Kürzlich spazierte ich durch Berlin-Friedrichshain und entdeckte an einem Pfahl einen Aufkleber mit der Aufschrift: „Amazon ist kein guter Nachbar.“ Damit es auch jeder versteht, wurde der Slogan noch auf Englisch, Türkisch, Arabisch, Russisch und Polnisch wiederholt. Als Urheber ist das Aktionsbündnis Berlin vs. Amazon angegeben. Laut Selbstauskunft ist dies „ein bunter Zusammenschluss von Aktivist*innen, lokalen Initiativen, Tech-Arbeiter*innen, Künstler*innen und Anwohner*innen. Gemeinsam mobilisieren wir vielfältig und laut gegen die Niederlassung von Amazon in der Innenstadt und besonders gegen den Amazon-Tower“.
Wie nicht unüblich für diese Kreise, verzichtet die durch und durch linke Initiative auf ein Impressum, sodass eine genaue Lokalisierung der Akteure nicht möglich ist. Der Deutschlandfunk beschreibt das Bündnis als Zusammenschluss von 30 Tech-Arbeitern, Anwohnern und Künstlern. Im Dlf-Interview äußert Mitglied Christian Bauer, man wolle „die kapitalistischen Auswirkungen dieser Firmen irgendwie verhindern und ein solidarisches Miteinander schaffen.“
Der sogenannte Amazon-Tower soll an der Grenze der Berliner Bezirke Kreuzberg und Friedrichshain, an der Warschauer Brücke entstehen. Der 140 Meter hohe Turm soll ab 2024 für 3.500 Softwareentwickler und Produktmanager bereitstehen (Amazon betreibt bereits mehrere Büros in Berlin; weil sich das Unternehmen vergrößern möchte, soll besagter Turm als neuer Firmensitz fungieren). Insgesamt plant der Online-Riese, 28 von 35 Stockwerken anzumieten.
Konsequent der Tech-Branche die kalte Schulter zeigen
Wie viele ähnliche Bauprojekte (siehe etwa der geplante, aber verworfene Google Campus) haben Investoren in Berlin grundsätzlich einen schlechten Stand. Sie gelten in erster Linie als Gentrifizierungs-Booster und damit als Killer für den ohnehin hoffnungslos überlaufenen Wohnungsmarkt der Hauptstadt. Bei den genannten Großkonzernen kommt die Antipathie natürlich nicht zuletzt daher, dass vor allem linke Kreise eine ausbeuterische Unternehmenspolitik unterstellen. Letzteres ist im Falle Amazons wohl definitiv angebracht, seitdem das Unternehmen den Vorwurf zugab, dass Amazon-Lagerarbeiter und -Paketlieferer in den USA aufgrund von Zeitdruck in Flaschen urinieren müssen.
Der in Berlin-Kreuzberg geplante Google Campus für von Google geförderte Start-Ups kam 2018 aufgrund von Protesten schließlich nicht zustande. In diesem Artikel wird die durchaus begründete Verdrängungsangst der Kreuzberger Kiezbewohner und gleichzeitig die Nachteile für Berlin als Wirtschaftsstandort durch solche Aktionen gut zusammengefasst.
Und in der Tat bekleckert sich eine Hauptstadt wie Berlin nicht gerade mit Ruhm, wenn sie konsequent der Tech-Branche und anderen Firmen die kalte Schulter zeigt. Ein junger Kreuzberger Unternehmer fragte mich zum Zeitpunkt der Proteste gegen Google, ob die Berliner denn ewig in ihrer Armut verharren wollten. Und dieses Interview mit Coen van Oostrom, dem Investor des Amazon-Towers, ist insofern interessant, als dass hier ein argwöhnischer Tagesspiegel-Journalist versucht, einen vermeintlich bösen Kapitalisten vorzuführen. Im Ende 2019 geführten Gespräch erhebt der Investor jedoch schwere Vorwürfe gegenüber der Stadtverwaltung, gibt beispielsweise an, von den damaligen plötzlichen Plänen des Senats, den Turmbau zu kippen, erst durch die Interview-Anfrage des Berliner Tagesspiegel erfahren zu haben. Sollte das stimmen, kann die Berliner Verwaltung kaum als seriöser Verhandlungspartner gelten.
Der grüne Bezirksstadtrat Florian Schmidt hatte damals verkündet, dass sich „die gegenwärtigen Baupläne nicht an die Vorgaben aus dem städtebaulichen Vertrag“ hielten. Daraufhin versuchte er, einen erneuten Wettbewerb auszurufen. Im Interview äußerte Investor van Oostrom, dass Amazon auf Betreiben Schmids zugesagt hatte, im Turm eine Fläche von 100 Quadratmetern u.a. für Vereine zur Verfügung zu stellen, die für 8 Euro pro Quadratmeter vermietet werden soll. Schließlich wurde Florian Schmidt laut taz vom Senat „zurückgepfiffen“, und die Bauarbeiten am Amazon-Tower konnten beginnen und finden seither auch ohne die Goutierung durch die Nachbarschaft statt.
Amazon ist der große Gewinner des Lockdowns
Zurück zum eingangs erwähnten Protest-Aufkleber: Ich persönlich kann Antipathie gegen Amazon sehr gut verstehen. Allerdings in erster Linie, weil ich den Online-Kraken als todbringend für den Einzelhandel betrachte. Händler, die über Amazon verkaufen, klagen immer wieder über „halsabschneiderische“ Konditionen und eine schlechte Kommunikation. Laut Wall Street Journal soll Amazon sogar erfolgreiche Produkte kleiner Unternehmenspartner imitieren, um anschließend die „Produktechtheit“ ihrer Artikel zu bezweifeln. Und auch nach der vorläufigen Einschätzung der EU-Wettbewerbshüter verstoße Amazon gegen das Kartellrecht. „Die Kommission wirft Amazon vor, nichtöffentliche Geschäftsdaten von unabhängigen Händlern, die über den Amazon-Marktplatz verkaufen, systematisch für das eigene, in unmittelbarem Wettbewerb mit diesen Händlern stehende Einzelhandelsgeschäft zu nutzen.“
Ich finde die Kritik am Konzern also nachvollziehbar, frage mich jedoch, warum linke Aktivisten sich so sehr an Nebenkriegsschauplätzen wie dem Amazon-Tower aufhalten, der in erster Linie ein Prestige-Objekt darstellen und wenig zur Gewinnmaximierung des Unternehmens beitragen dürfte (wie gesagt: Amazon-Büros gibt es in Berlin schon jetzt).
Was mich wirklich verwundert, ist, warum dieselben linken Kreise, die Demos gegen den Bau des Turms organisieren, sich gleichzeitig so vehement für den Lockdown aussprechen und jeglichen Widerstand dagegen als „rechts“ brandmarken. Dabei ist der Lockdown und die daraus folgende Zerstörung zahlreicher kleiner und mittelständischer Unternehmen der Sargnagel für den Einzelhandel – und damit der Konkurrenz zu Online-Plattformen.
Und wie sich zeigt, ist Amazon der große Gewinner des Lockdowns. „Das Unternehmen wächst so rasant wie noch nie eines der USA“, schrieb die Zeit im letzten Herbst. Wer hätte das kommen sehen?
Die linken Aktivisten jedenfalls nicht, die derweil herumlaufen und Sticker gegen den Amazon-Tower in Friedrichshain verteilen. Mir wurde berichtet, dass hingegen einige Läden, die sich an der „Wir machen auf“-Bewegung beteiligten, systematische Droh-Anrufe der Antifa erhielten. Dabei müssten diese Widerständler doch eigentlich die Lieblinge aller selbsternannten „Antifaschisten“ sein. Irgendwas passt hier definitiv nicht zusammen.