Der Todesschütze von Benno Ohnesorg war von der Stasi. Für die Linke in Deutschland bricht ein Mythos zusammen. Sie hatte ihr festgefügtes Bild von einer „muffigen Bonner Republik“, einer niedlichen DDR und den Heldentaten der 68er-Studentenbewegung. Mit jeder neuen Stasi-Enthüllung verdunkelt sich zwar auch bei den Linken das Bild der DDR. Doch die Kritik an der rheinischen Bundesrepublik wird deshalb lange noch nicht aufgegeben. Im Gegenteil, Günter Grass sagt sogar: Die Adenauer-Zeit sei eine furchtbare Phase deutscher Geschichte gewesen, von „katholischem Mief“ und „Kleinbürgerlichkeit“ übel durchzogen. „Grauenhaft“!
Der geifernde Grass übertreibt natürlich, und doch sagt er nur, was viele denken. Für die Alten, für Grass und die Seinigen, die Zöglinge des tausendjährigen Reiches, war die Adenauer-Republik bloß ein Puppenhaus der Weltpolitik. Der lächerliche Versuch der besiegten Deutschen mit dieser Regierungsform ohne Pathos – der provisorischen Demokratie – war nichts für Führerverführte und Sehnsuchtsvolle. Linke wie Rechte. Dem Bonner Häkeldeckchen-Ornament haftete das Stigma des kleinen Versuches an. Was war das schon für Stahlgewitter-Männer des großen Wurfes. Den Zöglingen Nietzsches, Jüngers und Heideggers schien das wie ein Blinddarm der deutschen Geschichte. Kein Sein, kein Werden. Ein seiendes Als-ob bestenfalls.
Für die folgende 68er-Generation war sie aber noch weniger, die Adenauer-Republik. Sie rochen den Mief unter den Talaren, witterten hinter der Ordnung von gestärkten Hemden und gekochter Bettwäsche schuldige Seelen. Die Jünger -Sartres und Brechts, Marxens und Adornos hielten diese bürgerliche Bonner Republik für ein böses Kapitalismusgespenst in der Maske des Biedermeiers. „Schweinesystem“ schimpften es die linken Wortführer schließlich sogar und bahnten dem RAF-Terrorismus den Weg.
Nicht einmal Willy Brandt vermochte sie wirklich mit der neuen deutschen Republik zu versöhnen. Sie hielten sie bestenfalls für unfertig; irgendwo anders, in Schweden oder Ungarn vielleicht, vermuteten sie die bessere, die sozialere Republik. Sie kauften sich Volvos und flüchteten in die Toskana.
Die Bonner Republik hätte auf die nächste Generation hoffen können, auf die eigenen Kinder, die 89er. Doch auch sie verliebten sich nicht. Denn die rheinische Republik war uncool. Sie war Jägerzaun und Kaffeekännchen, Moselwein und nickender Dackel auf der Hutablage des Daimlers. Sie roch nach Wirtshaus, nicht nach Lounge. Immer noch nach Mief also. Die neue Coolgang brauchte eine Metropole, sie bekam Berlin, sie verlangte ein Event und erlebte die Wiedervereinigung, sie wollten Internationalität und erhielten den Euro und das Internet. Die Bonner Republik war „ihr Ding“ nicht mehr.
So blieb die rheinische Republik tatsächlich ungeliebt. Ich finde: Zu Unrecht! Denn in Wahrheit gehört sie zum Besten, was die wechselvolle deutsche Geschichte überhaupt zu bieten hat. Das Adenauer-Deutschland hat aus den Trümmern der Stahlgewitter ein Haus der Ehre neu erbaut. Ja, das ging zuweilen über das kleine Karo bürgerlicher Normen und Regeln. Aber gerade dieser kleinen Moralität wuchs gegenüber der großmäuligen Selbstgefälligkeit eine besondere Würde zu.
Die geschmähte Bonner Republik brachte den Deutschen nicht bloß den größten Wirtschaftswunder-Wohlstandsschub ihrer Geschichte. Zum ersten Mal formierte sich eine sozial verfasste Gesellschaft, ein Wohlfahrtsstaat, der seinesgleichen suchte. Man integrierte Millionen Vertriebener und Flüchtlinge und achtete auf sanften Ausgleich nach innen wie nach außen.
Dieses Adenauer-Deutschland versöhnte sich mit allen Nachbarn und legte den Grundstein für ein neues Europa - die beste Idee, die man auf diesem geschundenen Kontinent seit Generationen hatte. Nach den Zarathustras schufen just die „Spießer“ der Bonner Republik ein Deutschland, wie wir es noch nie hatten. Gerade das bürgerlich-christlich Miefige daran war sein guter Kern. Der Mief dieser Bescheidenheit duftet im Nachhinein nach wahrer Größe.