipp Gläschen und abgepacktes nur aufgewärmtes Tiefkühlmenü anbieten würde das gleiche gilt für die Krankenhäuser.  Die Ansteckung erfolgt schwerpunktmäßig über die Kantine deren hustendes und nießendes Personal nicht mal Frischkost aufbereitet sondern Fertignahrung. Die Daseinsberechtigung solcher sinnlosen Keimschleudern kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen

Wolfgang Richter / 23.02.2021

““Und so haben Deutsche und Juden nicht die richtigen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen und stattdessen unserer primitiveren, grundlegenden Natur nachgegeben, jenen Führern zu folgen, zu vertrauen und zu glauben, die ohne zu Zögern unseren Geist zum Wohle der „nationalen Gesundheit“ zermalmen würden.”” Scheinbar bin ich fehl gepolt, wenn ich offenbar der einzige bin, der Parallelen der Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen erkennt, wenn Israel jetzt die “Rückgabe von Grundrechten” an den “Grünen ImpfausweisW koppelt. Das gerade Israel trotz der grausam erlebten Geschichte diese Ausgrenzung betreibt, finde ich persönlich ziemlich pervers.

Peter Sieve / 23.02.2021

@Peer Munk: Danke für Ihren Kommentar hier. Ganz genau so wie Ihnen geht es mir auch. Jeden Tag denke ich, schlimmer kann es nicht mehr kommen. Und dann muss ich z. B. lesen, dass die FAZ sich offiziell für eine Impfpflicht stark macht. Oder dass CDU-Landesregierungen die Maskenpflicht für Schulkinder ab sofort auch noch auf Erstklässler ausweiten. Es ist ein Totalzusammenbruch jeglicher Rationalität und Menschlichkeit, im hehren Namen von “Gesundheit” und “Solidarität”. Und da das Virus sich, unbeeindruckt von all den Maßnahmen, munter weiter ausbreitet, müssen eben Schuldige gesucht werden. Zum Beispiel Ultraorthodoxe in Israel oder “Coronaleugner” in Deutschland.

Gabriele Klein / 23.02.2021

@ Frau A. Ruth. Vielen Dank für Ihre Beiträge, die ich immer sehr gerne lese.. So wie Sie seh ich das auch. Und, als ergänzende Lektüre zu Götz Aly würde ich das spannende Werk von Pesach. Anderman empfehlen: Der Wille zu leben.  Die Hölle der er entfloh und deren Soziologie er durch sein eigenes Erleben Konturen verleiht die für sich selbst sprechen stellt er dem Erlebten, dem Existenzkampf in Israel gegenüber. Der Kontrast könnte größer nicht sein. Das Buch ist aktueller denn je. Möge es regierende Visionäre spät pubertierende Gretas und Studenten, die auf der Suche nach ihrer Identität mit unser aller Zukunft zündeln auf den Boden der Realitäten zurückholen ehe es zu spät ist.

Frances Johnson / 23.02.2021

Liebe Orit, manche Dinge verstehen wir nicht. Manches verstehen wir etwas besser, wenn wir älter sind, aber auch nicht sonderlich gut. Ich habe den ganzen Abend über Pearl Harbour, den Battle of Midway und Isoroku Yamamoto gelesen, den Chef der kaiserlichen Marine, 1943 von den Amerikanern über den Solomon Islands abgeschossen als Dank für Pearl Harbour. Das Irrsinnige an der Attacke auf Pearl Harbour ist, dass Yamamoto die Vereinigten Staaten liebte. Er hatte in Harvard studiert und das halbe Land bereist. Es geht das Gerücht, dass er Pearl Harbour attackiert hat, um die USA von einem Eintritt in den Krieg abzubringen, zumindest im Pazifik. Und erreicht hat er genau das Gegenteil. Ich kriege das nicht auf den Radar. Es gibt seltsame Vorgänge. Aber dass die Juden oder die wenigen Oppositionellen sich hätten wehren können, ist eine kleine Phantasie von Tarantino. Niemand konnte sich wehren. Und der Wahnsinnige hier, der mit der japanischen Attacke auf Pearl Harbour nichts zu tun hatte und in seinem Vertrag mit Japan nicht verpflichtet war, Japan in einer solchen Sache beizustehen, hat den USA umgehend den Krieg erklärt. Daran sieht man das auch. Der hatte einen unbedingten Allmacht- und Tötungswillen. Und reichlich Stiefellecker. Die haben wir heute leider auch. Irgendwann wird man vielleicht darüber reden, warum Wahn sich ausbreitet wie eine Sturmflut. Aber in Israel sehe ich davon noch am wenigsten.

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