Von Heinz Theisen
Der Westen braucht eine neue Strategie der Selbstbegrenzung
Nach dem Ende des Sowjetsystems und der bipolaren Weltordnung beherrschten zwei große Thesen die politische Debatte, die vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) im Sinne einer unaufhaltsamen Ausdehnung der westlichen Demokratie und die vom „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington) im Sinne eines über die westliche Ausdehnung entstehenden Zusammenpralls unterschiedlicher Werteordnungen.
Unglücklicherweise folgte die westliche Außenpolitik der ersten These - vom Balkan, über Afghanistan, Irak, Libyen bis zu den Lockangeboten an die Ukraine. Dadurch hat sie maßgeblich zur politischen Destabilisierung dieser Regionen beigetragen, uns heillos in unlösbare Konflikte verstrickt und den Kampf der Islamisten gegen den Westen angefeuert. Das Scheitern des Westens jenseits seiner Grenzen spricht nicht gegen westliche Werte, wohl aber gegen unsere Fähigkeit, diese Werte zu universalisieren.
Der Fall von Kundus an die Taliban ist gewissermaßen das Siegel auf die Erfolglosigkeit von Interventionen in der islamischen Welt. Die Konfessions- und Stammeskriege im Irak und Libyen und das Vordringen von Islamisten waren vor allem Folgen einer Destabilisierung autoritärer, aber stabiler Regime durch westliche Interventionen. Als Ergebnis dieser Missionspolitik sind die Staaten der EU heute von einem „Ring of Fire“ umgeben, welcher vom Mittleren und Nahen Osten bis nach Nordafrika, und neuerdings bis in die Ukraine reicht.
Der große Irrtum
Die Ursachen dieses geopolitischen Desasters werden kaum angesprochen, weil alle wesentlichen politischen Akteure daran beteiligt waren. Letztlich war es der universalistische Geist des Westens selbst, der zur Destabilisierung seiner Nachbarschaft beigetragen hatte. Hinter unserem politischen Universalismus verbirgt sich nicht weniger als der Liebesuniversalismus des Christentums, allerdings in einer profanierten, verkitschten Form ohne Erbsünde, ohne irdisches Jammertal. Solche Direktübertragungen des Himmels auf die Erde gehen immer schlecht aus, weil sie Absolutes mit Relativem und Unendliches mit Endlichem verwechseln. Wer sich quasi-religiös legitimiert, hält bereits Warnungen vor einem grenzenlosen Europa und vor Überdehnungen unseres individuellen Menschenrechtsverständnis für „rechts“. Wenn jede differenzierte Argumentation moralisierend abgewürgt wird, kommt es auch zu keinem differenzierten Handeln. Auch das derzeitige sprachliche Durcheinander über Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge, Migranten, Zuwanderer und Einwanderer ist aus der Moralisierung heraus erklärbar.
Koexistenz statt Universalität
Erst die verspätete Anerkennung der Notwendigkeit von Grenzen und Begrenzungen würde den moralisierenden Universalismus des Westens überwinden helfen und zu einer neuen realpolitischen Strategie überleiten. Diese müsste von Träumen über eine unipolare westliche Weltordnung Abstand nehmen und stattdessen den Aufbau unterschiedlicher Machtpole unterstützen. Das „Ende der Geschichte“ würde vertagt, die Grenzen des Westen in den Grenzen seiner Möglichkeiten erkannt.
Auch eine Koexistenz der Kulturen könnte an der Koexistenz der Ideologien im Kalten Krieg anknüpfen, in dem sich zwei universalistische Mächte gegenseitig begrenzten. Koexistenz bedeutete Wehrhaftigkeit nach innen, Eindämmung nach außen, Gleichgewicht des Schreckens und Entspannung, diese allerdings erst nach erfolgreicher Eindämmung, nicht als Vorleistung, wie dies Beschwichtiger gegenüber dem Islamismus praktizieren. Die Strategien zielten nicht auf „das Gute“, sondern gaben sich mit dem kleineren Übel zufrieden. Auch autoritäre Regime wurden im Kampf gegen den Totalitarismus einbezogen.
Gleichgewicht der Mächte
Eine westliche Gleichgewichtspolitik würde im Nahen Osten die übertriebene Feindschaft zum Iran und die übertriebene Freundschaft zum zwielichtigen Saudi-Arabien relativieren und Neutralität gegenüber deren ethnischen und konfessionellen Konflikten wahren. Ob die iranische Atombombe in zehn oder zwanzig Jahren gebaut wird, ist angesichts der unmittelbaren Bedrohung durch den Islamischen Staat eine langfristige Frage. Der Iran wird heute als Gegengewicht zum Imperialismus der sunnitischen Mächten gebraucht. Die gegenseitige Machtbegrenzung der islamischen Mächte entlastet zunächst Israel und dann Europa.
Auch eine multipolare Ordnung ist angesichts der weltweiten Dynamik nicht statisch, sondern erfordert immer neue multiple und variable Bündnisse - wie sie im Kampf gegen den Islamischen Staat zu entstehen scheinen. Die große Frage des 20. Jahrhunderts nach Demokratie oder Diktatur, die in die Arabellion hinein verlängert wurde, hat sich in den neuen Bündnissen relativiert. Vielleicht werden sie auch die kulturellen Konflikte zwischen Israel und der islamischen Welt relativieren.
Die eigentlich selbstverständliche Einsicht, dass um des Friedens willen mit den entscheidenden Machtakteuren - wie dem syrischen Präsidenten -verhandelt werden muss, kommt einige hunderttausende Tote zu spät. Schon 2012 waren Verhandlungen mit dem Ziel einer Übergangsregierung angesetzt, aber Barack Obama wollte nicht mit einem Diktator verhandeln, eine angesichts der sonstigen Freundschaften der USA im Nahen Osten tragikomisch anmutende Doppelmoral. Eine verantwortungsethische Haltung hätte Assad als das kleinere Übel erkannt.
Leitstruktur statt Leitkultur
Nach der jahrzehntelang gefeierten „Offenheit Europas“ für die Vielfalt an Kulturen und Religionen kann es keine Leitkultur mehr geben. Je liberaler wir hinsichtlich kultureller Unterschiede in der Gesellschaft sind, desto wichtiger wird die politische Integration in die Leitstruktur der staatlichen Ordnung. Dazu gehört neben dem Gesetzesgehorsam der Respekt vor staatlichen Institutionen, von den Schulen bis zu den Gerichten, unabhängig davon, ob man deren Werte und Urteile teilt. Erst die Anerkennung der gemeinsamen staatlichen Leitstruktur ermöglicht unterschiedliche gesellschaftliche Kulturen.
Wie wichtig die Vermittlung und Durchsetzung der Leitstruktur sein wird, lehren die ersten Berichte aus Flüchtlingslagern in Deutschland, denen zufolge orientalischen Christen Angriffen von Muslimen ausgesetzt sind. Damit ist der Nahe Osten in Europa angekommen. Die Gewerkschaft der Polizei fordert die Trennung der Religionsgruppen in den Aufnahmelagern, aber damit wäre die alte Ideologie von der allseitigen Integration aller Kulturen zu offenkundig widerlegt.
Da deren bloße Koexistenz aber immer noch besser als ihre Konflikte sind, sollte bei der Aufnahme den im Nahen Osten besonders verfolgten orientalischen Christen bevorzugt Asyl gewährt werden. Demokratische „christlichen“ Staaten wären gut beraten, in erster Linie die von ihrer Mentalität, Bildung, Kultur und Glaubensanschauung her bei uns leichter inkulturierbaren orientalischen Christen aufzunehmen. Die islamischen Staaten sollten dafür endlich ihre Verantwortung für die verfolgten muslimischen Glaubensgeschwister wahrnehmen.
Die Grenzen Europas
Bei der Asyl- und Zuwanderungspolitik verhält es sich ähnlich wie bei der Finanzpolitik: Deutschland hat seine politische Gestaltungsmacht weitgehend einem Gemeinschaftssystem anvertraut. Während in Spanien die Grenzen Europas weitgehend eingehalten werden, ist Griechenland auch hierbei nicht in der Lage, die Rolle eines funktionsfähigen Staates auszufüllen. Diese Achillesverse Europas ist ein Ergebnis überdehnter Erweiterungspolitik.
Wenn der Nationalstaat eine vorrangige Staatsaufgabe wie die Grenzsicherung an die Europäische Union delegiert und diese dabei scheitert, geraten beide Ebenen zugleich in eine Legitimationskrise. Solange die EU nicht zur Grenzsicherung nach außen in der Lage ist, rücken nationale Grenzen wieder in den Focus. Zwischen den Nicht-Mehr Kompetenzen der Nationalstaaten und den Noch-Nicht-Kompetenzen der EU ist ein schwarzes politisches Loch entstanden.
Die realistischen Ziele des Kosmopolitismus wie verstärkter Freihandel, Kooperation und Arbeitsplatzverlagerung hätten auch mit einem aufgeklärten liberalen Internationalismus erreicht werden können. Es gab keine Notwendigkeit zu einer derartig überstürzten Schwächung des demokratischen Nationalstaates, dem wir in den letzten drei Jahrhunderten Entwicklungen zur Demokratie, Gleichberechtigung und sozialen Sicherheit verdanken. Auch hierbei war wieder zuviel Ideologie über die wünschbare Grenzenlosigkeit im Spiel gewesen.
Die separatistischen Tendenzen gerade in wohlhabenden Regionen wie Schottland und Katalonien sind das Gegenextrem zum europäischen Kosmopolitismus, aber keine Lösung. Dritte Wege zwischen Überdehnung nach außen und Zersplitterung nach innen erfordern zumindest eine unideologische Debatte über die Grenzen der Europäischen Union und eine pragmatische Aufgabenverteilung. Ohne sie bleibt das Feld den sogenannten Populisten überlassen, die zwar keine Antworten haben, aber zumindest einschlägige Fragen stellen.
Die westliche Außenpolitik sollte im Geist des Westfälischen Friedens die ständigen Vermischungen von Außen- und Innenpolitik beenden und in den zwischenstaatlichen internationalen Beziehungen vor allem Stabilität und gemeinsame Sicherheit fördern. Umso mehr könnten sich universalisierbare Funktionssysteme auf Ausbildung, Technologie und Ökonomie konzentrieren.
Mit den Millionen von neuen Migranten aus der islamischen Welt sind die spielerischen Phasen des Multi- und Interkulturalismus vorbei. Es geht um den Fortbestand des Rechtsstaates, für die einige Begriffsklärungen notwendig wären. Wir können nicht länger von „Religionsfreiheit“ reden, wo wir einer totalitären Herausforderung gegenüberstehen. Auch sind Islamkritiker nicht per se „rechts“, sondern der Islamismus. Von der Ablehnung individueller Freiheiten bis zur Befürwortung von Ungleichheit erfüllt er dafür alle Voraussetzungen.
Unsere universalistische Weltsicht paßt nicht mehr in die von partikularistischen Kultur- und Interessenkonflikten zerrissenen Welten der Kulturen. In Zukunft muss eine westliche Strategie die Kunst des Möglichen zuerst in begrifflichen Differenzierungen und dann in notwendigen Grenzen zum Ausdruck bringen. Nach seiner Überdehnung wird eine neue Selbstbegrenzung zur Grundlage der westlichen Selbstbehauptung.
Prof.Dr. Heinz Theisen lehrt Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln.