Wer hätte das gedacht. Allein in Berlin muss es 160.000 Anständige geben. So viele sind beim Aufstand der Anständigen mitmarschiert. Heißt es. Das sind rund fünf Prozent der Berliner Bevölkerung. Donnerwetter. Das ist geradezu ein Tsunami an Anstand. Und das ausgerechnet in Berlin.
Ich wäre auch gerne anständig. Aber wie wird man das? Meine Recherche hat ergeben: Um zu den Anständigen zu gehören, muss man gegen Rechts demonstrieren. Und zwar zu Fuß. Links, zwo drei – ein Lied. Da muss ich leider passen. Erstens hab ich was am Knie. Und zweitens finde ich: Wenn man ständig gegen Rechts marschiert, dreht man sich im Kreis. Da kann einem leicht schwindelig werden. Schwindel gegen Rechts? Muss nicht sein. Man könnte ja – wie beim Walzer – einfach mal die Richtung wechseln. Tanzen gegen links. Aber da macht mal wieder keiner mit. Also bleibt es beim Schwindel gegen Rechts. Den haben die Anständigen für sich gepachtet.
Und nun sitze ich da, wo die Unanständigen sitzen. Ein Sitzenbleiber. Das ist zwar etwas peinlich. Wie sagt man's den Kindern, wenn sie kreuzfidel und mit Fahne vom fröhlichen Aufstand gegen Rechts nach Hause kommen? Und Papa saß derweil im Büro mit all den anderen Unanständigen? Aber man hat ja einen Trost: Man ist als Unanständiger nicht allein.
Berlin ist natürlich nicht die einzige Stadt, in der Anständige leben und demonstrieren. Das Phänomen ist deutschlandweit. Nimmt man den Berliner Prozentsatz, dann muss es in ganz Deutschland fast fünf Millionen Anständige geben. Eine beachtliche Zahl. Hätt ich auch nicht gedacht. Der deutsche Rest, also die 80 Millionen, das sind dann ja wohl die Unanständigen. Also meine Leute.
Da muss man sich als Mit-Unanständiger denn doch nicht genieren. Was sind schon fünf Millionen Anständige? Wenn es überhaupt so viele sind. Die Frage ist ja: Kann man die Berliner Anstandszahlen überhaupt prozentual eins zu eins auf unser ganzes Land übertragen? Wo doch zu vermuten ist, dass Berlin mit Abstand einen Höchstwert an Anstand produzieren kann.
Für Deutschland insgesamt bin ich da eher skeptisch. Ich fürchte, da bringen wir es mit Mühe und Not auf die Hälfte. Also auf – sagen wir – zweieinhalb Millionen Anständige. Wenn überhaupt. In meiner Stadt, die weit weg von Berlin liegt, demonstrieren auch wieder eine Menge Anständige. Aber die Menge ist überschaubar. Da bleibt noch viel Platz für all die Unanständigen, die einfach nur Klamotten einkaufen oder sich einen Kuchen mit Sahne im Café gönnen wollen. Oder ein Gläsle Wein.
Wir Unanständigen kommen überall hin
Das mach ich auch. Kuchen oder Wein. Und schau dabei vergnügt den Anständigen beim Marschieren zu. Unabhängig davon, dass ich als Unanständiger zu den Mehreren gehöre, hab ich sowieso eine Schwäche für das Unanständige. Ein bisschen O la la ist die Würze des Lebens. Die Berliner Demonstranten, die vor Anstand Muskelkater kriegen, sind doch langweilig. Sind sie nicht typisch deutsch? Straff organisiert. Geradezu militärisch. Drei, vier, we shall overcome. Ist nichts für mich.
Dagegen laufen die Unanständigen in meiner Stadt einfach nur so herum. Völlig unorganisiert. Ohne Gewerkschaft und Parteiapparat. Sie laufen auch nicht immer nur gegen rechts. Sie laufen mal linksrum, mal rechtsrum, mal geradeaus. Je nachdem, wo die Geschäfte sind, und die Kneipen und die Kaffeehäuser. Wir Unanständigen, zu denen ich mich mit wachsender Freude zählen darf, haben keine stramme Richtungsvorgabe. Erst mal schauen, was es so gibt, und dann sehen wir schon. Zugreifen, wenn es was taugt. Links oder rechts liegen lassen, wenn es zu blöd oder zu teuer ist.
Davon können die Anständigen nur träumen. Die müssen eben richtungstreu bleiben. Damit sie anständig sind. Ich halte es mit dem Buch von Ute Gerhardt: „Gute Mädchen kommen in den Himmel. Böse überall hin.“ Und ich aktualisiere es auf meine Weise: Die Anständigen kommen in den Himmel, wenn der Himmel dort ist, wo sie ihn vermuten. Wir Unanständigen, ob Bub, ob Mädchen, kommen überall hin.
Rainer Bonhorst, geboren 1942 in Nürnberg, arbeitete als Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in London und Washington. Von 1994 bis 2009 war er Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen-Zeitung.
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Beitragsbild: kremlin.ru, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

Wer sich zu den Anständigen zählt geht hierzulande eben gegen Rääächtsss auf die Straße. In DD (Deppendeutschland) wundert einen nix mehr !
ETA-IL-Genehmigung, der Urlaub in Tel Aviv im Oktober ist bereits gebucht. Direktflug ab Hamburg und los geht die wilde Fahrt, ich freue mich diebisch. Ach so, das Vergnügen ist nicht geeignet für den deutschen Pöbel auf den Straßen, mit Rucksack/Wasserflasche auf dem Weg zum Himalaya. Ach so, Reisewarnung? Selten so einen Blödsinn gelesen, der deutsche Pöbel auf den Straßen hat vor allem schlicht keine Kohle. Also bitte, Roberta gibt doch vor, macht preiswerten Urlaub in der Nordsee, ich verstehe das Problem des Pöbels auf den Straßen nicht.
@Robert Schleif: In diesen Tagen ist es recht gefährlich, sich als Unanständiger zu outen. Das kann leicht den Job kosten und damit die Lebensgrundlage. Es würde völlig ausreichen, wenn die Unanständigen die Unanständigen in der Politik wählen. Noch sind die Wahlen ja geheim.
Früher liefen die “Anständigen” gegen die Regierungspolitik auf, heute organisiert von den Regierungsparteien für deren Programme. Erinnert mich irgendwie an die Aufmärsche seinerzeit in der DDR, aktuell in Nord-Korea. Aber ist sicherlich nur Zufall. Und mit dem Hinweis auf die “eigene Anständigkeit” soll schon ein Herr Himmler sein Tun und das seiner Schergen bemäntelt haben. Mit ein wenig Geschichtskenntnis würden die heute derart Aufmarschierenden wenigstens ihr Treiben unverfänglich benennen, zumal wenn selbige bei Anderen bei der Formulierung “A…. f…. Deutschland” nicht nur empfindlich sind, sondern auch justiziabel reagieren.
‘... Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. ...’ . (die Bibel; Lukas 15,7)
Ich bin dagegen alles negativ zu bewerten, es gibt auch eine Reihe positiver Aspekte. Die Städter kommen mal an die frische Luft, sie kommen vielleicht sogar auf die berühmten 10000 Schritte, am Wochenende schien stellenweise lang die Sonne, das war gut für die Vitamin D-Speicher. Viele alte Pappen vom Lieferdienst wurden als Winkelemente sinnvoll zweitverwertet und anschließend durch die Stadtreinigung fachgerecht entsorgt. Imbissbuden und Kneipen hatten an der Strecke der Anständigen einen prima Umsatz, anschließend hatten die Flaschensammler ebenfalls ihr Gutes. Und, nicht zu vergessen, von den großen Meetings profitierten zum Glück lokale und überregionale Busunternehmen nicht unerheblich. Also, ich weiß nicht was es da zu kritikastern und zu lästern gibt.
@ Schönfelder Friedman zeigt einfach, warum die Juden immer so beliebt waren/sind. Von seiner Wirkung ist er daher antisemitisch. Gesichert.